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„Februar. No pasarán.“ Paul Celan als politischer Dichter

Veröffentlicht am 26. März 2021

Vorbemerkung: Es handelt sich im Folgenden um das nur geringfügig veränderte Skript eines Vortrags, den ich am 27. Januar 2021 anlässlich des Gedenktags an die Befreiung von Auschwitz am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover hielt. Die philosophische Hauptreferenz der folgenden Ausführung ist Jacques Derridas Aufsatz Schibboleth. Für Paul Celan (Wien 1986). Für die Details zu Celans Biographie habe ich meist auf die sehr gründlichen Kommentare in der von Barbara Wiedemann besorgten Gesamtausgabe von Celans Gedichten (Berlin 2018) zurückgegriffen. Aus dieser Ausgabe sind auch sämtliche zitierten Texte von Celan entnommen. Weitere verwendete Quellen sind der Aufsatz Paul Celan – Paul Eluard, Entgegnung und Einvernehmen von Evelyn Hünnecke (in: Arcadia 32 [1997], S. 169–174) und die Monographie Dichtung wider Dichtung. Paul Celan und die Literatur (Göttingen 2006) von Jean Bollack.

I. Einleitung: Zu Paul Celan

Paul Celan wurde am 23. November 1920 in Czernowitz geboren. Eine Stadt mit einer großen jüdischen Gemeinde, der er auch selbst angehörte, die damals Teil Rumäniens war und heute zur Ukraine zählt. Am 20. April 1970 beendete er vermutlich sein Leben, indem er sich vom Pont Mirabeau in seiner Wahlheimat Paris in die Seine stürzte.

2020 jährte sich also Celans Geburtstag zum 100. Mal, sein Sterbetag zum 50. Mal. „Es ist Zeit“, könnte man, um sein berühmtes Gedicht Corona zu zitieren, dessen Titel aus der gegenwärtigen Erfahrung heraus einen eigenartigen Beigeschmack erhält, sagen, dass wir uns dem Werk eines der berühmtesten deutschsprachigen Poeten der Moderne aus einer neuen Perspektive nähern, oder sogar, wie es im selben Text heißt: „Es ist Zeit, daß es Zeit wird.“

Es sind scheinbar unpolitische Gedichte wie das zitierte Corona und vor allem sein Meisterwerk Todesfuge, die wir heute vor allem mit Celan verbinden. Die Todesfuge, mit deren düsteren Versen die meisten von uns aus dem Deutschunterricht vertraut sein dürften, gilt als bis heute eindrücklichste literarische Verarbeitung der Schoah aus der Perspektive der Opfer. Es ist aus einer Erfahrung heraus geschrieben, in der es keine Hoffnung mehr gibt; oder genauer: in der die einzige Hoffnung vielleicht, der zur selben Zeit von Theodor W. Adorno philosophisch artikulierten Erfahrung nicht unähnlich, darin besteht, den Schrecken durch seinen sprachlichen Ausdruck zu bannen.

Es gibt aber noch eine andere, vielfach verdrängte und vergessene, Seite in Celans Schaffen. Celan nimmt in zahlreichen Gedichten eine dezidiert politische, geradezu aktivistische Perspektive ein. Auch wenn er sich, soweit mir bekannt, nie in seinem Leben im engeren Sinne politisch engagierte, bekennt er sich in ihnen doch in recht eindeutiger Weise zu antifaschistischen und sozialistischen Ideen. Er schrieb etwa einen Nekrolog auf Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.[1]

Auf diese Seite des lyrischen Werks Celans möchte ich in diesem Text eingehen, ausgehend von einigen seiner weniger bekannten Gedichte. Aus ihnen spricht ein Celan, der einem Bertolt Brecht näher steht als einem Rainer Maria Rilke oder erst recht einem Stefan George: Ein Dichter, der wie Brecht von einem starken utopischen Sinn, einer linken politischen Grundorientierung aus schreibt, und, so könnte man fast sagen, eine eigene Spielart eines lyrischen Realismus entwickelt, engagierte Literatur verfasst, die jeden Formalismus oder Subjektivismus, den man mit Celan auf den ersten Blick assoziieren mag, transzendiert.

Die Betrachtung dieser Gedichte wird uns mit Notwendigkeit auf das Problem der Macht der Sprache stoßen und das Problem der Macht der Lyrik. Oder, um mit Celan nun selbst zu sprechen, das Problem des Schibboleth.

II. Das Problem des Schibboleth

1955 veröffentlichte Celan den Band Von Schwelle zu Schwelle, der unter anderem dieses Gedicht beinhalt, das bereits den Titel Schibboleth trägt:

Schibboleth

Mitsamt meinen Steinen,
den großgeweinten
hinter den Gittern,

schleiften sie mich
in die Mitte des Marktes,
dorthin,
wo die Fahne sich aufrollt, der ich
keinerlei Eid schwor.

Flöte,
Doppelflöte der Nacht:
denke der dunklen
Zwillingsröte
in Wien und Madrid.
Setz deine Fahne auf Halbmast,
Erinnrung.
Auf Halbmast
für heute und immer.

