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InDebate: Wozu über Kommerzialisierung und Ökonomisierung philosophisch nachdenken?

Veröffentlicht am 22. Juli 2014

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Matthias Kettner

PhilosophInnen können nicht nur Tatsachenfragen verfolgen, wie alle übrigen Wissenschaftler, sondern auch normative Fragen systematisch durchdenken, z.B. Fragen nach der Begründbarkeit rationaler und moralischer Beurteilungsstandards. Und anders als „empirische“ Wissenschaften wie z.B. Ökonomik, Psychologie und Soziologie, kann Philosophie existenziell wichtige Belange als solche thematisieren. In eine kleine Charakteristik der Leistungskraft von Philosophie würde ich drittens die seit Sokrates kultivierte Fähigkeit aufnehmen, gezielt kontrapunktisch zu problematisieren: Breite Konsense über das, was sich von selbst zu verstehen scheint, aufzubrechen und andererseits common ground auch dort noch zu suchen, wo zunächst nur radikale Dissense bestehen.

 Die allgemeine Verfassung der wirtschaftlichen Verhältnisse, in denen wir leben, prägt die realen und die für uns denkbaren Möglichkeiten eines „guten Lebens“ durch und durch. Auch lassen sich komplexe ethische Diskussionen, wie individuell oder kollektiv „richtig“ zu leben sei (nachhaltig? kosmopolitisch? aufgeklärt? im Wohlstand? angenehm? rebellisch?) gar nicht ernsthaft führen, wenn wir von den prägenden Verhältnissen des Wirtschaftens nicht sprechen wollen oder können. „Wir leben in einer Marktwirtschaft“, das weiß jede Binse, aber selbstverständlich ist dies kein Satz über eine Selbstverständlichkeit.

Wettbewerbliche („freie“) Marktwirtschaft und ihre zunehmende Globalisierung, das wird niemand bestreiten, bilden die dynamische Grundlage der gesellschaftlichen und kulturellen Gesamtsituation, die wir meinen, wenn wir heute vom Kapitalismus reden. Der Anschein von Naturwüchsigkeit und Natürlichkeit (und, seit 1989, offenbar auch die globale Alternativenlosigkeit) kapitalistischer Marktwirtschaft macht es nicht nur ihren Verteidigern zu leicht, sondern auch ihren Kritikern: Den Verteidigern, weil sie sich auf die Macht des Faktischen, auf das Recht der Freiheit und den Wohlstand einiger Nationen berufen können. Den Kritikern, weil Schattenseiten der kapitalistischen Marktwirtschaft so allgegenwärtig sind, dass sich Übervereinfachungen aufdrängen und pauschale kausale und moralische Zurechnungen aller möglichen Übel auf „das Wirtschaftssystem“ nahe legen.

Zu Marktfundamentalisten, die dogmatisch in kapitalistischer Marktwirtschaft immer nur die Lösung, aber nie eine Quelle von Problemen sehen, verhalten Antikapitalisten sich oft bloß spiegelbildlich. Das ist nicht nur für die Wirtschaftsethik bedauerlich, die viel kritischer sein könnte als ihr heutiger Mainstream. Bin ich zu optimistisch, wenn ich meine, dass philosophische Begriffsarbeit aus den lagermentalen reflexhaften Reflexionsabbrüchen hinausführen kann? Jedenfalls meine ich, dass wir es versuchen müssen. Kapitalismuskritik ist zu wichtig, um sie Antikapitalisten zu überlassen.

 Die Differenzierungsarbeit beginnt bei geläufigen Allgemeinbegriffen von vermeintlich diagnostischem Wert. Ich finde es keineswegs gleichgültig, ob und wie genau wir von Ökonomisierung und Kommerzialisierung reden. Diese Begriffe werden häufig unterschiedslos verwendet – von vermeintlich kritischen Kritikern häufig leider wie grobe Klötze und Keile. Wie wären die Begriffe zu schärfen?

 Ökonomisierung hat im weitesten Sinne mit der erwünschten Steigerung von Effizienz beim Erzielen erwünschter Effekte zu tun. Effizienz ganz allgemein ist ein Maßverhältnis zwischen „Erfolg“, ausgedrückt in Erfolgsmaßen einer bestimmte Art, und hierfür nötigem „Aufwand“, ausgedrückt in Aufwandsmaßen einer bestimmten Art. Die Werte beider Größen müssen irgendwie messbar, müssen aber nicht bepreisbar (=in Geld ausdrückbar) sein. Etwas „ökonomischer“ machen heißt, es zielführender, sparsame, ohne unnötigen Aufwand, ohne vermeidbare Verschwendung zu machen. Es geht uns gewöhnlich ja nicht nur darum, dass wir unsere Zwecke und Ziele effektiv (=mit wirkungsvollen Mitteln) erreichen, in der Regel wollen wir sie auch effizient (=vergleichsweise aufwandsarm) erreichen.

