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InDepth – longread: Gewalt, Macht und Leben

Veröffentlicht am 19. August 2019

Entstehung, Entwicklung und Entsetzung der Gewalt bei Giorgio Agamben

Antonio Lucci

  1. Einführung

Giorgio Agambens Reflexionen zur Gewaltthematik durchziehen dessen gesamtes Werk:[1] Er widmete sich der Thematik, wenngleich kaum systematisch oder programmatisch, so doch kontinuierlich und dauerhaft, während seiner gesamten Schaffenszeit mit entsprechenden Analysen. Betrachtet man die a-systematische Ausrichtung der Herangehensweise Agam­bens,[2] so könnte man behaupten, dass gerade dieses Fehlen einer Programmatik der Untersu­chungen zur Gewalt sein stetiges Interesse bekundet: Anstatt dieser Forschungsmaterie le­diglich eine eigens für sie angelegte, erschöpfende Studie zu widmen, behandelt Agamben sie über eine sehr große Zeitspanne hinweg immer wieder, jedoch ohne sie zu einem abschlie­ßenden Punkt geführt zu haben.[3]

Dem Thema der Gewalt ist einer der ersten theoretischen Aufsätze des gerade achtundzwan­zigjährigen Agamben mit dem Titel Sui limiti della violenza [Über die Grenzen der Gewalt]gewidmet,[4] veröffentlicht 1970 in Nuovi Argomenti, das heißt im selben Jahr, in dem auch seine erste Monographie, L’uomo senza contenuto, erscheinen wird.[5] Innerhalb von Agambens Gesamtwerk erfährt die Gewaltthematik jedoch, wie bereits angedeutet, sehr unterschiedliche Definitionen, welche zu einer polyvalenten und vielseitigen Perspektive beitragen: die begründende Gewalt und die sakrale Gewalt, die rechtssetzende Gewalt und die revolutionäre Gewalt[6] sind nur einige der markantesten Spielarten eines wiederkehrenden Motivs. Im Zuge der vorliegenden Studie werde ich besonders zwei Spielarten des Agambenschen Gewaltkonzeptes aufarbeiten: Erstere stammt aus dem oben zitierten Jugendaufsatz, die zweite aus Stato di eccezione[7]. Zunächst will ich hierzu in einem close reading von Sui limiti della violenza besser zu verstehen versuchen, inwiefern der Begriff der Gewalt für Agamben primär mit revolutionärer Gewalt gleichbedeutend ist.

Ausgehend von der sich aus dem close reading ergebenden Analyse des Textes von 1970 wird anschließend Agambens Interpretation zu Walter Benjamins Zur Kritik der Gewalt[8] untersucht. Dabei wird mit Hilfe des deutsch-jüdischen Denkers der Versuch unternommen, zu skizzieren, wie, warum und aus welchem theoretischen Movens heraus das Gewaltkonzept bei Agamben gedacht wird und welche interpretatorischen Ausrichtungen und hermeneutischen Ziele sich aus dem kritischen Dialog zum Gewaltkonzept zwischen Agamben und Benjamin (auch mittels Carl Schmitt) entwickeln.

Drittens werde ich ausgehend von der jüngsten Untersuchung des Lebenskonzeptes in Agambens Werk (2016-17) aufzeigen, wie eine bestimmte Vorstellung vom Leben gemäß eines Lebensform-Syntagmas bei Agamben in Untersuchungen zur Gewalt mündet.

