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InDebate: Wir brauchen keine universalen Werte

Veröffentlicht am 2. Juni 2014

Heit, Foto

Helmut Heit

Mit der im Titel genannten These rücke ich die Frage nach der Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit universaler Werte ins Zentrum und damit weniger das Problem, ob es möglich oder aussichtsreich ist, die etwaige Universalität bestimmter Werte zu begründen. Hinsichtlich dieser Begründungsfrage halte ich es einstweilen mit Nietzsche: „Woran liegt es doch, dass von Plato ab alle philosophischen Baumeister in Europa umsonst gebaut haben? Dass Alles einzufallen droht oder schon in Schutt liegt, was sie selber ehrlich und ernsthaft für aere perennis hielten?“ (Morgenröthe, Vorrede 3). Schon der Umstand, dass es eine lange Tradition unterschiedlicher Ansätze von Platon und Aristoteles über Kant und Scheler bis zu Habermas und anderen gibt, universale Maßstäbe für normative Geltungsansprüche auszuweisen, spricht dafür, dass sich keiner dieser Ansätze endgültig hat durchsetzen können. Aus dem negativen Befund mit Blick auf frühere universalistische Konzeptionen folgt natürlich nicht, dass es in Zukunft nicht doch gelingen könnte, aber eine gewisse Skepsis ist allemal gerechtfertigt.

Ebenfalls von Nietzsche stammt die Idee, dass die immer wiederkehrenden Versuche, eine Moralbegründung für die Ewigkeit zu errichten, ihrerseits mehr oder minder bewusster Ausdruck eines moralischen Vorurteils sind, nämlich dass wir universale Werte dringend brauchen. Dieses Vorurteil speist sich aus der Sorge, dass wir ohne solche Werte massive Probleme haben oder gar gleich direkt in Teufels Küche, das heißt in die Fänge von Willkür und Gewalt geraten. Zwar trägt diese Sorge, auch wenn sie berechtigt sein sollte, selbst nichts zur Rechtfertigung universaler Geltungsansprüche bei, aber sie erklärt immerhin die Motivation vieler Menschen, weiter nach universalen Werten zu suchen. Ich versuche demgegenüber zu zeigen, dass diese Angst unbegründet und die Universalität weit weniger wichtig ist, als es zunächst erscheinen könnte.

Universale Werte (gesetzt es gibt sie) sind nicht die einzigen, sie sind nicht einmal die einzigen weithin anerkannten. Immanuel Kant hat eine sehr wichtige Differenz zwischen ‚universal‘ und ‚generell‘ betont. Damit unterscheidet er die empirische Frage nach der generellen, gegebenenfalls globalen Verbreitung bestimmter Werte von der begründungstheoretischen Frage nach der universalen Gültigkeit von Werten für alle vernünftigen Existenzen. Ein Wert kann von allen Menschen geteilt werden und dennoch keine universale Geltung haben, oder er kann trotz seiner universalen Geltung in der realen Praxis der Menschen eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielen. Besonders die Diskussionen um Kants Sittengesetz zeigen, dass universale normative Standards durchaus inhaltsleer, praktisch ineffektiv oder kontraintuitiv sein können, selbst wenn man ihnen die Begründung schenkt. Andere, generell weltweit verbreitete Standards wie zum Beispiel die in fast allen Kulturen bekannte ‚Goldene Regel‘ entbehren hingegen einer solchen universalen Basis, sie gelten nur pauschal.

Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von Werten und normativen Standards, die in kulturvergleichender Perspektive sehr große generelle Anerkennung finden. Wo sie lebensweltlich oder juristisch etabliert sind, entfalten sie auch praktische Wirkungen. Das grundlose Verprügeln unschuldiger Kinder wird auf aller Welt von fast allen Menschen entschieden missbilligt. Die konventionellen und postkonventionellen Begründungen dieser Missbilligung können allerdings stark variieren, so dass gerade das Insistieren auf einer privilegierten und als universal verstandenen Begründung die Verständigung über gemeinsame Handlungen behindern kann. Größere Differenzen gibt es auch bei der Frage, unter welchen Umständen das Schlagen von Kindern eben doch moralisch gerechtfertigt ist; immerhin kennen wir zu jedem konkreten Wert, selbst zum Tötungsverbot, die Ausnahme. An der traurigen Tatsache, dass weiterhin täglich unzählige Kinder misshandelt werden, ändert dieser Begründungsdiskurs ohnehin erstmal nichts. Lediglich bei der mittel- und langfristigen Veränderung normativer Orientierungen könnte die Universalismus-Rhetorik durch ihren überfordernden Charakter bestimmte Entwicklungen fördern.

Um sich konkret zu moralischen Problemen verhalten zu können, braucht man aber keine mutmaßlich universalen Werte. Mit Adorno könnte man sagen, dass unsere moralischen Orientierung nicht in einer kontextüberschreitenden Rechtfertigung begründet sind und sein müssen, sondern sich im Gegenteil gerade aus dem unmittelbaren und konkreten Impuls ergeben, Leiden abschaffen zu wollen. Dabei wird auch ersichtlich, dass aus dem Nicht-Verfügen über universale Werte durchaus nicht Beliebigkeit und gleichgültige Toleranz folgt. Wenn wir uns aufgrund unserer moralischen Überzeugungen in die Handlungen anderer Menschen einmischen, weil wir etwa denken, dass die Entführung von Mädchen durch nigerianische Terroristen nicht hingenommen werden darf, so tun wir das auf eigenes, menschlichen Risiko.

Ob und auf welche Weise in einer bestimmten Situation eingegriffen wird, hängt von der Abwägung konkreter Umstände ab. Das gilt sowohl bei der privaten Überlegung, sich in einen eskalierenden Nachbarschaftsstreik einzumischen, wie auch bei Entscheidungen über humanitäre Interventionen der UNO. Unser Handeln hängt nicht von universalen Werten ab. Eine stabile Meinung über gut und schlecht, richtig und falsch ist, haben die meisten Menschen auch so – und die anderen lernen es nicht im Seminar. Der Verzicht auf eine kontextfreie, universalistische Legitimationsinstanz kann dabei auch vor falschem Rigorismus und selbstgerechtem Dogmatismus bewahren, der zumal in interkulturellen Kontexten fast immer destruktiv ist. Aus diesen Gründen brauchen wir keine universalen Werte, wir kommen ohne sie aus, vielleicht sogar besser.

Dr. Helmut Heit ist zur Zeit Fellow des Nietzsche-Kollegs der Klassik Stiftung Weimar.

© Helmut Heit

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6 Kommentare

  1. I. Existenz universaler Werte bzw. die nicht-relative Wahrheit von moralischen Aussagen

    Wenn es keine universalen Werte gibt, was wäre dann falsch an „kontextignoranter Selbstgerechtigkeit“? Warum sollten wir irgendetwas anderes eher tun als „kontextignorant selbstgerecht“ zu sein? Entweder man gibt hierfür universal gültige Werte an, die einer „kontextignoranten Selbstgerechtigkeit“ entgegenstehen und lässt sich damit auf universale Werte ein, entgeht dabei jedoch dem Vorwurf „kontextignoranter Selbstgerechtigkeit“, oder man gibt bloß relative oder kontextgebundene Werte an, die gegen „kontextignorante Selbstgerechtigkeit“ sprechen, muss sich dann aber den Vorwurf gefallen lassen, dass man somit selbst „kontextignorant selbstgerecht“ ist, da man ja gerade jene Kontexte ignoriert, für die diese relativen oder kontextgebundenen Werte nicht gelten.
    Die „kontextignorante Selbstgerechtigkeit“ ist also gerade etwas, was aus der Ablehnung eines ethischen Universalismus resultiert.

    Außerdem lassen sich z.B. universale Toleranzforderungen gegenüber anderen Kulturen nicht mit einem ethischen Relativismus verbinden, denn solche universalen Toleranzforderungen würden dem ethischen Relativismus widersprechen, da sie universal sind.

    Moralische Aussagen wie z.B. „Lügen ist moralisch falsch“ sind normative Aussagen. Wenn wir nun einen moralischen Relativismus vertreten wollten, müsste zunächst klar sein, was die relativen Substitute für Ausdrücke wie „moralisch richtig“ sind. Essentiell für den Ausdruck „moralisch richtig“ ist aber seine normative Bedeutung. Gibt es nun aber relative Substitute, die diese normative Rolle spielen können? Das Problem ist, dass Aussagen wie „Lügen ist relativ zum Moralkodes M moralisch falsch“ oder „Die Mitglieder der Kultur X meinen, dass die Aussage `Lügen ist moralisch falsch´ wahr ist“ selbst keine normativen Aussagen sind. Würde die Bedeutung moralischer Aussagen darauf hinauslaufen, so wären sie nicht mehr normativ. Es gibt also keine relativen Substitute für Wertaussagen, denn diese wären keine normativen Aussagen mehr. Tatsächlich wäre der moralische Relativismus also ein moralischer Nihilismus. Folglich gilt:
    Wenn es keine absoluten moralischen Werte bzw. universal gültige Wertüberzeugungen gibt, dann gibt es überhaupt keine Werte.