Herz:
gib dich auch hier zu erkennen,
hier, in der Mitte des Marktes.
Ruf’s, das Schibboleth, hinaus
in die Fremde der Heimat:
Februar. No pasarán.

Einhorn:
du weißt um die Steine,
du weißt um die Wasser,
komm,
ich führ dich hinweg
zu den Stimmen
von Estremadura.

Es ist unmöglich, hier auf alle Details dieses Gedichts einzugehen. Was es zunächst zu klären gilt, ist offenkundig das titelgebende Wort. Es ist, wie zahlreiche Motive bei Celan, dem Alten Testament entnommen, wo das Wort „Schibboleth“ in folgenden Versen aus dem Buch der Richter eine Rolle spielt:

„Wenn nun einer von den Flüchtlingen Ephraims sprach: Lass mich hinübergehen!, so sprachen die Männer von Gilead zu ihm: Bist du ein Ephraimiter? Wenn er dann antwortete: Nein!, ließen sie ihn sprechen: Schibbolet. Sprach er aber: Sibbolet, weil er’s nicht richtig aussprechen konnte, dann ergriffen sie ihn und erschlugen ihn an den Furten des Jordans, sodass zu der Zeit von Ephraim fielen zweiundvierzigtausend.“[2]

Man versteht diese Begebenheit, auch ohne ihren Kontext zu kennen. Flüchtlinge versuchen, den Jordan zu überqueren. Sie sind offenbar weder durch ihre Kleidung noch ihre Sprache sofort als Fremde identifizierbar. Nur das „sch“ können sie anscheinend nicht richtig aussprechen, wie es am Wortanfang des hebräischen Worts „Schibboleth“, das in seiner Grundbedeutung „Fluss“ oder auch „Getreideähre“ bedeutet, vorkommt. Durch diesen Aussprachefehler geben sie sich unfreiwillig als Fremde zu erkennen und werden der recht brutalen Logik dieser Stelle gemäß niedergemetzelt.

Hier wird eine geradezu archetypische Verhaltensweise erzählt, von der sich die Menschen seither nicht emanzipiert haben und deren Opfer auch Celan selbst und seine Familie wurde: Die Menschen werden in Gruppen geteilt und wer in der falschen Gruppe ist und sich nicht wehren kann, ein Flüchtling ist, wird, sofern es opportun erscheint, einfach getötet. Warum die Flüchtlinge sterben müssen, wird an dieser Stelle gar nicht erklärt und muss anscheinend nicht einmal begründet werden; es wird noch nicht einmal in irgendeiner Form kritisiert, sondern einfach nur berichtet. Dieser partikularistischen Denkweise gemäß ist der Fremde von Natur aus der Feind.

Die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer bestimmten Gruppe ist in vielen Fällen offensichtlich. Doch in vielen eben auch nicht und zumal gibt es die Möglichkeit, dass man sich, wie in diesem Fall, fälschlicherweise als Angehöriger einer bestimmten Gruppe bezeichnet, obwohl man es in Wahrheit gar nicht ist. Das ist es, was der Sinn von Schibboleths ist:Ein Schibboleth wird dazu verwendet, um zu prüfen, ob jemand, der augenscheinlich einer bestimmten Gruppe angehört, zu dieser auch wirklich zählt.

Es lassen sich dabei mehrere Formen von Schibboleths unterscheiden. Es gibt zunächst einmal implizite Schibboleths, derer sich weder die Prüfenden noch die Geprüften bewusst sind, die jedoch im Alltag dennoch permanent abgefragt werden. Der Soziologe Pierre Bourdieu spricht etwa von einem System „kleiner Unterschiede“, das soziale Differenzen produziere und reproduziere: Der Angehörige der Oberschicht gibt sich etwa durch einen bestimmten Musikgeschmack zu erkennen oder eine gewisse Art sich zu bewegen. Ohne es uns bewusst zu sein, prüfen wir permanent Menschen anhand solcher subtiler Marker auf ihre Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen und werden umgekehrt geprüft. Im Vorstellungsgespräch mag sich etwa nichtderjenige Bewerber durchsetzen, der objektiv besser qualifiziert ist, sondern derjenige, der anhand seines Auftretens, seines zur Schau gestellten Geschmacks, seiner Art zu sprechen eine gewünschte Gruppenzugehörigkeit an den Tag legt – und das, ohne dass dies den Auswählenden bewusst sein muss. Bei ihnen bleibt einfach der Eindruck hängen „Oh, der ist aber sympathisch“, was soviel heißt wie „Das ist einer von uns“, während der abgelehnte Bewerber irgendwie „komisch“ oder „unangenehm“ wirkt, ohne dass man genau erklären könnte, warum.