  • Sui limiti della violenza – Über die Grenzen der Gewalt

Der junge Agamben der Sui limiti della violenza – ein Text, den der römische Autor der Politischen Theoretikerin Hannah Arendt zukommen ließ[9], die diesen ihrerseits mit einer Erwähnung in Macht und Gewalt[10] würdigte – setzt sich bereits in den ersten Abschnitten seines Textes mit der Notwendigkeit einer „Neubetrachtung des Problems der Grenzen und der Bedeutung der Gewalt“[11] auseinander. Im ersten Teil des Aufsatzes erarbeitet Agamben ideengeschichtlich, der Arendtschen Herangehensweise folgend, wie das politische Hauptroblem der westlichen Welt ex negativo mit demjenigen der Gewalt zusammenfällt: Gerade diese – hier durch Agamben zugleich mit dem Begriff „forza“[12] beschrieben – galt es für die Politik mittels der Rede- und Überzeugungskunst zu vermeiden. Die Frage nach der Gewalt innerhalb der und durch die Sprache, so Agamben, (der hier die Benjaminschen Untersuchungen in Zur Kritik der Gewalt[13] beinahe wörtlich übernimmt), war der antiken griechischen Denkweise fremd, welche den Akt des Lügens nicht als ‚gewalttätig‘ begriff. Während jedoch gemäß der Benjaminschen-Agambenschen Lesart bei den alten Griechen der alleinige Verbleib innerhalb des geltenden Sprachrahmens noch als Garant für gewaltfreies Handeln galt, seien die politischen Erfahrungen der Moderne (und insbesondere der Totalitarismen) gerade durch eine Verbindung zwischen Lüge, sprachlicher und politischer Gewalt[14] unwiderruflich gekennzeichnet. Diese Beobachtungen zur Wirkung der Sprache auf den Körper und zum zutiefst gewalttätigen Kern, an dem es zu einer Verbindung zwischen Sprache, Lüge, Propaganda, Poesie und Pornografie kommt, führen Agamben zu Überlegungen über die Grenzen der griechischen Auffassung von Politik als Sprachakte, welche als solche vom Reich der Gewalt abgetrennt bleiben sollte.

Nach einer Auseinandersetzung mit den Aporien der Verbindung zwischen Sprache und Gewalt in der zeitgenössischen politischen Praxis beginnt sich Agamben der pars destruens seiner Darlegungen zu nähern: Seine – ganz und gar Benjaminsche – Kritik richtet sich gegen die Gewalt als Zweck, und sei es der Zweck des revolutionären Aktes. Für Agamben besteht das Problem der philosophischen Auslegungen der Gewalt – ob nun marxistisch oder aber vor allem nazi-faschistisch ausgerichtet – in der Suche nach einer extrinsischen Recht­ferti­gung für sie: „die Gewalttheorie in eine weitläufigere Theorie der Mittel zu einem höheren Zweck einzufügen, welche sich als einziges Kriterium der Gerechtigkeit dieser Mittel selbst setzt“[15]. Es geht Agamben hier darum, eine „Theorie der revolutionären Gewalt“ [16] zu ent­wickeln, welche sich einer teleologischen Gewaltvorstellung entzieht, das heißt der Vorstel­lung, dass die ultima ratio, die Rechtfertigung der Gewalt in der Begründung eines Macht­ver­hältnisses (und handele es sich dabei auch um eine alternative Macht, wie sie die Revolution einführen will) bestehe.

Agambens Strategie zur theoretischen Etablierung einer solchen Gewaltform ist, so könnte man sagen, kulturhistorischer Natur: eine Untersuchung der Beziehung zwischen der Gewalt und dem Sakralen.

Die „sakrale Gewalt“[17], von der Agamben spricht, ist die kosmologisch-kosmogonische Ge­walt der Völker als sogenannte „Schöpfer der Geschichte“[18], welche mittels des Opfers und der rituellen Gewalt die kosmischen Kräfte reaktivierten und die Welt am Leben erhielten. Agambens Betrachtungen zufolge hätten diese Völker mit der sakralen Gewalt das Vorbild für die revolutionäre Gewalt begründet. Ihre Gemeinsamkeit bestehe in einer destruktiven Rolle der Gewalt gegenüber einer vorhergehenden Ordnung und in ihrer gleichzeitig begründenden Funktion, welche sie bei der Schöpfung einer von der vorherigen verschiedenen – durch sie erst in Trümmer gelegten –, ‚anderen‘ Welt einnehme[19]. Die sakrale Gewalt ist für Agamben eine solche, da sie Leben und Tod, Schaffen und Zerstörung einander annähert und damit die Frage nach dem Subjekt der Gewalt selbst stellt: Das Subjekt der Gewalt ist selbst auch der Gewalt unterworfen; und für Agamben stellt Dionysos die paradigmatische Bezugsfigur dar, welche sowohl die destruktive als auch die autodestruktive Seite der Gewalt verkörpert.