    Es ist eine Sache, bloße tatsächlich bestehende Meinungsverschiedenheiten festzustellen, und eine andere, die Rechtfertigung und Wahrheit dieser jeweiligen Meinungen zu betrachten. Bestehende Meinungsverschiedenheiten stützen keinen Relativismus. Wenn etwa A behauptet „Die Erde ist eine Scheibe“ und B behauptet „Die Erde ist kugelförmig“, dann liegt A eben einfach falsch, und zwar absolut falsch. Hier gibt es keine Relativität der Wahrheiten. Und selbst wenn alle Menschen (irrationalerweise) glauben würden, dass Mord moralisch gut ist, wird Mord dadurch noch nicht moralisch gut.

    Der ethische Relativismus vertritt die These, dass moralische Aussagen relativ zu einer Bezugsgruppe wahr oder falsch sind, d.h. dass die Wahrheit moralischer Überzeugungen nicht absolut bzw. universal ist. Die Aussage „Lügen ist moralisch falsch“ würde dann analysiert werden als „Lügen ist moralisch falsch relativ zu …“. Eine solche These (T) wie z.B. „Für die Gruppe G ist die Aussage `Lügen ist moralisch falsch´ wahr“ kann aber nicht bloß so etwas meinen wie „Die Mitglieder der Gruppe G sind der Meinung, dass (T) bzw. `Lügen ist moralisch falsch´ wahr ist“, da diese These darauf hinausliefe, bloße tatsächlich bestehende Meinungsverschiedenheiten festzustellen; sie wäre also nicht mehr normativ. Aussagen über die Meinungen anderer sind von Aussagen darüber zu unterscheiden, was für andere wahr oder falsch ist. Wenn man sagt, dass eine normative Aussage für die Mitglieder einer Gruppe G wahr ist, meint man auch, sie sollten entsprechend handeln. Die Aussage „Es ist für die Mitglieder der Gruppe G wahr, dass sie die Wahrheit sagen sollten, aber sie sollten nicht entsprechend handeln“ wäre nur sinnvoll, wenn man das erste „Sollen“ in einem nicht-normativen Sinn versteht, aber dann liefe dies wiederum auf die bloße Feststellung einer Meinung hinaus; man würde dann nicht sagen „Es ist für die Mitglieder einer Gruppe G wahr, dass …“, sondern nur „Es ist wahr, dass Mitglieder der Gruppe G glauben, dass sie nicht Lügen sollen“. Die Normativität von (T) muss also bestehen bleiben, (T) muss daher so etwas heißen wie „Es ist wahr, dass Mitglieder der Gruppe G nicht lügen sollen“. Wenn man also behauptet, die besagte moralische Aussage sei für Mitglieder einer Gruppe G wahr, legt man sich auf ein Sollen fest, auf die relative Norm „Mitglieder der Gruppe G sollen nicht lügen“, die für die Mitglieder der Gruppe G gültig ist. Aus dieser relativen Norm ergibt sich aber eine universale Norm. Als Relativist wird man eine solche Analyse wie in (T) auf alle Normen beziehen wollen. Für jede relativ zu einer Gruppe gültige Norm gilt demnach, dass sie von den Mitgliedern der jeweiligen Gruppe befolgt werden sollte. Man gelangt somit zu der universalen Norm „Mitglieder irgendeiner Gruppe sollen die Normen ihrer Gruppe befolgen“. Diese Norm gilt nicht bloß für Mitglieder einzelner Gruppen, sondern für alle Menschen.
    Sofern der ethische Relativismus also gegenüber dem deskriptiven Relativismus, welcher nur bestehende Meinungsverschiedenheiten feststellt, eine eigenständige Position darstellen soll, ist er inkohärent, weil er universale Werte voraussetzt.

    Soviel zur Existenz nicht-relativer, d.h. absoluter oder universal gültiger Werte. Wenn wir keinen moralischen Nihilismus vertreten wollen, müssen wir davon ausgehen, dass moralische Werte keine relativen, sondern universal gültige Werte sind. Der ethische Relativismus ist keine Option, denn er analysiert entweder die Normativität moralischer Aussagen weg und fällt somit mit einem moralischen Nihilismus zusammen, insofern er sagt, dass es keine wahren/gültigen normativen Aussagen gibt; oder er ist inkohärent, weil er universale, nicht-relative Werte voraussetzt.

    II. Erwiderung auf Ihre Einwände gegen den Fetischismusvorwurf

    Das „Fetischismusvorwurf“-Argument zeigt, dass aus dem Gehalt einer moralischen Überzeugung eine motivationale Kraft folgt; das gilt dann aber nicht nur für tugendhafte Personen, sondern für alle Personen, die irgendwelche moralischen Überzeugungen haben. Die motivationale Kraft folgt aus dem Gehalt der moralischen Überzeugung, nicht aus der Tugendhaftigkeit der Person.

    Angenommen, eine tugendhafte Person hat zum Zeitpunkt t1 den nicht (vom De-dicto-Wunsch) abgeleiteten De-re-Wunsch, H zu tun. Nun revidiert sie aber ihre moralische Überzeugung und bildet also statt dieser alten eine neue moralische Überzeugung, nach der es moralisch gut ist, F zu tun. Wenn die tugendhafte Person seine Motivation nicht entsprechend der Revision seiner Überzeugung anpasst, also nicht die Motivation ausbildet, F zu tun, dann hätte sie nun zum Zeitpunkt t2 u.U. immer noch den alten De-re-Wunsch, H zu tun, obwohl sie die entsprechende moralische Überzeugung nicht mehr hätte, dagegen hätte sie aber auf jeden Fall die Überzeugung, dass F zu tun moralisch richtig wäre, ohne jedoch die Motivation zu haben, F zu tun. Dann aber fallen moralische Überzeugung und Motivation auseinander. Ergo: Wenn die tugendhafte Person ihre Motivation nicht an ihre moralische Überzeugung anpasst, so können Motivation und moralische Überzeugung auseinanderfallen und genau das ist bei tugendhaften Personen extrem unplausibel. Da also dieses Auseinanderfallen bei tugendhaften Personen ausgeschlossen werden soll, folgt logisch: Tugendhafte Personen passen ihre Motivation an ihre Wertüberzeugungen an.

    Der Urteilsexternalismus vertritt folgende Position: Wenn eine Person urteilt, dass X moralisch gut ist, dann ist die Person nicht notwendigerweise dazu motiviert, X zu tun. [D.h. aus dem bloßen Gehalt der Wertüberzeugung folgt noch nicht die Motivation. Hier ist nichts darüber gesagt, ob die Person tugendhaft ist oder nicht.]
    Wenn das aber wahr wäre, dann bedarf es eines urteilsexternen Faktors, der zusammen mit der Wertüberzeugung zu einer entsprechenden Motivation führt. Der Urteilsexternalist muss also durch urteilsexterne Faktoren erklären, wie tugendhafte Personen ihre Motivation zuverlässig an ihre moralischen Überzeugungen anpassen können. Dies tut er, indem er einen De-dicto-Wunsch, das moralisch Richtige zu tun (was immer es auch sei, d.h. was auch immer unter die Beschreibung „moralisch richtig“ fällt), postuliert. Also müsste der Urteilsexternalist sagen, dass eine tugendhafte Personen deshalb gemäß ihren Wertüberzeugungen handelt, weil sie diesen De-dicto-Wunsch hat. Das hieße aber, dass tugendhafte Personen Moralfetischisten wären.
    Folglich gilt also: (P1) Wenn der Urteilsexternalismus wahr ist, dann wären tugendhafte Personen Moralfetischisten.

    Die De-re-Konzeption ist logisch unabhängig von einer objektiven Existenz des Richtigen – aber ich glaube, dass ich das in meinem voherigen Kommentar unglücklich formuliert habe, sodass es den falschen Eindruck erweckt, dass dem nicht so sei. Ich bin direkt von den De-re-Wünschen tugendhafter Personen ausgegangen. Wenn es das moralisch Richtige aber nicht gibt, dann kann es so oder so keine tugendhaften Personen geben, ganz egal, ob diese aus Einsicht oder sonstwie handeln, denn es ist eine Tautologie, dass tugendhafte Personen das Richtige tun; wenn es das moralisch Richtige nicht gibt, dann gibt es weder moralisch gute noch moralisch schlechte Personen, weil es dann überhaupt keinen Maßstab gibt, anhand dessen eine Handlung moralisch bewertet werden könnte. (Wenn man von relativen Maßstäben ausginge, so müsste man eine tugendhafte Person relativ zu einem bestimmten Wertestandard oder einer bestimmten Kultur etc. definieren; so könnte dann auch das Konzept einer tugendhaften Person bestimmt werden, ohne von der objektiven Existenz des moralischen Richtigen auszugehen, d.h. ohne bereits über die Frage „Relativismus oder Universalismus?“ entschieden zu haben. Ich habe jedoch argumentiert, dass der ethische Relativismus falsch ist.)
    Einen De-re-Wunsch zu haben bedeutet nämlich lediglich, dass sich der Wunsch auf konkrete Eigenschaften eines Handlungstyps bezieht. Eine Person hat z.B. den De-re-Wunsch, Notleidenden zu helfen. Ob es nun das objektiv moralisch Richtige gibt und ob Hilfe für Notleidende unter diese Kategorie des moralisch Richtigen fällt, ist eine andere Frage. Insofern hängt die Konzeption von De-re-Wünschen nicht von der objektiven Existenz des moralisch Richtigen ab.