Oft werden aber Gruppenzugehörigkeiten auch bewusst abgefragt, wie in dem Bibelvers. Der Prüfer weiß um subtile Marker, die den Geprüften als Fremden verraten und durch Fragen oder Beobachtung versucht er dem Geprüften das Geheimnis seiner wahren Identität zu entlocken. Dabei kann es um gewisse subtile Details gehen, wie in dem Beispiel einen bestimmten Akzent, oder die Einhaltung bestimmter Kleidungskonventionen.

Ein Fall von eigener Art ist die Abfrage eines bestimmten Losungsworts. Dabei ist es meist so, dass derjenige, der nicht zur Gruppe gehört, noch nicht einmal von der Existenz eines Losungsworts weiß und schon dadurch überrascht wird, dass eine Abfrage überhaupt stattfindet. In manchen Fällen offenbart er sich aber auch dadurch, dass er beispielsweise ein veraltetes Passwort gebraucht.

Schibboleths setzen gemeinhin voraus, dass der Geprüfte sie nicht kennt. Sobald er sie weiß, müssen neue Marker erfunden oder gefunden werden. Es gibt jedoch durchaus auch explizite Schibboleths, die ins Spiel kommen, wenn es nicht so sehr darum geht, das objektive Vorhandensein bestimmter Eigenschaften zu prüfen oder ein bestimmtes Wissen, sondern die Bereitschaft, sich einer bestimmten sozialen Ordnung zu unterwerfen oder nicht. Dass man zum Beispiel die Grußformel „Heil Hitler“ verwendete, war auch im „Dritten Reich“, jedenfalls meines Wissens nach, nie formell vorgeschrieben. Wer sie jedoch nicht gebrauchte oder leicht karikierte, machte sich schnell verdächtig, ein Feind zu sein und musste mit Sanktionen rechnen. Das wusste auch jeder. Es geht bei solchen Schibboleths zumal darum, diejenigen Teile der Bevölkerung, die den unterworfenen Teilen der Bevölkerung angehören, zu schikanieren, sie zu demütigen und sie zu demoralisieren, indem man sie permanent zu einem Bekenntnis zu einer Ordnung zwingt, die sie eigentlich ablehnen, und es ihnen zugleich verwehrt, diese Ablehnung kundzutun.

Schibboleths in all ihren Bedeutungsdimensionen können jedoch nicht nur ‚von oben‘ – von den Profiteuren und Bewahrern der herrschenden sozialen Ordnung – angewandt werden, sondern auch von den unterlegenen und ausgeschlossenen Gruppen. Man konnte beispielsweise im „Dritten Reich“ durch die bewusste Nichtverwendung der erwarteten Grußformel oder ihre inkorrekte Anwendung bewusst seine Nichtzustimmung zum bestehenden Regime demonstrieren. Durch die Nichtverwendung oder den bewusst falschen Gebrauch expliziter Schibboleths wird die bestehende Macht zu einer Reaktion herausgefordert. Duldet sie den Verstoß, kann dies als Schwäche aufgefasst werden – reagiert sie darauf mit unverhältnismäßiger Härte, kann das ihre Legimitationsbasis gefährden und Proteste auch sonst zufriedener Teile der Bevölkerung provozieren.

Diese Überlegung lässt eine andere Lesart der erwähnten Bibelstelle zu: Vielleicht hätten die Flüchtlinge das Wort „Schibboleth“ durchaus richtig aussprechen können, doch sie verweigerten sich dem ganz bewusst, um ihren Protest gegen die ihnen zu Teil werdende Behandlung auszudrücken. Dieser Protest hat zumindest die psychologische Wirkung, sich einen Rest von Würde zu bewahren, auch wenn man in einer ohnmächtigen Position ist.

Schibboleths – seien es von den Mächtigen übernommene oder eigene – können aber von den Unterdrückten auch verwendet werden, um die eigene Gruppenzugehörigkeit zu bestärken. Im „Dritten Reich“ konnte man etwa dadurch, dass man Menschen mit „Grüß Gott“ grüßte, anhand ihrer Reaktion prüfen, wer wie zum Regime stand und wen man unter Umständen darauf ansprechen konnte, ob er sich nicht an Aktionen des Widerstands beteiligen oder Juden verstecken möchte.

Wie man sich denken kann, ist diese subversive Verwendungsweise von Schibboleths natürlich zwiespältig: Aus beherrschten Gruppen können schnell herrschende werden und ein ursprünglich widerständiges Schibboleth schnell zu einem repressiven. Oft sind Schibboleths aber auch in sich zweideutig, je nach Perspektive: Einmal mag der Gruß „Grüß Gott“ für eine antifaschistische Gesinnung stehen, einmal für einen bornierten Konservativismus; der rote Stern gilt den einen als Symbol für den Kampf gegen Klassenherrschaft, den anderen als Zeichen eines abscheulichen totalitären Regimes.