 Unter ansonsten gleichen Umständen finden wir es eher gut, wenn es uns gelingt, einen Zweck mit sparsameren geeigneten Mitteln zu erreichen als mit aufwändigeren. In diesem Sinne kann Ökonomisierung etwas Gutes sein (z.B. eine technische Effiziensteigerungen von Rechenleistungen) – egal wie wir bestimmte Ökonomisierungsprozesse unter Heranziehung weiterer und anderer (z.B. ästhetischen, moralischen, politischen, ökologischen) Bewertungsgesichtspunkte sonst noch einschätzen mögen. Hier kommt alles auf den betreffenden Inhalt an. Den machtvollen Trend einer „Ökonomisierung des Sozialen“ z.B. kritisiere ich, nicht weil es um Ökonomisierung sondern weil es um die Ökonomisierung des Sozialen geht – will sagen, um bestimmte Lebensverhältnisse und eigensinnige Formen der Zwischemenschlichkeit, die durch betriebswirtschaftliche oder sozialtechnische Rechenhaftigkeit, die mit der Suche nach aufwandsparenden „Lösungen“ in sie einziehen, verdorben werden können.

Erwünschte Effizienzsteigerungen im Verfolgen erwünschter Ziele, dies ist die allgemeinere, weitere, nicht auf Wirtschaft fixierte und nicht an die Existenz von Märkten gebundene Kategorie. Kommerzialisierung hingegen ist eine besondere, engere Kategorie des Effizienzdenkens. Denn die effiziente Steigerung von Chancen auf Gewinn in einer Zeiteinheit im Verhältnis zu einem hierfür eingesetzten Kapital ist ein sehr spezielles Ziel in einer sehr speziellen Wirtschaftspraxis, auch wenn diese sich allseits ausbreitet. Kommerzialisierung setzt Geld, Waren und Märkte voraus. Kommerzialisierungsprozesse, so könnte man sagen, sind Prozesse, die bisher marktfreie oder –ferne Bereiche menschlicher Praxis in Märkte umwandeln und so der Praxis von Akteuren entgegenkommen, die vor allem an Reinditeeffizienz interessiert sind. Kommerzialisierung dreht sich um Effizienz in genau nur einem marktwirtschaftlichen Sinne: Effizienz als Rentabilität, ein Maßverhältnis von Profit zu Investition.

 Effizienzdenken ist vielfarbig, Effizienz zeigt viele Gesichter: technische („Wirkungsgrad“), ästhetische („Eleganz“), praktische („Anstrengungslosigkeit“), ökonomische („Sparsamkeit“),  kapitalistische („Rentabilität“). Ökonomisierung an sich ist sowenig gut oder schlecht wie Sparsamkeit als solche, Kommerzialisierung sowenig wie rentable Investitionen als solche. Die Bewertung hat sich nach Kontext, Inhalt und Folgen zu richten. Ich meine, philosophisch kommt es darauf an, die Dinge in ihrem konkreten Zusammenhang zu begreifen. Von einer Wirtschaftswissenschaft, die zwar beständig ökonomische Wertungen unterschiebt, davon aber wenig wissen will, ist hierfür kaum etwas zu erwarten.

(c) Matthias Kettner

Matthias Kettner (Jg. 1955) ist Professor für Philosophie und Diplomspsychologe. Er promovierte 1987 an der Frankfurter Goethe-Universität bei Apel und Habermas über Hegel, forschte am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen über Pragmatismus, Massenmedien und Demokratie, habilitierte sich 1999 in Frankfurt mit einer Arbeit über Diskursethik und nahm 2002 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der privaten Universität Witten/Herdecke an. Seit 2008 ist er Forschungsdekan der Fakultät für Kulturreflexion und Studium fundamentale sowie Leiter des Studiengangs Philosophie, Politik und Ökonomik (PPÖ).

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1 Kommentar

  1. Ihre vorsichtige Krttik an der „Ökonomisierung des Sozialen“ kann wohl umso plausibler erscheinen angesichts der akuten Ökonomisierung und Kommerzialisierung desselben in Form der reinen „Biomasse“, des akuten Ausverkaufs derselben, gegen den, scheinbar leider nur noch die Kirchen, bzw. kaum mehr als die ( wohl deshalb attakierte)katholische, Einspruch erheben

Beitragsthemen: Globalisierung | Ökonomie

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