    Warum sollte eine Person bzw. warum ist eine tugendhafte Person durch nicht-abgeleitete
    De-re-Wünsche motiviert (sein), also warum ist eine tugendhafte Person kein Moralfetischist?
    Dem Moralfetischisten ist es völlig gleichgültig, was er da tut, solange nur das, was er tut, gemäß seiner Wertüberzeugung unter die Kategorie „moralisch richtig“ fällt. Er ist gleichgültig gegen das Leiden einer anderen Person, er interessiert sich nur für den Status bzw. die Beschreibung seiner Handlung als „moralisch richtig“. Es berührt ihn nicht direkt, ob in seiner Nähe jemand ertrinkt, sondern er hilft nur insofern, als er dies für sich als „moralisch richtige Handlung“ beschreibt. Das hört sich alles nicht sehr tugendhaft an. Von einer tugendhaften Person dürfte man gewiss erwarten, dass es ihr nicht gleichgültig ist, sondern dass es sie wesentlich kümmert, was sie da konkret tut, und dass es sie direkt berührt, wenn vor ihr jemand ertrinkt, sodass sie ins Wasser springt und dem Ertrinkenden hilft. Ein Moralfetischist, der den abgeleiteten moralischen De-re-Wunsch „Ich will Notleidenden helfen“ hat, der hat diesen Wunsch nur instrumentell, um den „übergeordneten“
    De-dicto-Wunsch, das moralisch Richtige zu tun, zu befriedigen. Eine solche Instrumentalität scheint es bei tugendhaften Personen nicht zu geben. Wäre es einer Person gleichgültig, was sie konkret tut, und würde sie sich bloß für den Status ihrer Handlung als „moralisch richtig“ interessieren, würden wir sie wohl kaum als tugendhafte Person beschreiben. Es scheint mir daher eine begriffliche Wahrheit zu sein, dass tugendhafte Personen keine Moralfetischisten sind.

    Nun ist das Argument also:
    (P1) Wenn der Urteilsexternalismus wahr ist, dann sind tugendhafte Personen Moralfetischisten.
    (P2) Tugendhafte Personen sind keine Moralfetischisten.
    (K) Also: Der Urteilsexternalismus ist falsch, d.h.: Wenn eine Person P urteilt, dass H moralisch gut ist, dann ist P notwendigerweise motiviert, H zu tun.

    III. Überzeugung, Motivation und Handlung – Beispiele

    Es geht nicht darum, dass aus einem moralischen Urteil mit Notwendigkeit eine bestimmte Handlung folgt, sondern eine Handlungsmotivation. Zwischen Motivation und Handlung kann es manche Hindernisse geben: z.B. kann die Person irrational oder willensschwach sein.
    Wenn eine Person (1) (scheinbar) die Wertüberzeugung hat, dass H moralisch gut ist, (2) sich in einer Situation befindet, in der sie H ausführen kann, und (3) keine anderen sie motivierenden Gründe dagegen sprechen, diese Handlung auszuführen, (4) sie aber dennoch die Handlung unterlässt, dann ist die Person irrational oder willensschwach oder sie hat nicht wirklich die unterstellte moralische Überzeugung.
    Anders gesagt: Wenn man das Bessere sieht und es gut heißt (und somit auch dazu motiviert ist), aber dennoch dem Schlechteren folgt, dann heißt man es entweder nicht wirklich gut oder man handelt irrational oder ist willensschwach.

    Das Beispiel des Amoralisten zeigt nichts gegen die motivationale Kraft von Wertüberzeugungen, weil Amoralisten die entsprechenden Wertüberzeugungen gar nicht haben; sie haben vielleicht die Wertüberzeugung, dass Foltern moralisch gut ist. Aber dann wären sie auch aufgrund des Gehalts dieser Überzeugung zu entsprechendem Handeln motiviert. Dass Amoralisten nicht dazu motiviert sind, z.B. Notleidenden zu helfen, liegt u.a. daran, dass sie keine entsprechende Wertüberzeugung haben, entweder haben sie entgegengesetzte oder überhaupt keine.
    Das Beispiel des Dickkopfs dagegen müsste näher beschrieben werden, er wird aber sicherlich unter die Kategorie des irrationalen oder willensschwachen Handelns fallen.

    Was Unterlassungsforderungen betrifft, denke ich, dass – wenn P glaubt, dass es moralisch geboten ist, H zu unterlassen, er H aber dennoch nicht unterlässt – es sich hier um irrationales oder willensschwaches Verhalten handelt, irgendein Defizit jedenfalls das verhindert, dass man gemäß dem handelt, wozu man durch Einsicht motiviert ist – also ein Problem des Übergangs zwischen einer bestehenden Motivation zur Ausführung der Handlung. Außerdem kommt es natürlich darauf an, dass man die fragliche Wertüberzeugung überhaupt hat. Wenn man gar nicht überzeugt ist, dass man auf exzessive Ressourcenverschwendung verzichten sollte, dann kann man natürlich auch nicht aufgrund dieser Überzeugung (weil man sie ja gar nicht hat) motiviert werden.
    Ein anderer Punkt kann auch noch der sein, dass man es u.U. gar nicht im Blick hat, dass bestimmte Handlungen z.B. zu exzessiver Ressourcenverschwendung führt; insofern hat man gar nicht die Überzeugung, dass die jeweilige Handlung unter den Fall „Ressourcenverschwendung“ fällt bzw. eine solche kausal nach sich zieht. Weil man diesen Zusammenhang nicht erkennt oder ihn kognitiv ausblendet (z.B. auch dann, wenn man es einfach nicht sehen will – hier käme wieder der irrationale Dickkopf ins Spiel). Einer solchen mangelhaften Erkenntnis kann aber ein Begründungsdiskurs sehr gut abhelfen.

    Was supererogatorische Forderungen betrifft, so sieht die Sache ein wenig anders aus. Da supererogatorische Handlungen bzw. Forderungen ein Überschuss über das Pflichtgemäße sind, muss man sich in einer gewissen Verantwortung sehen, um etwas über die Pflicht hinaus zu tun.
    Ein anderer entscheidender Grund, warum viele vermögende Leute nichts zur Linderung des Welthungers beitragen, liegt wiederum schlicht daran, dass sie nicht überzeugt sind, das es das ist, was sie tun sollten oder wozu sie überhaupt einen Grund hätten – vielleicht ist ihnen der Welthunger einfach egal und sie haben die entsprechende moralische Überzeugung gar nicht, dass er zu beseitigen wäre, oder meinen, dass sie nicht dafür verantwortlich wären, sondern dass sich andere darum kümmern sollten, etc. Sie sehen sich also u.U. einfach nicht in der Verantwortung.
    Wenn dagegen ein vermögender Mensch einmal eingesehen hat, dass es gut wäre, wenn er mehr täte, und er sich auch in der entsprechenden Verantwortung sieht – wenn man ihm z.B. begründet dargelegt hat, warum er mehr spenden sollte etc. und ihn diese Begründung überzeugt hat –, dann handelt er wiederum irrational oder ist willensschwach, wenn er nicht gemäß seiner Motivation handelt, die er aufgrund der Einsicht bzw. seiner moralischen Überzeugung gewonnen hat.

    IV. Begründung, Wahrheit und ihre praktische Relevanz

    Das bloße Haben irgendeiner beliebigen Wertüberzeugung garantiert nicht, dass es sich dabei um universal gültige Werte handelt, von denen man überzeugt ist. Dass wir aufgrund falscher Wertüberzeugungen agieren können bzw. aufgrund solcher Überzeugungen, die keine universalen Werte widerspiegeln, ist völlig klar. Aber dies ist eben gerade ein Grund, warum auch die Rationalität und Begründung unserer Überzeugungen und auch ihre Wahrheit bzw. die universale Gültigkeit der Werte praktisch relevant sind, insofern sie nämlich eine wesentliche Rolle für die Moralität bzw. moralische Sensibilität einer Person spielen.

    Je besser begründet eine Wertüberzeugung ist, desto stärker ist ihre motivationale Kraft. Dies liegt daran, dass die notwendige Korrelation zwischen Wertüberzeugung und Motivation wahrscheinlich graduell sein wird. Hier bietet sich die Rationalität oder Begründetheit der Überzeugung als guter Gradmesser für die motivationale Kraft an.

    Jede Person, die moralisch angemessen handelt, handelt auch aufgrund mehr oder weniger gut begründeter Wertüberzeugungen. Je besser begründet eine Wertüberzeugung ist, desto besser ist das Handeln der Person – denn es ist besser auch aufgrund gut begründeter Einsicht zu handeln als bloß aufgrund von spontaner Neigung oder Empörung. Ein blindes und völlig vernunftloses Handeln kann kein moralisch angemessenes Handeln sein. Ein völlig irrational Handelnder wird kaum als moralisch gut klassifiziert werden können. Es gehört immer ein gewisses Mindestmaß an Vernunft dazu, um einerseits überhaupt von Handeln, andererseits darüber hinaus von moralisch angemessenem Handeln sprechen zu können.
    Je mehr Vernunft schließlich in die Handlung mit hineinfließt, desto besser für die Moralität des Handelnden. Und ebenfalls ist es natürlich um so besser, je mehr die Vernunft Unterstützung erhält durch Neigung, Sympathie, moralische Empörung etc.; letztere dürfen aber nur als Ergänzungen des für eine moralische Handlung wesentlichen handlungsleitenden Prinzips, der Vernunft, fungieren.

