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InDebate: Wer bin ich zwischen den Kulturen? Kulturelle Neurowissenschaft und neue Fragen an das Selbst

Veröffentlicht am 17. März 2014

Liya Yu

Liya Yu

Ich stehe an der gusseisernen Universitätspforte der Columbia Universität und blicke ein letztes Mal zurück auf den schneebedeckten Campus bevor ich die Treppen zur Subway Station hinuntersteige. Heute war wieder ein Tag, an dem ich mich nicht fragen musste, wer ich bin. In den Seminarräumen, der Bibliothek, der Kantine und den verwinkelten Korridoren der Vorkriegsgebäude des Morningside Campuses wird mein britisches Englisch mit deutschem Akzent und meine gar nicht dazu passende chinesische Erscheinung nicht kommentiert, eher, mit unerschütterlicher New Yorker Gleichgültigkeit und leichter Ungeduld übersehen um sofort auf das Wesentliche zu kommen: meinen Kommentar zum Seminartext, die überfälligen Leihgebühren, meine Unterschrift für die Rechnung des Earl Grey Tees. Ein guter Tag für mich, so konnte ich mich ebenfalls auf das Wesentliche konzentrieren und ich selbst sein.

Aber was heißt das, ich selbst sein? Diese Frage stellt sich mir sofort als ich den gesicherten, schneeumhüllten Campus verlasse und in den laut ratternden Subway Wagon gefüllt mit diversen Identitäten und Geplapper verschiedenster Sprachen steige. Wohingegen es auf dem Campus um die Destillation des denkenden Selbst geht (und die Maschinerie die es funktionstüchtig hält), dreht sich außerhalb dieser behüteten Welt alles um das Genießen und Erleiden, das Aushandeln und das Ausleben unserer Identitätsschräglagen und Selbstversuche, um die unzähligen Mäntelchen unserer kultureller Normen die wir um das Selbst legen. Doch ist die Idee des mantelumhüllten Selbst nicht eine naive Fiktion –  als ob es im Kern etwas gäbe, das destilliert und herausgeschält werden kann? Können wir ein spezifisches Selbst von unseren kulturell beladenen Identitäten überhaupt unterscheiden? Wie weit, in Hegels Sinne, dringen Sitten und Bildung in uns hinein? Sind wir unsere kulturellen Sitten und Normen oder gibt es etwas in uns, das ihnen entfliehen kann? Wer bin ich, wenn ich mich schwerelos auf dem Columbia Campus bewege und denken und diskutieren kann ohne mich meiner kulturellen Biographie, Hautfarbe und Sprachgrenzen bewusst zu sein, und wer bin ich, wenn ich mich von den deutschen, chinesischen und englischen Wortfetzen die im Subway Wagon hin-und herfliegen berührt und durchdrungen fühle?

Neueste Forschung in der sogenannten kulturellen Neurowissenschaft beschäftigt sich mit genau diesen Fragen. Die ersten Forschungsergebnisse zeigen, dass der kulturelle Einfluss bezeichnend ist und sich deutlich in unseren Gehirnmechanismen und neuronalen Mustern widerspiegelt (Ames und Fiske, 2010). Es ist zum Beispiel bewiesen, dass westliche und ostasiatische Menschen dieselbe Hirnaktivität im ventralen medialen präfrontalen Kortex und dem Kortex cingularis anterior aufweisen, wenn sie aufgefordert werden über sich selbst nachzudenken (Kelley et al., 2002; Zhang et al., 2006), jedoch nur ostasiatische Menschen Hirnaktivität in ebenfalls derselben Region aufweisen, wenn sie aufgefordert werden an ihre Mutter zu denken (Zhu, Zhang, Fan und Han, 2007). In anderen Worten, kulturelle Differenz führt dazu, dass ostasiatische Menschen in ihrer Auffassung des Selbst nicht nur das eigene Ich, sondern auch den engsten Familienkreis mit einschließen. Das Selbst wird immer in Beziehung zu Anderen und im gesellschaftlichen Zusammenhang verstanden.