Welcher Art ist nun das Schibboleth, von dem in Celans Gedicht die Rede ist? Offenbar handelt es sich hier um den zuletzt genannten Gebrauch: Der Ruf „Februar. No pasarán“ soll die Zugehörigkeit zum antifaschistischen Widerstand zum Ausdruck bringen. Wie in dem Gedicht selbst genannt, spielt Celan mit dieser Formel auf zwei historische Ereignisse an: Die Februarkämpfe in Österreich 1934, als die linken Kräfte einen letzten Versuch unternahmen, das Dollfuß-Regime zu stürzen, und den Wahlsieg der Volksfront in Spanien im Februar 1936, der den Grundstein für den kommenden Bürgerkrieg legte, in dem „No pasarán!“, „Sie werden nicht durchkommen!“, zum Schlachtruf der republikanischen Kräfte wurde.[3] Zu diesem Kampf soll man sich, selbst in einer aussichtlosen Lage, bekennen.

Es ist jedoch so, dass Celan mit diesem Schibboleth etwas Radikaleres im Sinn hat, als einfach das Bekenntnis zu einer bestimmten politischen Bewegung, das ja stets der erwähnten Zweideutigkeit unterläge. Das wird etwa deutlich, wenn man andere Gedichte betrachtet, in denen Celan diese Thematik lyrisch reflektiert.

In einem unbetitelten Gedicht aus dem Nachlass, das mit „Wir werden“ beginnt, heißt es etwa:

Es klettert die Bohne, die
weiße und die
hellrote – doch
denk auch an die Arbeiterfahne in Wien –
vor unserm Haus
in Moisville.

Das darf man wohl als Selbstermahnung lesen, auch in der Sicherheit des französischen Exils der Nachkriegszeit die Erinnerung an die „Arbeiterfahne“, ihrerseits ein Schibboleth, nicht zu vergessen; einerseits nicht das Trauma der Niederlage der antifaschistischen Kämpfe der 1930er Jahre, die die Schoah und den Weltkrieg ja hätten verhindern können – und die unter anderem deshalb scheiterten, weil sie von den „weißen“ und „hellroten“, also den bürgerlichen und gemäßigt-linken, Kräften nicht entschlossen genug unterstützt wurden –, andererseits aber auch den unabgegoltenen Traum, der mit all diesen Kämpfen ja auch verbunden war, die sich ja stets – und das war den Gemäßigten und Bürgerlichen immer ein Anstoß – nicht nur gegen den Faschismus wandten, sondern zugleich auch für eine gegen die kapitalistische Ordnung und den Faschismus gleichermaßen gerichtete Utopie stritten, die Utopie einer Gesellschaft, in der die Menschen nicht anders sortiert wären, sondern in der die Menschen gar nicht mehr in repressiver Weise sortiert würden in arm und reich, männlich und weiblich, weiß und schwarz etc.

Die ausgeführte Phänomenologie des Schibboleth wäre also um eine weitere Klasse von Schibboleths zu ergänzen, die nicht nur die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ausdrücken sollen, sondern die den Partikularismus grundsätzlich in Frage stellen. Man könnte von ‚radikalen‘ oder auch ‚utopischen‘ Schibboleths sprechen, aber auch von ‚Schibboleths gegen Schibboleths‘: Schibboleths, die sich ihrem semantischen Gehalt nach gegen das Prinzip der repressiven Sortierung der Menschen und damit auch gegen den Gebrauch von Schibboleths an sich richten.

Es ist klar, dass kein Schibboleth unzweideutig ist. Weder die „Arbeiterfahne in Wien“ noch der Ruf „No pasarán“ sind einfach unschuldige Symbole. Alle Schibboleths können ihrer Natur nach auch für partikularistische, dunkle und brutale Zwecke gebraucht werden. Man kann auch unterdrückerische Regimes unter dem Banner der Arbeiterfahne errichten oder sogar des Antifaschismus, sofern man diese Symbole nur von ihrem ursprünglichen utopischen Gehalt ablöst, von der Hoffnung, für die sie einst standen und die stets mehr war als eine bloß partikularistische Hoffnung auf die Verbesserung der eigenen Lebensbedingungen.

Eine Hoffnung, die Celan in einer Art ‚Schwestergedicht‘ zu Schibboleth besingt:

In Eins

Dreizehnter Feber. Im Herzmund
erwachtes Schibboleth. Mit dir,
Peuple
de Paris. No pasarán.

Schäfchen zur Linken: er, Abadias,
der Greis aus Huesca, kam mit den Hunden
über das Feld, im Exil
stand weiß eine Wolke
menschlichen Adels, er sprach
uns das Wort in die Hand, das wir brauchten, es war
Hirten-Spanisch, darin,

im Eislicht des Kreuzers „Aurora“:
die Bruderhand, winkend mit der
von den wortgroßen Augen
genommenen Binde – Petropolis, der
Unvergessenen Wanderstadt lag
auch dir toskanisch zu Herzen
Friede den Hütten!