    Oder anders gesagt: Zwischen Moralität und Vernunft besteht eine begrifliche Korrelation. Vernunft ist selbst eine Tugend. Und aus der Vernunft leitet sich Normativität überhaupt erst her, darum muss die Vernunft auch wesentlicher Bestandteil der Moralität sein. Wenn sich aus der Vernunft die Normativität überhaupt erst herleitet, dann handelt es sich dabei auch um Normen, die für alle vernünftigen Wesen gültig sind und außerdem ist die Wahrheit dann auch zugänglich, weil die Vernunft keine jenseitige Wahrheit ist, sondern weil sich reflexiv jeder, der für rationale Argumentation zugänglich ist, darauf besinnen kann; die Vernunft steht uns in erkenntnistheoretischer Hinsicht, was irgendeine Kluft zwischen Erkenntnis und Wahrheit angeht, näher als irgendwelche rein externen Faktoren, weil sie eine interne Struktur der vernünftigen Person selbst ist. Aufgrund dieser Nähe gibt es eine enge Verknüpfung zwischen Wahrheit und Begründung. Wahrheit bezieht sich hier ja auf die Vernunftstruktur selbst, wir könnten auch sagen, sie bezieht sich auf ein maximal kohärentes System.
    Die Begründung bzw. unser Erkenntnisvermögen mag dabei u.U. fallibel bleiben. Aus der Fallibilität unseres Erkenntnisvermögens folgt jedoch keineswegs, dass es keine universalen Werte gibt. Dass eine Begründung fehlbar ist, schließt eben nicht aus, dass sie richtig ist.
    So ist z.B. die Quantentheorie eine fehlbare wissenschaftliche Theorie, dennoch wird sie weitestgehend richtig sein. (Wir sagen ja auch nicht, dass unsere besten naturwissenschaftlichen Theorien, obwohl sie fallibel sind, irgendwie bezüglich ihres Erklärungsbereichs nur eine relative Geltung hätten und nicht universal gültig sind.) Ebenso könnte es eine fallible, aber dennoch richtige Moraltheorie universaler Werte geben, der wir uns mit sehr guten rationalen Begründungen anschließen können; ein Zweifel an ihr wäre nur sinnvoll, wenn dieser Zweifel selbst gut begründet wäre; solange er das jedoch nicht ist, brauchen wir einem ethischen Skeptizismus oder Relativismus nicht nachzugeben.
    Ebenso wenig lässt sich aus der Fehlbarkeit unseres Erkenntnisvermögens folgern, dass die Begründung von Wertüberzeugungen irrelevant für unsere Praxis ist.

    Die praktische Relevanz von Begründungen erstreckt sich also auf dreierlei: (1) verstärkt die Begründung die motivationale Kraft der Wertüberzeugung. (2) erhöht sie den moralischen Status des Handelnden, der in seinem Handeln durch eine solche (begründete) Wertüberzeugung angeleitet wird, weil eben das Handeln vernünftiger wird. (3) erhöht sie wahrscheinlich den moralischen Status des Handelnden auch dadurch, dass eine Begründung, je besser sie ist, die Wahrheit der Überzeugung um so wahrscheinlicher macht (denn dazu sind Begründungen da), also dadurch, dass mit größerer Wahrscheinlichkeit garantiert ist, dass die handlungsanleitende Wertüberzeugung die richtigen Werte artikuliert und auch dadurch, dass Wahrheit kein den epistemischen Begriffen wie Rechtfertigung oder Kohärenz völlig äußerlicher Begriff ist.

    V.

    Es ist schön und gut, wenn weitere stabilisierende und stärkende Faktoren hinzukommen, welche die Rationalität des moralischen Akteurs unterstützen und ergänzen, aber die Rationalität ist die entscheidende und wesentliche Komponente für moralisch angemessenes Handeln; d.h. aber nicht, dass sie die einzige sein muss.
    Ich sage nicht, dass man allein aufgrund vernünftiger Einsicht handeln soll und keine anderen Motive eine Rolle spielen dürfen, damit es sich um eine Handlung von echtem moralischen Wert handelt. Ich sage nur, dass es für Moralität ein Mindestmaß an Vernunft bedarf bzw. dass eine moralisch relevante Handlung, die überhaupt nicht durch Vernunft angeleitet wird, gewiss nicht bloß irrational ist, sondern auch von einer geringeren moralischen Sensibilität der Person zeugt als eine Handlung, die einer vernünftigen Einsicht folgt. Selbst wenn ein völlig blindes Handeln überhaupt moralisch vorbildlich sein kann, ist es immer dadurch einer weiteren moralischen Verbesserung fähig, dass der Handelnde zur vernünftigen Einsicht kommt, d.h. dass die Handlungsmaxime gut begründet wird.

    Dass jemand gerne dem Freund hilft, schließt nicht aus, dass er dies gerne tut, gerade weil er eine rational begründete Überzeugung hat, aus deren Gehalt sich eben diese motivationale Kraft ergibt. Wenn wir uns Schiller aber als jemanden vorstellen – und ich denke, dass Schiller dies ganz sicher nicht mit seinem ursprünglichen Einwand gegen die kantische Ethik gemeint hat –, der tatsächlich nur aufgrund seiner Neigung oder eines inneren Triebs seinem Freund hilft, diese Neigung aber völlig irrational ist, weil er für seine Überzeugung, dass es gut ist Freunden zu helfen, überhaupt keine rationalen Gründe anführen könnte und wenn man ihn fragt, warum er das tue, er einfach nur darauf hinweisen und sagen würde „Naja, ich spüre in mir so einen Trieb, der mich dazu drängt, meinen Freunden zu helfen“, dann würden wir ihn sicherlich nicht als einen moralisch vorbildlichen Akteur betrachten, geschweige denn überhaupt als einen rational Handelnden, der über seine Handlungen Rechenschaft ablegen kann. Genau das gleiche könnte der Sadist von seinem Trieb, Menschen zu quälen, nämlich auch sagen.
    Die bloße Wahrheit der moralischen Überzeugung und die Neigung, die man dazu hat, bzw. die zufällige Korrelation zwischen Neigung, Überzeugung und Wahrheit ist bestimmt nicht hinreichend für moralisch angemessenes Handeln. Hier ist eine Anti-Zufalls-Bedingung nötig.

    Moralische Empörung lässt sich nicht auf rationale Einsicht reduzieren, insofern man empört sein kann, ohne rational zu agieren, sie ist aber oft mit Begründungsdiskursen unterfüttert oder sucht sich entsprechende Begründungsdiskurse. Wenn man einfach nur mit blinder Empörung und ohne irgendwelche Argumente in den politischen Kampf und öffentliche Diskussionen geht, so wird man weder viel erreichen, noch wird es sich um eine moralisch angemessene und rationale Praxis handeln. Insofern stimme ich durchaus zu, dass es optimal ist, Einsicht mit Empörung zu kombinieren, aber ich weise dennoch darauf hin, dass der Einsicht dabei die entscheidendere und wesentlichere Rolle zukommt. Wäre man ohne jede Rationalität und Einsicht einfach nur empört, wäre das, wie gesagt, nicht vielversprechend. Verhielte es sich dagegen umgekehrt, und man hätte die rationale Einsicht und die rationale Einsicht motiviert einen entsprechend zum Handeln, so ergibt sich – wenn der Motivation nichts im Wege steht, wie z.B. irrationales oder willensschwaches Handeln – ein entsprechendes Engagement.

  2. Auf die Gefahr hin, dass einige Wiederholungen zu meinem letzten Beitrag (aber hoffentlich keine Inkonsistenzen) auftauchen, aber der Vollständigkeit und Übersichtlichkeit halber, möchte ich meine Meinung noch ein wenig mehr präzisieren und erweitern und dabei noch einmal genauer auf das Problem der praktischen Relevanz von moralischen Überzeugungen einerseits und ihren Begründungen andererseits zu sprechen kommen. Zunächst will ich mich, was die praktische Relevanz von moralischen Überzeugungen betrifft, auf den von Michael Smith in die philosophische Debatte gebrachten „Fetischismusvorwurf“ berufen, den ich im Folgenden kurz ausführen werde; dann werde ich auf die Rolle der Begründungen eingehen; und im Anschluss daran meine restliche Antwort auf ihren letzten Beitrag geben.