Wir gelangen nun zur pars construens und beinahe zum Abschluss der Untersuchung dieses Textes. Aus der direkten Verbindung der soeben wiedergegebenen Ausführungen Agambens zur sakralen Gewalt mit den nur wenig später durchgeführten Untersuchungen zur revolutionären Gewalt geht deutlich hervor, dass sich letztere für ihn nur als eben solche darstellen kann, wenn man ihr dieselben Voraussetzungen wie der ersteren zu Grunde legt, das heißt eine rigorose ‚Immanenz der Zwecke‘:

Nicht die Gewalt, welche einfach nur ein Mittel zum gerechten Zweck der Verneinung des bestehenden Systems darstellt, sondern die Gewalt, welche durch die Verneinung des Anderen ihre eigene Selbstnegierung erfährt und durch den Tod des Anderen ihren eigenen Tod zu Bewusstsein bringt, ist die revolutionäre Gewalt. […] So wie die sakrale Gewalt zunächst ganz Passion ist im etymologischen Sinne des Wortes, Selbstnegierung und Selbstaufopferung.[20]

So wie die sakrale Gewalt ihren eigenen Zweck bereits enthält und sie sich mittels der Möglichkeit zur absoluten Auto-Negation selbst rechtfertigt, kann die revolutionäre Gewalt ihre Rechtfertigung nur in Abwesenheit einer externen Teleologie finden und in der Möglichkeit, sich – tout court im Sinne einer Gewalt gegen eine etablierte Macht – der eigenen Selbstzerstörung aussetzen zu können.

Diese Selbstzerstörung ist hier als ganz konkrete Möglichkeit des Todes zu verstehen. Genau diesem Thema sind dann auch tatsächlich die letzten Abschnitte von Agambens Text gewidmet.

Für Agamben werden die Grenzen einer Böswilligkeit, welche die Rechtfertigung der Gewalt in den Rahmen einer wie auch immer gearteten Teleologie setzt, durch die ‚authentische‘ revolutionäre Gewalt erreicht und überschritten; das heißt durch jene Gewalt, welche das Subjekt der Gefahr des Todes aussetzt. Diese Gewalt rührt auch an den Grenzen der Sprache und des Ausdrückbaren.[21] Agamben beschreibt sie auf eine beinahe verdächtig emphatische Weise mit anspielungsreichen und fast poetisch zu bezeichnenden Worten – mit denen aber auch die Grenzen der Kohärenz seiner Darlegungen erreicht zu werden scheinen:

Durch eben diese Erfahrung ihrer eigenen Negation, ist die revolutionäre Gewalt das arrethon par excellence, das Unsagbare, welches die Möglichkeiten der Sprache stets übersteigt und sich jeglicher Rechtfertigung entzieht. Doch gerade weil man sich bezüglich der revolutionären Gewalt jenseits des Sprachlichen bewegt und sich also als der Worte nicht mächtig betrachtet, kann der Mensch zur Sphäre des Ursprünglichen vordringen, wo die Erkenntnis des in der Form der Kultur geronnenen Mysteriums zerbricht und sich ein Neubeginn für sein Handeln und Wort eröffnet. So wie am Beginn der Geschichte vom Heil und der Aussöhnung mit dem Tod immer das „am Anfang war das Wort“ steht, so wird man am Beginn einer jeden neuen Zeitgeschichte stets lesen: „Am Anfang war die Gewalt“.