Celan spielt hier einerseits auf ein ganz aktuelles Ereignis an: Am 13. Februar 1962 wurden in Paris acht Tote beerdigt, die wenige Tage zuvor von der Polizei erschossen worden waren bei einer Demonstration gegen die französische Algerienpolitik. Am Trauerzug nahmen bis zu einer Million Menschen teil. Celan solidarisiert sich in diesem Gedicht also ganz deutlich mit den Opfern des französischen Imperialismus und zugleich des repressiven Vorgehens des französischen Staats gegen die Proteste: Der antifaschistische Kampf ist für ihn keine Sache der Vergangenheit, sondern der Gegenwart.

Andererseits rückt er die Ereignisse des Februar 1962 in unterschiedliche größere Kontexte: Sein eigenes altes Gedicht wird ebenso zitiert wie das „Peuple de Paris“, mit dem die Aufrufe an die Bevölkerung während der Zeit der Pariser Kommune unterschrieben wurden, die russische Oktoberrevolution sowie Georg Büchners berühmte Parole, die wiederum ihrerseits auf eine Losung der Revolution von 1789 zurückgeht. Durch die Verwendung des österreichischen Ausdrucks „Feber“ statt „Februar“ spielt Celan hier erneut auf den österreichischen Aufstand von 1934 an, der vom 12. bis 15. Februar dauerte, sowie durch die Verwendung der Parole „No pasarán!“ auf den Spanischen Bürgerkrieg.

1789 – 1834 – 1871 – 1917 – 1934 – 1936 – 1962: Eine Kette, die den Titel des Gedichts nur allzu verständlich macht: Auch wenn die Kämpfe jeweils ganz unterschiedliche partikulare Anliegen verfolgten, galten sie letztlich doch einem Ziel, einem großen Traum, der Sache der universellen Befreiung der Menschen von Herrschaftsverhältnissen. „In eins“ kann somit auch heißen: Der Traum davon, dass die Menschen endlich ihre wirkliche Einheit erkennen und sich nicht mehr in diverse Kollektive absondern. Das unterstreicht nicht zuletzt der polyglotte Charakter des Textes, in dem verschiedenen Sprachen und Kulturen entnommene Fäden zu einem dichten Gewebe verflochten sind – so, als wollte Celan durch die formale Gestaltung des Gedichts die Utopie einer in Vielheit geeinten Menschheit sprachlich vorwegnehmen.

III. „Die Macht eines Wortes“: Liberté von Paul Éluard

Celan verwendet in diesen Gedichten wohl bewusst keine der üblichen Schlagworte, um diesen Traum inhaltlich zu bestimmen: Denn jede konkrete Bestimmung könnte schon ein Anhaltspunkt sein, ihn zu kompromittieren und zu einer leeren Floskel erstarren zu lassen. Stattdessen werden Namen wie derjenige der spanischen Provinz „Estremadura“ oder die Toskana aufgerufen, um der Utopie eine offene, darum zugleich aber radikalere Wendung zu geben. Auch die Vision eines versöhnten Verhältnisses von Mensch und Natur wird so beschworen und, ganz im Sinne des Texts beispielsweise des von Brecht verfassten und von Eisler vertonten Solidaritätslieds[4], als integraler Bestandteil des utopischen Horizonts des Kampfes der Arbeiterklasse verstanden.

Einen etwas anderen Weg ging Celans Zeitgenosse Paul Éluard, der Mitglied der Kommunistischen Partei war und aktiv in der Résistance. Interessant ist sein wohl berühmtestes Gedicht Liberté für die Zwecke dieses Texts aus Gründen, die gleich deutlich werden:

Liberté

Sur mes cahiers d’écolier
Sur mon pupitre et les arbres
Sur le sable sur la neige
J’écris ton nom

Sur toutes les pages lues
Sur toutes les pages blanches
Pierre sang papier ou cendre
J’écris ton nom

Sur les images dorées
Sur les armes des guerriers
Sur la couronne des rois
J’écris ton nom

Sur la jungle et le désert
Sur les nids sur les genêts
Sur l’écho de mon enfance
J’écris ton nom

Sur les merveilles des nuits
Sur le pain blanc des journées
Sur les saisons fiancées
J’écris ton nom

Sur tous mes chiffons d’azur
Sur l’étang soleil moisi
Sur le lac lune vivante
J’écris ton nom

Sur les champs sur l’horizon
Sur les ailes des oiseaux
Et sur le moulin des ombres
J’écris ton nom

Sur chaque bouffée d’aurore
Sur la mer sur les bateaux
Sur la montagne démente
J’écris ton nom

Sur la mousse des nuages
Sur les sueurs de l’orage
Sur la pluie épaisse et fade
J’écris ton nom

[…]

Sur l’absence sans désir
Sur la solitude nue
Sur les marches de la mort
J’écris ton nom

Sur la santé revenue
Sur le risque disparu
Sur l’espoir sans souvenir
J’écris ton nom

Et par le pouvoir d’un mot
Je recommence ma vie
Je suis né pour te connaître
Pour te nommer

Liberté.[5]

Dieses Gedicht wurde 1942 veröffentlicht, und das im besetzten Frankreich. Zugleich wurde es aber auch als Flugblatt der Résistance verwendet und in verschiedenen der Résistance nahestehenden Zeitschriften aller Strömungen abgedruckt. Flugzeuge der britischen Luftwaffe warfen es über ganz Frankreich ab. Seine Stärke gewinnt es daraus, dass es gerade nicht eindeutig politisch ist und vieldeutig. Der Begriff „Freiheit“ kann rein philosophisch genommen werden und wird von den verschiedensten politischen Bewegungen in den verschiedensten Bedeutungen verwandt.