    Der Wunsch, das moralisch Richtige zu tun kann auf zwei Weisen verstanden werden: (1) De dicto: S will das moralische Richtige tun (was auch immer das moralisch Richtige ist) (2) De re: Es gibt eine Handlung H, die moralisch richtig ist, und S will H tun.
    Man sollte primär durch die konkreten richtig-machenden Eigenschaften einer Handlung motiviert werden, d.h. durch nicht abgeleitete De-re-Wünsche.
    Dass z.B. Leid anderer gelindert wird, ist etwas, was man um seiner selbst willen wünschen sollte. Ein Moralfetischist, d.h. eine Person, die stets motiviert ist, eine als moralisch richtig erkannte Handlung auszuführen, um irgendeine moralisch richtige Handlung auszuführen (nicht um Leid zu mindern), besitzt daher, in gewisser Weise, eine defekte moralische Sensibilität. Die motivationale Struktur eines Moralfetischisten ist mit unserem Begriff einer tugendhaften Person unvereinbar, denn diese werden primär durch das, wodurch sie sollten, motiviert, nämlich durch die konkreten richtig-machenden Eigenschaften einer Handlung. Also sind tugendhafte Personen keine Moralfetischisten.
    Nun wäre es unplausibel anzunehmen, dass in einer tugendhaften Person moralische Urteile und Motivationen völlig auseinanderfallen können. Tugendhafte Personen passen also ihre Motivationen zuverlässig an revidierte moralische Urteile an.
    Wenn nun aber moralische Urteile keine motivierende Kraft hätten, so müsste eine solche Anpassung der Motivationen an die revidierten moralischen Urteile urteilsextern, also im Rekurs auf den De-dicto-Wunsch, das moralisch Richtige zu tun, erklärt werden, von dem dann die
    De-re-Wünsche abgeleitet wären. Dann aber wären tugendhafte Personen Moralfetischisten. Das sind sie aber nicht, also folgt: Wenn eine Person urteilt, dass x moralisch gut ist, dann ist diese Person notwendigerweise motiviert, x zu tun.

    Somit sind also moralische Überzeugungen praktisch relevant. Nun gelten zudem für Überzeugungen gewisse Rationalitätsstandards; man sollte nicht irgendwelche irrationalen Überzeugungen haben, sondern sie sollten gewissen minimalen Rationalitätserfordernissen genügen, man sollte eine gewisse Art von Rechtfertigung für sie haben. Wenn eine Person überhaupt keine solche Rechtfertigungen für ihre (moralischen) Überzeugungen hätte, so wäre sie eben irrational oder hätte mangelhaftes Wissen. Insofern gilt zwar für irrationale Personen, dass für sie die Begründungen ihrer moralischen Überzeugungen für die motivierende Kraft, die aus diesen erwächst, irrelevant sind, wenn sie nur zufälligerweise die richtigen (moralischen) Überzeugungen haben. Dann würde ihnen aber gleichfalls eine gewisse Sensibilität auch in moralischer Hinsicht abgehen; ein gewisses Mindestmaß an Rationalität und (moralischem) Wissen gehört zur Moralität selbst dazu. Die Begründungen der moralischen Überzeugungen sind also insofern praktisch relevant, also sie einen notwendigen Beitrag zur Moralität der Person leisten – es mag zwar noch so gut sein, das Richtige aus den falschen oder überhaupt gar keinen „Gründen“ zu tun, aber es ist besser, es aus den richtigen Gründen zu tun.
    Außerdem: Sollte man die Überzeugung haben, dass es sich so verhält, und dieser eine motiverende Kraft zukommen, so ist man ipso facto motiviert, Begründungen für seine Überzeugungen zu haben, und u.U. umso mehr motiviert, entsprechend seinen moralischen Überzeugungen zu handeln, je „besser“ die Rechtfertigung ist, die man für diese Überzeugungen hat, d.h. je besser sie einer rationalen Überprüfung standhalten.
    Zudem: je geringer die Einsicht, desto eher gilt, dass die Überzeugung ungefestigt oder irrational implementiert ist, z.B. durch Zwangsmaßnahmen, sozialen Druck etc., was keinesfalls einer moralischen Praxis entsprechen sollte, selbst wenn es noch so wirksam ist. Es mag also durchaus praktisch effizientere oder zumindest genauso effiziente Maßnahmen geben wie die Rechtfertigung der moralischen Überzeugung, dies käme aber einem Mangel an Moralität (ebenso wie einem Wissens- und Rationalitätsdefizit) gleich, wobei durchaus zuzugestehen ist, dass es für eine große Gesellschaft sinnvoll ist, die Rechtfertigung durch andere praktische Implementierungen zu ergänzen, sie aber ganz zu ersetzen wäre – gelinde gesagt – eine schlechte Wahl und trüge im gesamtgesellschaftlichen Kontext wohl eher dazu bei z.B. Herrschaftsstrukturen unkritisch hinzunehmen, usw.)

    In welchem Verhältnis stehen nun aber die Werte bzw. objektiven moralischen Gründe für eine bestimmte Handlung zu den Wertüberzeugungen einer Person? Wenn man die Werte durch die Konvergenz der (möglicherweise verschiedenen) Begründungsverfahren bestimmt (wobei dann die Begründungsverfahren mögliche Realisatoren der Wertüberzeugung sind, sofern diese rational und also gerechtfertigt ist), so fällt deren Beitrag letztlich mit dem Beitrag eines konkreten Begründungsverfahrens, welches im Überzeugungssystem einer Person realisiert ist, zusammen.

    Mir scheint, ich wollte mit „regulativen“ Werten auf etwas hinaus, was über die bloßen impliziten Werthaltungen, die wir faktisch haben, hinausgeht, und zwar auf das, woran sich diese impliziten Werthaltungen letztlich „orientieren“ müssen. Diese Orientierungsfunktion liegt darin begründet, dass unsere impliziten Werthaltungen gewissermaßen Verkörperungen von allgemeinen, rationalen Werthaltungen überhaupt sind. Oder anders gesagt: Das, was (den Gehalt oder das Haben von) Werthaltungen überhaupt konstituiert, sind die den impliziten Werthaltungen übergeordneten und logisch vorgeordneten „regulativen“ Werte, und diese Regulative sind universal gültig (können aber u.U. nur vom Negativen ausgehen und keinen positiven Standard setzen).
    Ohne die Existenz universaler (im Sinne von universal gültig, was noch nicht implizieren muss, dass es ein u.U. infallibles Letztbegründungsverfahren für sie gibt) Werte könnten wir überhaupt keine Werthaltungen haben, es könnte schlicht keine Normativität geben (bedingte Werte lassen sich immer auf unbedingte zurückführen bzw. basieren immer auf solchen oder sie haben keinerlei normative Kraft), ebenso wenig wie es nebenbei bemerkt eine formale instrumentelle Vernunft, d.h. Zweck-Mittel-Kohärenz ohne inhaltliche normative Implikationen geben kann, oder aber der instrumentellen Vernunft als solcher jegliche Normativität abhanden kommt. [Hier lässt sich auf das Problem des Bootstrapping bezüglich der instrumentellen Vernunft verweisen (z.B. Halbig: „Die neue Kritik der instrumentellen Vernunft“, S.9-13)]
    Insofern gestehe ich durchaus zu, dass die instrumentelle Vernunft die Güte/Schlechtigkeit einer Sache nicht feststellen kann; aber die instrumentelle Vernunft ist eben nicht die ganze Vernunft.

    Was das Verhältnis von solchen Prinzipien wie dem Kategorischen Imperativ und der „Goldenen Regel“ betrifft, so denke ich, dass es sehr vorteilhaft für eine größere Gesellschaft ist, gewisse Stereotypen von Werten abrufen zu können, die sich in solchen leicht zugänglichen Regeln wie der „Goldenen Regel“ manifestieren; solche Stereotypen reichen von ihrer begründungstheoretischen Fundierung nicht an die philosophische Ausarbeitung oder Explikation der immanenten und universalen sittlichen Substanz heran, sind aber, in eine prägnante Formel gefasst, viel leichter abrufbar und metaphorisch betrachtet auch leichter umsetzbar, d.h. das Anwendungsproblem fällt dabei nicht so sehr ins Gewicht.
    Was schließlich den konsequenten Amoralisten betrifft, so zeigt sich hier natürlich das Ende einer reinen rationalen bzw. begründungstheoretischen Strategie, insofern es unmöglich sein wird, den Amoralisten durch Argumente zu zwingen, eine bestimmte moralische Überzeugung (die dann eine motivierende Kraft hat) auszubilden, oder z.B. einen akratisch Handelnden, selbst wenn er für diese Argumente bestens zugänglich ist und sie auch nachvollzieht, also auch die entsprechende moralische Überzeugung hat, bloß durch weitere Begründungen dazu bringen zu wollen, dass sich die motivierende Kraft seiner moralischen Überzeugung auch als das stärkste Motiv durchsetzt.
    Aber dieses Unmöglichkeitsresultat spricht in keiner Weise gegen das begründungstheoretische Vorgehen, ihm sind einfach bei besonders schweren Fällen Grenzen gesetzt, nämlich z.B. bei unverbesserlichen Amoralisten, irrationalen Menschen usw. [wobei man vielleicht auch, so wie ein Mindestmaß an Rationalität und Wissen für Moralität erforderlich ist, dieses Verhältnis auch umgekehrt fassen kann, sodass man also, wenn man amoralisch ist, in einem gewissen Sinne irrational oder unwissend ist; hier könnte man Anleihen bei Platon machen, bei dem ja Bosheit und Irrtum bzw. Unwissenheit eng korreliert sind. Dann fällt die Gesamtheit derjenigen, die sich gegen die Begründung „verschließt“ (aus welchen Gründen auch immer), gewissermaßen unter das Prädikat „irrational“ oder „unwissend“, o.ä.]