Diese Einsicht der kulturellen Neurowissenschaft untermauert Thesen zum kulturell differenzierten Selbst, die schon in der Kulturpsychologie entwickelt wurden, wie zum Beispiel das Konzept des ostasiatisch-relationalen und westlich-unabhängigen Selbst (Markus und Kitayama, 1991). Die Idee ist dort, dass Ostasiaten (aufgrund des Konfuzianismus) das Selbst in Relation zur Familie und Gesellschaft verstehen und daher das Selbst nie ganz alleinstehend erfahren wird, wohin gehen westliche Menschen das Selbst als unabhängige Einheit betrachten. Obwohl andere Stimmen in der Kulturpsychologie von dieser strikten Dichotomie abraten und aufzeigen, dass in Umfragen mit westlichen und japanischen Kindern beide Gruppen in der Lage sind, das Selbst als relational und unabhängig zu beschreiben (Killen et al., 2002), geben die Resultate der Hirnforschung diesbezüglich doch zu denken – unterschiedliche Auffassungen des Selbst aufgrund kultureller Einflüsse in West und Ost sind unbestreitbar auf der Hirnebene im Erwachsenenalter zu finden.

Weitere Forschung in der kulturellen Neurowissenschaft beleuchtet den Einfluss von Religion auf unsere Selbstauffassung. Im Unterschied zu Nicht-Christen zeigen Christen Hirnaktivät im dorsalen medialen präfrontalen Kortex auf, wenn sie über sich selbst nachdenken, was bedeutet, dass Christen sich in der dritten Person, d.h. womöglich durch die Augen Gottes, betrachten und beurteilen, wenn sie sich auf sich selbst beziehen (Han et al., 2008). Buddhisten hingegen, in Einstimmung mit dem buddhistischen Prinzip des „Anatta“ (d.h. Kein-Selbst), weisen im Bezug zu ihrem Selbst keine typische Hirnaktivität im ventralen medialen präfrontalen Kortex und dem Kortex cingularis anterior auf; Buddhisten haben es also geschafft, sich von der gängigen Erfahrung des Ich-bezogenen Selbst zu distanzieren (Wu, Wang, He, Mao und Zhang, 2010). Interessanterweise wurden beide Experimente an der Peking Universität mit nicht-christlichen und christlichen Chinesen, sowie atheistischen Han Chinesen und buddhistischen Tibetaner durchgeführt, was darauf hinweist, dass intrakulturelle Unterschiede in der Auffassung des Selbst innerhalb einer kulturellen Nation existieren können.

Die interkulturelle Variation von Selbstauffassung auf unserer Hirnebene wirft schwierige philosophische Fragen auf. Zum einen ist fraglich, ob die Selbstauffassung in der liberalen Philosophie universell auf alle Kulturen angewendet werden kann. John Stuart Mill schreibt in seinem berühmten Werk „On Liberty“ (1859), dass nur die Vollendung des individuellen, von der Gesellschaft unabhängigen Selbst zu wahrer Glückseligkeit führen kann. Obwohl Mill dem gesellschaftlichen Einfluss und der Rücksicht auf Andere ebenfalls Beachtung schenkt, ist seine These klar: Der Mensch kann nur dann wirklich Mensch werden, wenn er sich selbst als Letzter beurteilt und Entscheidungen unabhängig von einschränkenden gesellschaftlichen Normen trifft. Im Kontext der kulturellen Neurowissenschaft wird Mills These in Frage gestellt. Gelangen Menschen, die sich kognitiv mit dem ostasiatisch-relationalen Selbst oder dem buddhistischen Nicht-Selbst identifizieren denn dann nie zur Glückseligkeit? Kann Glückseligkeit und Menschlichkeit wirklich nur in der Kultivierung des individualistischen Selbst gefunden werden?

Eine Verneinung dieser Fragen führt in das Feld der Postmoderne und der kritischen Hinterfragung des liberalen Selbstbildes. Dabei geht es unter anderem darum, anderen (sprich nicht-westlichen oder vormodernen) kulturellen Weltanschauungen mindestens denselben Stellenwert wie dem westlichen Kulturbild zuzusprechen. Kritiker der Postmoderne werfen ein, dass dies letztendlich zur Umgehung wichtiger normativer Fragen und zu einer Art Relativismus in Bezug auf universelle Werte, wie zum Beispiel Menschenrechte, führen kann.