Doch vor dem Hintergrund der politischen Lage von 1942, als es fast so scheinen konnte, als könnten die Achsenmächte den Krieg gewinnen, erhält das Gedicht natürlich eine sehr radikale Bedeutung. Das titelgebende „Liberté“ wird auch hier zum Schibboleth, zur Parole des Widerstandskampfs gegen Hitler, dem sich nun alles andere unterzuordnen habe. Der Gedanke der kommenden Freiheit, für die es nun kämpfen gälte, gibt dem lyrischen Ich die Kraft, eine vollkommen hoffnungslose Situation zu ertragen und sich in ihr die Fähigkeit zu leben und zu handeln zu bewahren. Sinn gewinnt das Leben in einer solchen Situation nicht aus sich selbst: Es ist die Sprache, es ist die am Ende des Gedichts benannte „pouvoir d’un mot“, die „Macht eines Wortes“, das ihm erst Sinn verleiht.

Der utopische Sinn der Freiheit wird am Ende des Gedichts ganz deutlich: Die Freiheit wird als etwas Künftiges, als etwas noch nie Dagewesenes bezeichnet. Von der „espoir sans souvenir“, „Hoffnung ohne Erinnerung“, ist die Rede – und diese ist, sofern sie von dem utopischen Ideal der konkreten universellen Freiheit beseelt wird, die einzig radikale, wahrhafte Hoffnung.[6] Es soll nicht einfach darum gehen, den Zustand vor der Besatzung wiederherzustellen: Es geht darum, für etwas zu streiten oder zumindest den Gedanken an etwas zu bewahren, das noch niemals erfahren wurde.

Auch hier haben wir es also wieder mit einem Schibboleth gegen Schibboleths zu tun, einer Parole gegen Parolen. Es genügt eben nicht, diese unglaubliche Vision ungesagt zu lassen: Aufgabe der Dichtung – und letztlich Aufgabe aller – ist es, dieser Vision einen Namen zu geben, selbst auf die Gefahr hin, dass der Vision damit ihre ursprüngliche Radikalität geraubt und sie von dunklen Kräften vereinnahmt wird. Denn erst durch das Benennen wird die Utopie in den Bereich des Menschlichen, die Sphäre des Denkens, des Sprechens und letztlich Handelns geholt. Erst um ein Schibboleth herum kann sich eine Gruppe konstituieren, die für diese Vision einsteht und die die Welt ein stückweit in Richtung Utopia bewegt.

Insofern ist dieser Text nicht zuletzt ein Plädoyer dafür – ähnlich wie Celans Gedichte –, überhaupt Schibboleths zu schaffen, den kühnsten Visionen der Menschen überhaupt Worte zu geben und sie damit in den Bereich des Menschlichen zu überführen. Der Titel von Celans Gedicht Schibboleth lässt sich somit auch so deuten, dass er sich auf das gesamte Gedicht bezieht, vielleicht sogar auf alle Gedichte, auf den Auftrag der Dichtung schlechthin: Namen für das Namenlose zu finden und in die Hoffnungslosigkeit des Lebens der Unterdrückten eine Perspektive auf etwas ganz Anderes einzuschreiben.

IV. Ein „Wir“ in Freiheit: Celans lyrische Antwort

Paul Celan kannte das Gedicht seines Namensvetters und verfasste einen lyrischen Nachruf auf ihn, der im Zyklus Von Schwelle zu Schwelle dem Text Schibboleth unmittelbar vorangestellt wird:

In Memoriam Paul Éluard

Lege dem Toten die Worte ins Grab,
die er sprach, um zu leben.
Bette sein Haupt zwischen sie,
laß ihn fühlen
die Zungen der Sehnsucht,
die Zangen.

Leg auf die Lider des Toten das Wort,
das er jenem verweigert,
der du zu ihm sagte,
das Wort,
an dem das Blut seines Herzens vorbeisprang,
als eine Hand, so nackt wie die seine,
jenen, der du zu ihm sagte,
in die Bäume der Zukunft knüpfte.

Leg ihm dies Wort auf die Lider:
vielleicht
tritt in sein Aug, das noch blau ist,
eine zweite, fremdere Bläue,
und jener, der du zu ihm sagte,
träumt mit ihm: Wir.