    Ihrer These, dass ein Handeln gemäß solcher Stereotypen (Goldene Regel etc.) bzw. Konventionen nicht irrational ist, stimme ich teilweise zu. Es ist aber ein Mindestmaß an Rationalität für Moralität erforderlich, insofern dieses Handeln moralisch angemessen ist, wohnt ihm eine gewisse Rationalität inne. Dies schließt aber dennoch solche Fälle aus, in denen man einfach blind irgendeinem Konzept folgt, selbst wenn ein Handeln gemäß dieses Konzepts im Allgemeinen als „moralisch gut“ zu klassifizieren ist; denn dies ist nur dann der Fall, wenn der Handelnde ein Mindestmaß an Rationalität, moralischer Sensibilität (sowie vielleicht auch Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit im Handeln etc.) mitbringt und nicht etwa bloß blind und mechanisch Befehlen gehorcht, die Handlung unter irgendeinem Zwang ausführt, usw.
    Zudem stehen solche Stereotypen immer in der Gefahr, zu solch totem Automatismus zu verkommen; man tut anderen eben nicht das, was man selbst auch nicht erleiden möchte, und dies funktioniert – in normalen Kontexten – genauso automatisch wie beim Autofahren die Kupplung zu betätigen. Dies hat sich sozial einfach zu einem gewissen Automatismus entwickelt. Hier, denke ich, befindet sich aber irgendwo (wenn auch nur vage bestimmbar) die Grenze zur Irrationalität; solche Automatismen, zumal solche, die moralisch signifikant sind, können durchaus gefährlich werden und in irrationalem bzw. unmoralischem Verhalten münden. [Dies sehen wir z.B. bei Arendts Analyse der „Banalität des Bösen“; hier sind konventionelle Befehlsstrukturen auf einfache Weise internalisiert.]
    Ähnlich verhält es sich auch – und das berührt in gewisserweise den Punkt der Rigorosität – bei kleinlichen Formalitäten und peniblen konventionellen Kontrollmechanismen oder allgemeiner bei solchen Phänomenen, wo solche Stereotypen „überstrapaziert“ werden. [Dies betrifft z.B. Irrationalitäten beim Aufbau und Ablauf bürokratischer Verwaltungssysteme.]
    Insofern halte ich die Alternative zwischen „blindem Handeln“ und „rational überlegtem Handeln“ durchaus für signifikant. Man muss moralisches Denken und moralische Praxis immer wieder neu beleben und am Leben erhalten, damit sie nicht in einen toten Automatismus verfällt.

    Dass wir schließlich unter Bedingungen bzw. in Kontexten handeln müssen, in denen uns keine letzten bzw. sicheren Begründungen zur Verfügung stehen, sondern nur fehlbare Begründungen, ist richtig, dass berührt aber nicht die praktische Relevanz von Begründungen und außerdem können durchaus auch fehlbare Begründungen zu universal gültigen Normen konvergieren. [Die universale Gültigkeit der Norm selbst, z.B. die Unantastbarkeit der menschlichen Würde, ist logisch unabhängig davon, ob die Begründung, welche sie stützt, selbst irrtumsimmun ist. Was letztlich die Fallibilität von Begründungen angeht, so glaube ich, dass sich das „Was“ (der „Inhalt“ der Begründung bzw. des Konvergenzpunktes) nur fallibel explizieren lässt, aber das „Dass“ (d.h. die Tatsache, dass es irgendeine universale Norm gibt, die sich in einem bestimmten Konvergenzbereich oder -radius befindet) durchaus innerhalb einer sicheren Erkenntnis zugänglich ist, d.h. also das „Dass“ selbst als Gewissheit, sowie einige stark abweichende Negativitäten (wie z.B. Sklaverei, Diktatur etc.) als sichere Ausschluss-Erkenntnis (wobei dieser Bereich vielleicht eine vage Grenze hat). Wäre dies nicht gewährleistet, so sehe ich nicht, wie man der Beliebigkeit dann noch entgehen könnte.

    Konvergenz hat – mathematisch gesehen – die schöne Eigenschaft, dass der Konvergenzradius immer kleiner wird, je mehr man sich dem Grenzwert annähert. Sofern wir Konvergenz in diesem Sinne verstehen, wird die Kluft, die beim Sprung von den begründungstheoretischen Konvergenzpunkten (d.h. den Normen) zu der universalen Gültigkeit dieser Normen überbrückt werden muss, immer kleiner, sodass z.B. die Sklaverei aus dem Raster völlig herausfällt, sodass sich sagen lässt, dass – was auch immer der Konvergenzpunkt positiv bestimmt sein mag (hier verbindet sich die Konvergenz mit dem Ausgehen vom Negativen und dem Sich-Aussetzen gegenüber diesem Negativen) – es jedenfalls die Sklaverei nicht sein kann, weil sie außerhalb des Konvergenzradius liegt.
    Außerdem: Die Konvergenz von Begründungen läuft letztlich auf Wahrheit hinaus, denn das Ziel, die „Wahrheit“ zu erreichen, ist ihr bestimmender Sinn und Zweck; eine „Begründung“, bei der es nicht um Wahrheit ginge, wäre keine Begründung. Der Wahrheit im theoretischen Diskurs entspricht aber die Richtigkeit der Normen im praktischen Diskurs. So wie die (vollständig explizite) Überzeugung, dass p, wenn sie wahr ist, eben absolut wahr ist, so ist eine (vollständig explizite) Norm, wenn sie richtig ist, eben absolut bzw. universal gültig/richtig.

    Worauf gründet sich denn die Verbindlichkeit oder bindende Kraft der (kollektiven) wohlüberlegten Willensentscheidung?

    Insofern es überhaupt Rechte gibt, muss ein Recht auf Rechte immer schon vorausgesetzt sein, da sich sonst der Status jedes Rechts selbst untergräbt. Dieses Recht auf Rechte sehe ich innerhalb der Menschenrechte in der Unantastbarkeit der menschlichen Würde (was immer auch diese „Würde“ bedeuten soll) verkörpert.

    Das Dasein des freien Willens ist der Ausgangspunkt des abstrakten Rechts; insofern spielt der volitionale Aspekt eine wichtige Rolle im Hinblick auf die politische Durchsetzung etwa der Menschenrechte, aber er spielt auch eine wesentliche Rolle in der begründungstheoretischen Reflexion selbst. Die Verbindlichkeit universaler Werte erwächst aus dem Dasein des freien Willens.

    Das Recht, insofern es geschichtlich aus der begründungstheoretischen Reflexion herauswächst, ist, sofern es positiv ist, da es historisch geronnenes Recht ist, immer auf das Gründungsereignis zu beziehen. Sofern man positives Recht von der geschichtlichen Entwicklung der begründungstheoretischen Reflexion abstrahiert, ist es beliebiger Inhalt – so ist etwa, soweit ich weiß, im damaligen positiven römischen Recht die Sklaverei erlaubt.
    (Vielleicht überzeugt mich ja der Artikel von Sandkühler bezüglich der Frage, ob positives Recht unabhängig von seiner philosophischen und historischen Begründung Nicht-Beliebigkeit garantieren kann.)

    Die Menschlichkeit oder Endlichkeit der Wertestandards und ihre Universalität widersprechen sich nicht, denn die universale Gültigkeit bezieht sich auf Vernunftwesen. Solange aber nur Menschen Vernunftwesen sind, eben auf Menschlichkeit; da Menschen endlich sind, auf Endlichkeit. Die Tatsache, dass wir menschliche Wesen sind (und in sofern fehlbare, endliche und verleztliche Wesen), ist überhaupt die Grundbedingung und der Sinn dafür, dass es universale Werte gibt. Wären wir unfehlbare, unendliche und unverletzliche Götter, so bräuchten wir uns an keine universalen Werte, ja überhaupt an keine Werte halten, so gäbe es für uns überhaupt keine Sphäre der Werte. Gerade unsere Unsicherheit und Freiheit macht universale Werte notwendig, zugleich aber ihre unmittelbare Positivität als Wissen unmöglich oder nur eingeschränkt zugänglich (eben über die Tatsache des „Dass“, die Konvergenz und die Erfahrungen radikaler Negativität, die sich begründungstheoretisch reflektieren lassen).

    • Aufgrund einer Erkrankung komme ich erst heute dazu, auf den jüngsten Kommentar zu antworten, was ich zu entschuldigen bitte. Dabei ist es freilich nicht möglich, allen dort vorgebrachten Überlegungen angemessen Rechnung zu tragen, was ich zu entschuldigen bitte. Um Ihnen (und ggf. den Mitlesenden) dennoch halbwegs gerecht zu werden, ist meine Replik wiederum recht lang geworden.