Ein unerwarteter Zweifler dieser postmodernen Wende ist V.S. Naipaul, trinidadischer Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger, der selbst zwischen den Kulturen, d.h. seinem Geburtsort Trinidad, seiner indischen Herkunft und seiner Wahlheimat und literarischen Wirkungsstätte Großbritannien, geistig und physisch umherreist. In einer Vorlesung, die er am Manhattan Institute of New York (1992) gab, spricht er sich für eine sogenannte universelle Zivilisation aus, in der die Verfolgung der Glückseligkeit basierend auf „the idea of the individual, responsibility, choice, the life of the intellect, the idea of vocation and perfectibility and achievement“ als höchstes Ideal steht. Naipaul meint, dieses Ideal nicht in der kulturell-gesellschaftlichen Enge seines Geburtsorts Trinidad, aber im Großbritannien seiner Zeit gefunden zu haben. Obwohl in seinen Romanen das Selbstbild der Menschen im Trinidad seiner Kindheit mit augenzwinkernder Empathie mokiert und doch gleichzeitig verziehen wird, ist sich Naipaul sicher, dass er sich als Schriftsteller nur völlig in der westlichen Kultur der Moderne entfalten konnte.

Naipauls ungewöhnlicher Werdegang und Erfahrungen als dunkelhäutiger, von einer kleinen postkolonialen Insel stammender junger Schriftsteller im England der 1950er ist heutzutage keine ungewöhnliche Biographie und Erscheinung mehr. In unserer hypermobilen Welt reisen und immigrieren junge Menschen – ob gezwungenerweise aus politischen oder wirtschaftlichen Beweggründen oder privilegierterweise aufgrund wirtschaftlich vorhandener Ressourcen – von nicht-westlichen Peripherien in westliche Zentren, sowie von westlichen Zentren in neue, nicht-westliche Zentren in Asien und Lateinamerika und legen sich in dem Prozess neue kulturelle Identitäten an. Die Grenzen von westlicher und nicht-westlicher Selbstauffassung sind in der Selbstnarration und womöglich auch auf der Hirnebene nicht mehr so einfach zu ziehen. Ich selbst und all die Menschen, die sich innerhalb vom Columbia Campus und in der Metropole New York umherbewegen sind Zeugen und Träger dieser neuen Erfahrung, verschiedene Kulturen gleichzeitig im Gehirn zu tragen.

Naipauls Standpunkt ist oft zu Recht angegriffen worden – aufgrund seiner kulturellen Arroganz und Willkür, seiner beschränkten und unfairen Darstellung der Mängel der vormodernen, nicht-westlichen Kulturen. Und doch habe ich sofort verstanden, was er meinte als er in dieser Vorlesung in New York von der universellen Zivilisation sprach. Es geht genau um die Erfahrung, die ich als schwereloses Ich innerhalb des Columbia Campuses und an vielen Orten in New York, und leider schmerzlicherweise nicht in meinem Zwillingsheimatland Deutschland als ewige sogenannte „Ausländerin“ machen kann: Teilnahme an einer universellen Weise, Mensch zu sein, die eine besondere Art Freiheit mit sich bringt. Diese letztendliche Freiheit, so würde ich Naipaul kontern, ist nicht unbedingt kulturspezifisch sondern kann sich überall dort entfalten wo Menschen innerhalb ihrer Kultur einen Weg zur Humanisierung des Anderen finden.

 

Liya Yu ist Doktorandin der Politikwissenschaft an der Columbia University in New York. Sie erhielt ihren B.A. von der University of Cambridge in Politischer Philosophie. In Deutschland aufgewachsen schloss sie ihre Abiturprüfung an der Deutschen Botschaftsschule in Peking ab. Sie bloggt unter identityelements.wordpress.com.

Literatur

Ames, D.L. & Fiske, S. (2010) Cultural Neuroscience. Asian Journal of Social Psychology, 13 (2), 72-82.

Kelley, W.M., Macrae, C.N., Wyland, C.L., Caglar, S., Inati, S.&Heatherton, T.F. (2002). Finding the Self? An event-related fMRI study. Journal of Cognitive Neuroscience, 14 (5), 785-794.