Die inhaltlichen und formalen Anspielungen auf Liberté sollten offensichtlich sein. Auch hier begegnet uns wieder der schon in In Eins anklingende Gedanke, dass das Endziel der radikalen Bemühungen die Herstellung eines „Wir“, der Einheit aller Menschen in Vielheit sein müsse. Ein „Wir“, dessen Macht nicht nur über die Trennungen zwischen den Menschen, sondern letztlich sogar über den Tod triumphiert: Durch die Sprache kommt etwas in die Welt, was nicht von dieser Welt ist, was selbst die dem Menschen feindlichste Macht bezwingt. Zwar schafft die Vielheit der Sprachen – eine uralte Erfahrung, die etwa in der biblischen Erzählung vom Turmbau zu Babel festgehalten ist, aber eben auch in der Geschichte vom Schibboleth – erst die Trennungen zwischen den Menschen und festigt sie; doch es ist zugleich auch allein die Macht der Sprache, die eine Überwindung dieser Trennungen ermöglicht.

Wir sehen es in Vorträgen wie diesen: Wir können über die Sprache vermittelt über die Werke längst toter Dichter sprechen, ja sogar Texte, die vor Jahrtausenden verfasst wurden und mit ihnen in eine Art posthumen Dialog treten. Der Traum vom Wir, die Sehnsucht nach einer Aufhebung der falschen Trennungen zwischen den Menschen ist mindestens so alt wie die Sprache selbst, er ist vielleicht in der dekontextualisierenden Macht der Sprache, zumal der geschriebenen, selbst schon enthalten, und zeigt sich in stets neuer Gestalt, neuen Masken, neuen Schibboleths, unter neuen Namen. Die Aufgabe der Sprechenden, zumal der Dichter wäre es, für diesen Traum immer neue Namen zu finden und ihn der Gegentendenz – der Rekontextualisierung, der Instrumentalisierung des Traums für partikularistische Zwecke – zu entreißen.[7]

V. Das Problem des Schibboleth heute

Es ist klar, dass das Problem des Schibboleth uns heute nicht verlassen hat. Vielleicht hat die Entwicklung des Internets dazu geführt, dass das Feld der Schibboleths mannigfaltiger und komplexer geworden ist als jemals zuvor. Wir sind einerseits sensibler dafür geworden, was traditionelle repressive Schibboleths angeht – doch zugleich werden die an ihre Stelle tretenden neuen Codes politischer Korrektheit nicht nur von reaktionär eingestellten Menschen nicht, was sie oft ihrem Anspruch nach ursprünglich waren, als irgendwie utopisch wahrgenommen, sondern selbst als repressiv. Politische und ökonomische Eliten eignen sich zumal oft Schibboleths mit ursprünglich utopischem Sinn an, um sich ihrer geradezu vampirhaft zu bedienen, um die eigenen Machtinteressen zu verschleiern, Wählerstimmen zu gewinnen oder ihr Produkt besser zu verkaufen.

Man könnte fast meinen, dass Problem der heutigen Zeit sei nicht so sehr die Existenz von zu wenigen, sondern von zu vielen Schibboleths, die an die Stelle expliziter politischer Aussagen und expliziter Verhaltensregeln treten. Man könnte geradezu von einer Schibbolethisierung der Gesellschaft sprechen, in der jede Geste, jedes Bild, jedes Wort neben der unmittelbaren Bedeutung noch eine Reihe zusätzlicher erhält, die denjenigen, die sie verwenden, oftmals nicht einmal klar sind. Es ist zu einer eigenen Kunst geworden, die jeweils gängigen Schibboleths und ihre Bedeutung zu kennen und den richtigen sozialen Differenzierungen zuzuordnen – oder auch dem jeweiligen Gegner eine Intention zu unterstellen, die er gar nicht beabsichtigte, indem man ihn der scheinbaren Verwendung bestimmter Schibboleths überführt.[8]

Um das auf die konkreten Schibboleths zu beziehen, die Celan und Éluard in ihren Gedichten gebrauchen, kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass auch sie in hohem Maße zweideutig geworden sind. Die Zeitung Neues Deutschland druckte immerhin eine Übersetzung von Éluards Gedicht 2012 zum Internationalen Aktionstag zur Abschaffung der Sklaverei.[9] Dies offenbart die Schlagkraft seiner Verse auch jenseits ihres konkreten Entstehungskontexts: Sie können ebenso als Anklage der Sklaverei wie auch des Faschismus verstanden werden. Doch man könnte sich genauso gut vorstellen, dass sie für eine Werbekampagne oder gar eine ganz partikularistische politische Agenda missbraucht werden. Ähnlich verhält es sich mit Celans „Wir“. Die anderen von Celan angeführten Schibboleths mögen sich der Vereinnahmung eher entziehen, weil sie auf konkretere Kontexte verweisen, die sich nicht so leicht kommerzialisieren oder im falschen Sinne politisieren lassen, die aber zugleich auch hoffnungslos veraltet scheinen: Wer möchte sich ernsthaft noch in der von ihnen beschworenen Geschichte der linken Bewegung verorten, auch wenn sich beispielsweise Büchners Parole noch leicht auf diverse aktuelle politische Kontexte beziehen ließe? Celan deutet auf diese Problematik durch seine Formulierung von der Erinnerung, die ihre „Fahne auf Halbmast“ setzen soll, hin: Sollte dies die rote Fahne sein, dann lässt sie sich nach dem traumatischen Versagen der revolutionären Kämpfe – gemessen an ihren eigenen Ansprüchen, gemessen an ihrer Unfähigkeit, die Schoah zu verhindern – nach 1945 nicht mehr in naiver, ungebrochener oder gar triumphalistischer Weise hissen. Die Fahne der revolutionären Erinnerung muss für immer auf Halbmast bleiben, sie wird die Vergangenheit niemals ungeschehen machen können. Und doch wäre es ebenso schändlich, sie überhaupt nicht mehr wehen zu lassen und sich zu dieser Vergangenheit überhaupt nicht mehr zu bekennen.