      Insbesondere scheint es mir, dass zwischen Ihnen und mir einige sehr grundlegende Differenzen in den philosophischen Grundorientierungen gibt, die nicht leicht auf diesem Wege geklärt werden können (wenn überhaupt). So denke ich etwa, dass die Fragen, wodurch jemand motiviert sein ’sollte‘, aus welchen Gründen man wünschen ’sollte‘, welche Art von Rechtfertigungen man haben ’sollte‘, wie die moralische Praxis aussehen ’sollte‘ und woran wir uns orientieren ‚müssen‘, nicht in den Prämissen, sondern allenfalls in den Konklusionen moralphilosophischer Erörterungen stehen ’sollte‘. Demgegenüber scheint der Text die wesentlichen Ergebnisses eines gelingenden Nachdenkens über Werte schon vorher gut zu kennen. Skeptisch bin ich auch hinsichtlich der so fraglosen Existenz des freien Willens, die sich aus seiner elementaren Funktion für ein bestimmtes Moralverständnis wie von selbst schon als gesichert ergibt. Ebenso wenig überzeugt mich, dass aus einer weitgehenden ‚Konvergenz‘ der Meinungen folgt, dass diese quasi mathematisch auf einen gegebenen idealen Grenzwert tendieren, dem zudem noch ‚Wahrheit‘ zukomme. Insgesamt scheint mir das ein Verfahren, in dem von der spezifischen (und womöglich falschen) Konzeption einer mutmaßlich attraktiven Praxis (hier des moralischen Handelns) auf die Existenz ihrer theoretischen Vorbedingungen geschlossen wird.

      Hinsichtlich des rational-universalistischen Begründungsunternehmens habe ich ausdrücklich nur eine pessimistische Induktion vorgebracht: Nach meinem Eindruck haben christlich-religiöse oder naturrechtliche ebenso wenig wie deontologische oder konsequenzialistische Moralphilosophien eine rational stichhaltige Begründung universal gültiger Werte geleistet (tugendethische, diskursethische oder konventionalistische Ansätze verfolgen soweit ich sehe dieses Ziel nicht). In dieser Hinsicht vertreten Sie, soweit ich sehe, eine entgegen gesetzte Position, der ich natürlich ihre fundamentale Relevanz nicht abspreche. Vor allem die enge Verbindung von Rationalität, Normativität und Universalität hat ja eine gute Tradition. Horkheimer (oder Max Weber) bestreitet an dieser Trias aber nicht die normengeleitete Dimension (zweck-)rationalen Handelns, sondern die ausweisbare Universalität oder auch nur rationale Eigen-Begründbarkeit dieser Normen. Hier wäre mir ein gutes Beispiel willkommen, an dem sich die rational begründete Universalität moralischen Handelns zeigt oder an dem die angebliche „Tatsache, dass es irgendeine universale Norm gibt“ deutlich werden kann.

      Dabei ist mir zudem unklar, ob bestimmte, von Menschen gesetzte Werte mit Hilfe der Rationalität als universal geltend begründet werden, oder ob die „begründungstheoretische Fundierung“ sich auf die „Explikation der immanenten und universalen sittlichen Substanz“ beschränkt. Letzteres klingt sehr nach dem platonischen Postulat einer seienden Idee des Guten, die von diversen nicht rational ausweisbaren Spekulationen abzuhängen scheint.

      Mit Blick auf die These meines Diskussionsbeitrags sehe ich den wichtigsten Punkt Ihres Kommentars in den komplexen Überlegungen zum Verhältnis von moralischen Überzeugungen und motivationaler Kraft. Herzlichen Dank dafür. Dass rationale und auf Universalität verweisende moralische Überzeugungen nicht immer allein hinreichend sind, um entsprechende Handlungen verlässlich nach sich zu ziehen, zeigt der Amoralist und Dickkopf. Darüber sind wir uns einig. Offen ist hingegen, ob derartige Überzeugungen zu den notwendigen Bedingungen gehören. Auch hier stimme ich zu, insoweit ich denke, dass der Glaube, das Richtige zu tun, eine Rolle spielt. Tatsächlich ist es wohl unplausibel, dass in einer tugendhaften Person Einsicht und Motivation völlig auseinanderfallen, aber das bedeutet noch nicht, dass folglich beides stets zuverlässig aneinander angepasst wird. Die erste Frage ist also, wie eng die Verbindung von moralischer Überzeugung und Motiv ist; und die zweite betrifft den universalen Status dieser Überzeugungen und ihre Beziehung zu Werten.

      Was die erste Frage betrifft, gibt es reichlich Beispiele, wo Handlung und moralisches Urteil nicht übereinstimmen. Das betrifft vor allem supererogative Forderungen, wie etwa mehr Engagement zur Linderung der Welthungerkatastrophe zu tun, der wenige vermögende und wohlmeinende Menschen effektiv nachkommen (ich denke hierbei an die Thesen von Thomas Pogge). Aber auch Unterlassungsforderungen wie etwa der Verzicht auf exzessive Ressourcenverschwendung zur Steigerung unseres Fernreise-Urlaubsvergnügens kann man so deuten (hierzu empfehle ich „Selbst Denken“ von Harald Welzer). Es scheint, dass doch recht viele letztlich mit Ovid sagen: „video meliora proboque, deteriora sequor“. Eine mögliche Schlussfolgerung wäre, dass es eben nur sehr, sehr wenige wirklich tugendhafte Menschen gibt, die allein oder zumindest vor allem aus Einsicht in universale Werte agieren. Damit hätte aber auch der Gedanke, dass gerade diese Ausnahmecharaktere für einen gedeihlichen Weltenlauf praktisch unverzichtbar sind, eine schweren Stand.

      Hinsichtlich der zweiten Frage denke ich, wir agieren oft aus Überzeugungen, in denen sich auch unsere Werthaltungen ausdrücken. Aber das sichert weder pragmatisch noch denknotwendig die universale Geltung dieser Werthaltungen. Das gilt umso mehr, wenn Sie in Ihrem Kommentar im Anschluss an die Ausführung zum Moralfetischisten noch strenger sind und fordern, dass man nicht allein aus moralischen Motiven handele, sondern dass es auch die richtigen und richtig begründeten Motive seien. Schiller wäre demnach wohl kein moralischer Akteur: „Gerne dien’ ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung. Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin.“ Sie definieren in ihrem Kommentar hingegen eine tugendhafte Person gerade dadurch, dass sie allein aus Einsicht in das moralisch Richtige motiviert handelt. Gibt es das moralisch Richtige so nicht, kann es nach dieser Definition auch keine tugendhaften Personen geben. Die ‚de re‘ Konzeption des richtigen Handelns überzeugt mich daher erwartungsgemäß nicht, weil sie ohne Gründe die objektive Existenz des Richtigen präsupponiert und zudem ohne Gründe moralisch fordert, man sollte ‚de re‘ motiviert sein.

      Dabei teile ich ihre Bedenken, dass moralische Handlungen aus den falschen Motiven nicht unproblematisch sind und zwar insbesondere in politischen Kontexten. An anderer Stelle habe ich versucht zu zeigen, dass gerade Ausdrucksformen politischer Moral und politischen Widerstands durch Einsicht UND Empörung motiviert sind (wie ich es im Anschluss an Rudi Dutschke nenne), aber dass sich moralische Empörung nicht auf rationale Einsicht reduzieren lässt (eher im Gegenteil): http://www.sopos.org/aufsaetze/48dceb0982abc/1.phtml.

      Moralisches Handeln braucht die Überzeugung, das Richtige zu tun. Dass ändert aber nichts an unserer menschlichen Lage, nicht aus der Gewissheit universaler Standards heraus agieren zu können, sondern nur mit der Vorläufigkeit unserer fehlbaren moralischen Urteilskraft. Sich über diesen Umstand zu täuschen, birgt die Gefahr kontextignoranter Selbstgerechtigkeit ebenso sehr, wie es die potenziellen Automatismen eines unreflektierten normenregulierten Konventionalismus tun. In diesem Sinne bleibe ich trotz der von Ihnen vorgebrachten Einwände bei der so spezifizierten These, dass wir universale Werte weder haben, noch brauchen.

  3. Haben Sie meinen herzlichen Dank für diesen scharfsinnigen und nachdenklichen Kommentar. Ich stimme Ihnen zu, dass bloße generelle Akzeptanz noch nicht die Güte von normativen Überzeugungen sicherstellt, wie Sie anschaulich am Beispiel der Sklaverei verdeutlichen. Meine These besteht jedoch gerade darin, dass Menschen allenfalls nach bestem Wissen tun, was sie für gut und richtig halten, ohne über ein eindeutiges, überhistorisches und postkonventionelles Ensemble von Kriterien zu verfügen, mit denen sie die Qualität ihrer Werte klären können. Wir agieren meines Erachtens ohne ein solches Fundament. Ich bezweifele also, dass die menschliche Rationalität uns eine kontextfreie Ressource zur Verfügung stellt, mit deren Hilfe wir universal klären können, dass und warum bestimmte Tatsachen ‚traurig‘ sind. Ich persönlich schätze auch Ihre Werthaltung, dass wir besser „nicht die falschen Werte“ teilen sollten, bezweifele aber, dass wir darüber universale Kenntnis haben.

    Allerdings wird durch Ihre Einwände deutlich, dass diese pessimistische Einschätzung hinsichtlich der Begründungsfrage von grundlegenderer Bedeutung für den Gedankengang meines Essays ist, als ich zunächst dachte. Und sie bedarf selbst stärker rechtfertigender Gründe als ich sie im Text vorbringe, da ich die Frage nach der praktischen Relevanz solcher Begründungen in den Vordergrund rücken wollte. Diese Gründe kann ich natürlich jetzt nicht ausführlich darlegen, so dass ich mich mit dem Verweis auf Max Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft begnügen muss, in der gerade der Vernunft das Vermögen abgesprochen wird, die Güte oder Schlechtigkeit einer Tatsache festzustellen.