Killen, M., McGlothlin, H., Lee-Kim, J. (2002) Between individuals and culture: individuals‘ evaluations of exclusion from social groups, in: Between Culture and Biology (eds. Keller et al.), Cambridge: Cambridge University Press.

Markus, H.R. & Kitayama, S. (1991). Culture and self: Implications for cognition, emotion, and motivation. Psychological Review, 98 (2), 224-253.

Mill, J.S. (1993) On Liberty, London: Orion.

Naipaul, V.S. (2002) Postscript: Our universal civilization, in: V.S. Naipaul, The Writer and the World, New York: Alfred A. Knopf.

Wu, Y., Wang, C., He, X., Mao, L. & Zhang, L. (2010) Religious beliefs influence neural substrates of self-reflection in Tibetans. Social and Cognitive Affective Neuroscience, 5 (2-3), 324-331.

Zhang, L., Zhou, T., Zhang, J., Liu, Z., Fan, J. & Zhu, Y. (2006). In search of the Chinese self: An fMRI study. Science in China Series C: Life Sciences, 49 (1), 89-96.

Zhu, Y., Zhang, L., Fan, J. & Han, S. (2007). Neural basis of cultural influence on self-representation. Neuroimage, 34 (3), 1310-1316.

(c) Liya Yu

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1 Kommentar

  1. Ein sehr interessanter Artikel. Die Frage nach dem Selbst in uns ist mit den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung heute aktueller denn je.
    Wobei das Selbst noch unsere größte Gewissheit ist. Je weiter wir uns jedoch davon entfernen, desto mehr werden wir Opfer der Weltsimulationsmaschine Gehirn und dem was es uns als Realität suggeriert
    .
    Sehr interessant finde ich die neurowissenschaftlichen Vergleiche verschiedener kulturell bedingter Selbst-Verständnisse. Ich habe jedoch auch Vorbehalte zu dieser Art von Untersuchung. Das erinnert mich an die im 19. Jahrhundert gemachten Vermessungen von Schädeln und damit verbundenen Versuchen Menschen damit zu klassifizieren. Es stellt sich auch die Frage, ob damit Erregungsmuster der Selbst-Wahrnehmung untersucht wurden oder nur Erregungsmuster, welche die Beschäftigung mit dem Begriffskontext zum Thema Selbst erzeugten.

    Grundsätzlich fehlt mir in dem Artikel eine Definition des Begriffes Selbst. Ich verstehe unter dem Selbst die bewusste Seinswahrnehmung oder Seinsgewissheit. In dem Artikel kann der Begriff Selbst aber auch im Sinne von Identität zu verstehen sein. Unsere Seinswahrnehmung kann ganz ohne kulturellen Kontext auskommen unsere Identität wahrscheinlich nur sehr schlecht.

    Die Frage nach dem Kern unseres Selbst ist mit fernöstlichen Meditationsmethoden (Zen Yoga etc) für jeden im Selbstexperiment konkret erfahrbar. Das Ergebnis ist dabei überraschend kulturunabhängig. Es ist das was ich vorher als Seinswahrnehmung bezeichnet habe. Sie ist an keine subjektive Zeit gebunden und kennt nur die aktuelle Gegenwart. Für eine ausführlichere und längere Selbstwahrnehmung ist leider der endlose Strom der Gedanken, die unser Gehirn rastlos produziert recht störend. Meditationstechniken sind erforderlich um diese Störquellen zu beruhigen und die Konzentration zu verbessern. Wer gelernt hat diese Techniken anzuwenden, dem gelingt dann eine Selbstwahrnehmung, die alle Menschen sehr ähnlich beschreiben. Daher glaube ich persönlich, dass die kulturelle Prägung einer Person keine nennenswerte Wirkung auf das Selbst und seine Wahrnehmung hat. Es ist eine fundamentale Seinswahrnehmung in deren Kontext, sehr viele Vorstellungen von Werten, Identität, sozialem Status etc, relativiert und deutlich anders bewertet werden.

    Am Ende möchte ich der Autorin noch Mut machen auf ihrer Suche nach ihrer ganz persönlichen Identität mit einer Synthese von chinesischen, deutschen und angloamerikanischen Kultureinflüsse

Beitragsthemen: Globalisierung | Identität | Kultur | Moderne

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