Was von Celans und Éluards Texten also auf jeden Fall bleibt, ist die sich in ihnen ausdrückende Melancholie. Die „Fremde der Heimat“, das ist etwas, was viele von uns oft spüren dürften. Die Sprache und die in ihr enthaltenen Hoffnungsgehalte können uns eine, wenn auch ungenügende, zweite Heimat bieten. Wir leben zwischen jener Erinnerung, die ihre Fahne auf Halbmast setzt angesichts der noch immer unverheilten Wunden der Vergangenheit, von der Celan spricht, und der „Hoffnung ohne Erinnerung“ Éluards, die auf die „Bäume der Zukunft“ verweist, die wir uns kaum vorzustellen vermögen. Die Macht der Literatur mag darin liegen, als Mittler zwischen beiden Polen zu fungieren, um uns am Heute nicht verzweifeln zu lassen.

© Paul Stephan


[1] Das posthum im Band Schneepart veröffentlichte Gedicht, das mit „Du liegst“ anhebt.
[2] Richter 12,5; revidierte Luther-Bibel v. 2017.
[3] Zur Geschichte des Rufs „No pasarán!“ vgl. diesen sehr interessanten Dokumentationsfilm. Hervorzuheben ist hier, dass es sich ursprünglich um einen von den reaktionären Kräften verwendeten Slogan handelte, der dann von der kommunistischen Politikerin Dolores Ibárruri in einer Rede aufgegriffen und entsprechend umgedeutet wurde. Das ist ein gutes Beispiel für das Spiel wechselseitiger Aneignungen, dem derartige Schibboleths oft unterliegen.
[4] Vgl. die zweite Strophe des Liedes, in der die Rede davon aus, dass die Erde „die große Nährerin“ werden solle.
[5] https://www.poetica.fr/poeme-279/liberte-paul-eluard/ (letzter Abruf: 05.03.2021). Für eine deutsche Übersetzung des Gedichts vgl. Fn. 9.
[6] Vgl. hierzu Blochs in Das Prinzip Hoffnung (Frankfurt a. M. 1976) entfalteter Hoffnungsbegriff. Freilich gibt es bei ihm auch die Idee einer „utopischen Erinnerung“ (S. 1296) – doch echte Hoffnung, wie sie in jenen utopischen Erinnerungen festgehalten wird, deren Archiv das Werk ja gerade sein möchte, ist bei ihm geradezu das Gegenteil von Hoffnung (vgl. S. 11), ist „Anti-Wiedererinnerung“ (S. 234): „Die Humanisierung der Natur hat kein Elternhaus am Anfang, dem sie entlaufen ist, zu dem sie, mit einer Art von Ahnenkult in der Philosophie, wieder zurückkehrt.“ (Ebd.) – Bloch hat zweifellos Recht: Von Hoffnungen kann selbst im Alltag nur dann gesprochen werden, wenn sie sich auf etwas beziehen, das so nie erfahren wurde, das den gewohnten Gang der Dinge sprengt. Ich kann erwarten, dass der Bus nach Fahrplan kommt – ich kann hoffen, dass er heute ausnahmsweise nicht kommt, um eine Ausrede zu haben, zu einem unangenehmen Termin nicht erscheinen zu müssen. Selbst wenn dieses unwahrscheinliche Ereignis schon einmal eingetroffen sein sollte, bin ich nicht darin gerechtfertigt, seine Wiederholung zu erwarten.
[7] Wie weit Celan in seinem Glauben an die vereinigende Macht der Sprache ging, beweist nicht zuletzt sein oft behandelter Austausch mit dem NSDAP-Mitglied Martin Heidegger.
[8] Diesen Aspekt der repressiven und trennenden Wirkung auch von utopisch gemeinten bzw. ursprünglich subversiven Schibboleths übersehen leider linksliberale Schibboleth-Kritiker wie Carolin Emcke, die unter Schibboleths allein rechte Stereotype fasst (vgl. Gegen den Hass. Frankfurt a. M. 2016, S. 109–117). Sie unterläuft damit insbesondere das von Derrida, auf den sie sich an zentraler Stelle beruft, vorgegebene Reflexionsniveau.
[9] https://www.neues-deutschland.de/artikel/806014.freiheit.html (letzter Abruf: 05.02.2021).

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