    Auch stimme ich Ihnen zu, dass bei unserem moralischen Handeln oft „irgendwelche ‚Rechtfertigungen'“ eine Rolle spielen, wenn sie auch nicht immer vorher bewusst sind, sondern oft erst anschließend vorgebracht werden. Nicht immer sind die vorgebrachten normativen Gründe mit den handlungsleitenden Motiven identisch, aber ohne implizite Werthaltungen können wir auch meiner Überzeugung nach nicht auf konkrete Konstellation reagieren. Dieser Umstand verlangt aber nicht, dass unsere regulativen Werte auch universale Werte sein müssen.

    Wenn ich recht sehe, sind wir uns zudem darin einig, dass universale Werte, selbst wenn es sie gibt, nicht allein hinreichend sind, moralisches Handeln sicher zu motivieren. Sie scheinen jedoch das amoralische Verhalten vor allem auf die Verstocktheit und Irrationalität von Menschen zurück zu führen, die sich quasi dem zwanglosen Zwang des besseren Argumentes verweigern. Diese Fälle gibt es ohne Zweifel auch und Ihre anschließenden Überlegungen leuchten mir ein. Tatsächlich konvergieren die moralischen Überzeugungen ja weitgehend auch trotz divergierender Begründungsweisen. Aber ich bezweifle, dass es mit Blick auf unsre alltäglichen moralischen Entscheidungssituationen typischerweise möglich oder nützlich ist, mutmaßlich universale und somit kontext-transzendierende Standards zur Anwendung zu bringen. Beispielhaft dafür scheinen mir die oftmals rigoristischen, unspezifischen oder kontraintuitiven Konsequenzen des Kategorischen Imperativs dessen universale Überlegenheit ja immer wieder gegen die Goldene Regel vorgebracht werden, welche ja tatsächlich gegenüber dem Sadisten begründungstheoretisch schwach ist.

    Ein Handeln gemäß der goldenen Regel oder anderer Konventionen ist hingegen nicht irrational. Es gilt, die falsche Alternative von „blindem Handeln“ und „rational überlegtem Handeln“ zu vermeiden. Das rationale Handeln von Menschen findet in einem Raum der Ungewissheit statt und es scheint mir insgesamt besser, diese Ungewissheit nicht zu leugnen. Ich verzichte daher auf den – wie mir scheint – nicht gerechtfertigten Sprung von den Normen, auf die unsere Begründungsbemühungen hin fehlbar konvergieren zu der Überzeugung, diese Normen seien universal gültig. Dass ein solcher Begründungsdiskurs nicht zwingend erforderlich ist, sieht man zum Beispiel auch an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Deren Herleitung verzichtet (bewusst?) auf begründungstheoretische Bemühungen und vertritt statt dessen offensiv eine Reihe von Werten, für die sich die Vereinten Nationen einsetzen wollen. Zur Begründung dafür bezieht sich die Generalversammlung der UNO nicht auf eine historische Mission, sondern letztlich allein auf die bindende Kraft ihrer eigenen wohlüberlegten Willensentscheidung. Damit ist nicht zwangläufig moralphilosophische Beliebigkeit verbunden. Inwiefern die zu positivem Recht geronnenen generellen Werte unabhängig von ihrer philosophischen oder historischen Begründung als praktische Bezugsgröße und einklagbare Instanz für mehr Glück und Freiheit in der Welt dienen können, zeigt z.B. Hans Jörg Sandkühler in: “Wissenskulturen, Pluralismus und Recht.” (Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie. Vol. 2/2002, S. 41-52).

    Aus diesen Gründen denke ich, dass es in der Tat einen Unterschied macht, sich einfach nur „irgendwie“ oder aber sich „richtig zu verhalten“, aber mir scheint, dass wir mit Blick auf das Richtige keine universalen sondern nur menschliche Standards haben und brauchen.

  4. Wenn auf breiter Basis faktisch Werte anerkannt werden, die nicht universal gültig sind, heißt das noch lange nicht, dass damit irgendetwas Gutes erreicht wäre. Wenn etwa wie früher Sklaverei weitgehend anerkannt ist, sieht man, dass es mit der bloßen Tatsache, dass irgendwelche Werte geteilt werden, noch nicht getan ist, wenn es um die Frage gehen soll, die besagte Sorge zu beschwichtigen. Es geht eben auch um die Frage danach, welche Werte geteilt werden – und das sollten nicht die falschen sein. Faktische Anerkennung von irgendwelchen Werten auf breiter Basis kann also universale Gültigkeit nicht ersetzen.
    Der Begründungsdiskurs ändert zwar erstmal nichts an der Tatsache, dass täglich Kinder misshandelt werden; aber er macht auf rationalem Wege deutlich und verständlich, dass es sich um eine „traurige“ Tatsache handelt und nicht um irgendeine bedeutungslose Tatsache unter anderen.
    Blindes Handeln ohne Nachdenken oder Handeln, welches durch irgendwelche blinden (begründungsfernen) Mechanismen induziert wird, ist kein ausreichender Ersatz für universale Werte.
    Wenn ich dagegen einfach ohne Begründung glaube, man solle dies oder jenes tun, dann ändert dies auch nichts an dieser Tatsache; ja, es tut noch viel weniger: solange man nicht rational überlegt, zeigt es nicht einmal, dass es sich dabei um eine „traurige“ Tatsache handelt. Wenn ich z.B. einfach nur den Impuls Leiden abzuschaffen in mir verspüre, aber keine Begründung dafür habe, so kann ich zwar im Leiden eine „traurige“ Tatsache sehen, aber dieser Impuls zeigt mir nicht, dass es sich überhaupt um eine „traurige“ Tatsache handelt – d.h. ich wäre nicht gerechtfertigt, dies zu glauben.
    Man könnte genauso gut den sadistischen Impuls verspüren, anderen möglichst viel Leiden zuzufügen, und dies würde einen im Leiden anderer eine „schöne“ Tatsache sehen lassen, aber rational betrachtet genauso wenig zeigen.
    Rationalen Begründungen und die Empfänglichkeit für sie schützen uns vor leichter Manipulierbarkeit, Unfreiheit, blindem Konformismus und Dogmatismus.

    Es ist eine Sache, auf einem privilegierten Begründungsverfahren zu bestehen (worüber dann der universale Geltungsanspruch individuiert wird), und es ist eine andere Sache, universale Werte als das Resultat auszuweisen, wogegen verschiedene sich im Diskurs bewährende ethische Begründungsverfahren konvergieren. Andererseits sehe ich jedoch nicht, warum eine universale Begründung die Verständigung über gemeinsames Handeln behindern muss (sie könnte ja durchaus auf Anklang stoßen oder zumindest mehr Klarheit verschaffen), oder vielmehr würde ich es in Betracht ziehen, ein solches Verständigungs-Problem, das dabei womöglich entstünde, anders zu verorten: z.B. besteht ja durchaus die Möglichkeit, dass irgendjemand es nicht einsieht – ganz egal, welche (ethischen) Begründungen man ihm gibt oder wie allgemein anerkannt bzw. generell verbreitet diese oder jene Werte sind –, warum er Kinder nicht verprügeln soll; dass hier aber die Verständigung abreißen kann, muss nicht daran liegen, dass ein Fehler in der Begründung vorliegt, sondern kann auch daran liegen, dass er einfach ein schlechter oder unverständiger Mensch ist. Dann kann man sich natürlich fragen, wie man weiter mit diesem Menschen umgeht oder sich mit ihm verständigt, ob man z.B. mehr auf ihn eingeht etc., aber all das behindert keinesfalls den Begründungsdiskurs, sondern zeigt, dass dieser ergänzt werden muss, falls und weil die Menschen sich irrational verhalten und für Begründungen nicht immer zugänglich sind, sondern man sie u.U. auch mit irgendeinem weitergehenden emotionalen Aspekt ansprechen muss.

    Um sich zu moralischen Problemen irgendwie zu verhalten, braucht man tatsächlich keine universalen Werte; aber es geht ja nicht darum, ob man sich einfach irgendwie verhält, ob man etwa anderen Leid zufügt oder versucht Leiden abzuschaffen – denn dies ist nicht gleichwertig. Um sich dagegen zu moralischen Problemen richtig zu verhalten, braucht man durchaus universale Werte. Moralisches Handeln ist nicht einfach ein regelkonformes, sondern ein regelgeleitetes Verhalten. Bloße Regelkonformität reicht nicht aus, weil es wesentlich um die Frage geht, welcher Regel zu folgen ist.
    Zur moralischen Orientierung bedarf es irgendwelcher „Rechtfertigungen“. Universale Werte sind aber ein Regulativ, an dem sich kontextgebundene Rechtfertigungen ihrerseits überhaupt erst orientieren können. Bei der Abwägung von konkreten Umständen sind – implizit oder explizit – immer schon solche regulativen universalen Werte im Spiel.

    • Versehentlich habe ich meine Antwort auf diesen Kommentar selbst als Kommentar gepostet: Sehen Sie also bitte oben meinen Beitrag vom 5. Juni, 00.10 Uhr

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