Das sind die Grenzen und auch die unumstößliche Wahrheit der revolutionären Gewalt. In dem sie die Schwelle der Kultur überschreitet und sich auf dieser Weise in einen der Sprache nicht zugänglichen Bereich zurückzieht, versinkt sie sozusagen im Absoluten […].[22]

Diese Argumentation, welche die Gewalt mittels des Todes dem Absoluten (hier im Hegelschen Sinne) annähert, scheint, obwohl theoretisch explizit auf Marx, Benjamin, Sorel und Hegel bezogen, doch Carl Schmitts Idee des „Politischen“ gefährlich nahe zu sein, so wie dieser ihr 1932 in Der Begriff des Politischen[23] Ausdruck verliehen hat:

Der Krieg, die Todesbereitschaft kämpfender Menschen, die physische Tötung von andern Menschen, die auf der Seite des Feindes stehen, alles das hat keinen normativen, sondern nur einen existenziellen Sinn, und zwar in der Realität einer Situation des wirklichen Kampfes gegen einen wirklichen Feind […]. […] Wenn eine solche physische Vernichtung menschlichen Lebens nicht aus der seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer ebenso seinsmäßigen Verneinung dieser Form geschieht, so läßt sie sich eben nicht rechtfertigen.[24]

Setzte man, nur als Gedankenexperiment, am Anfang von Schmitts Zitat den Begriff ‚revolutionäre Gewalt‘ anstelle von ‚Krieg‘, so wird deutlich, wie sehr das Gespenst vom Kronjuristen des Dritten Reiches in diesen Anmerkungen Agambens noch umgeht.

Der unterschwellige Einfluss, den Schmitts Werk auf Agambens Überlegungen zur Gewalt hatte, zeigt sich in Band II.1 des Homo Sacer-Projektes, Stato d’eccezione[25] [Ausnahme­zustand] besonders deutlich.

Daher werde ich mich nun einer kritischen Analyse des Dreiecks Agamben-Schmitt-Benjamin bezüglich der Gewaltthematik widmen, jedoch erst im Anschluss an einige Vorüberlegungen, um zunächst das Terrain abzustecken, innerhalb dessen sich Agambens Untersuchungen zum Bezug Benjamin-Schmitt – welche später in Stato di eccezione ihren differenziertesten Ausdruck finden werden – abspielen.

  • Zur (Kritik der) Gewalt: Benjamin – Schmitt – Agamben

In einer sehr persönlichen Anmerkung in seiner Autobiographie Autoritratto nello studio [Selbstportrait im Arbeitszimmer] erklärt Agamben äußerst offen: „[…] Benjamin ist der einzige Autor, dessen Werk ich im Rahmen meiner Fähigkeiten und ohne Vorbehalt fortsetzen wollte“[26]. Am deutlichsten tritt dieser Wunsch, Benjamins Werk fortzusetzen, wahrscheinlich bezüglich des Gewaltbegriffes und Benjamins Aufsatz Zur Kritik der Gewalt zutage. Wenn man, wie es zum Beispiel Adam Kotsko[27] und Leland de Durantaye[28] sowie jüngst (wenngleich eher zurückhaltend) auch Brendan Moran und Carlo Salzani[29] versucht haben, den ersten Band des Homo Sacer-Projektes durchaus als Kommentar und Fortsetzung zu Benjamins Aufsatz über die Gewalt lesen würde, so fällt Agambens direkte Auseinandersetzung mit dem, was Benjamin geschrieben hat, tatsächlich doch eher rar aus. Im Il linguaggio e la morte[30] [Die Sprache und der Tod] – Ergebnis der Aufarbeitung eines aus mehreren Beiträgen bestehenden Seminars, gehalten zwischen 1979 und 1980,[31] und dem Problem der Sprache und der Negativität zwischen Hegel und Heidegger gewidmet – findet sich am Ende des Textes zum ersten Mal der Ausdruck des „nackte[n] […] Leben[s]“[32], den Agamben eben jenem Text Benjamins zum Thema der Gewalt entlehnt, ohne ihn jedoch direkt zu zitieren. Dass Agamben diesen Ausdruck aber in direkter Fortsetzung zu den Reflexionen von 1970 und im Dialog mit Benjamin denkt, wird anhand dreier Elemente deutlich: Bei ersterem handelt es sich um den Versuch, das ‚Absolute‘ im Hegelschen Sinn mit einer Interpretation des Opfermysteriums kurzzuschließen. Wie bereits festgestellt, schloss der Aufsatz von 1970 mit dieser Überlegung, die ein weiteres Mal in den Schlussbemerkungen zum hier besprochenen Seminar auftaucht.[33]Zweitens übernimmt Agamben auf genau diesen Seiten beinahe wörtlich eine Formulierung, die er bereits in Sui limiti della violenza verwendet hatte:

Durch eben diese Erfahrung ihrer eigenen Negation, ist die revolutionäre Gewalt das arrethon par excellence, das Unsagbare, welches die Möglichkeiten der Sprache stets übersteigt und sich jeglicher Rechtfertigung entzieht.[34]

Dieser Wortlaut erscheint wie eine direkte Wiederaufnahme desjenigen von der letzten Seite aus Il linguaggio e la morte:

Die Grundlosigkeit jeder menschlichen Praxis verbirgt sich hier im Sich-selbst-überlassen-Sein einer Handlung (eines sacrum facere), in der jedoch jede zulässige Handlung begründet ist: Obgleich jedem menschlichen Handeln und Sprechen unsagbar (ἄρρητον [arrēthon]) und unüberlieferbar, ist es das, was den Menschen in die Gemeinschaft und die Überlieferung schickt.[35]

Drittens scheint offensichtlich, dass es sich bei dem Gebrauch des Begriffes der ‚Opferge­walt‘ um einen Versuch seitens Agambens handelt, sich in einen direkten Dialog mit den Benjaminschen Konzepten der „mythische[n] Gewalt“ und der „göttliche[n] Gewalt“[36] zu begeben; ein Versuch, welcher gerade durch die Präsenz der Wendung vom ‚nackten Le­ben‘ signalisiert wird, derselben, die Benjamin im Zusammenhang mit der mythischen und göttlichen Gewalt verwendet. Das wirklich Interessante, das im Zuge der vergleichenden Analyse von Agambens Text von 1970 und der circa zehn Jahre später erschienenen Schrift zutage tritt, ist, dass sich im Laufe der gedanklichen Entwicklung des Philosophen das Thema der sakralen Gewalt von demjenigen der revolutionären Gewalt löst und isoliert zurückbleibt, sozusagen als ‚unsagbares‘ Fundament des menschlichen Handelns. Diese Grundhaltung nimmt sich Agamben am Ende des Buches vor zu überwinden:

[…] Das dem Menschen Eignende, ist kein Unsagbares, kein Heiliges, das in jedem Tun und Sprechen des Menschen ungesagt bleiben muß. Ebensowenig ist es ein Nichts, dessen Nichtigkeit die Willkürlichkeit und Gewalt des menschlichen Handelns begründen würde. Es ist vielmehr die sich selbst durchschauende soziale Praxis, das sich selbst durchsichtig gewordene Wort des Menschen.[37]

Es scheint demnach so, als verlege Agamben nach und nach den Schwerpunkt fort von der Art der untersuchten Gewalt (revolutionär, sakral, rechtsetzend, rechterhaltend) hin zu der Wirkung, die eine jede dieser Gewaltarten bei der Herausbildung des Subjektes ausübt; es vollzieht sich sozusagen ein Übergang von der sakralen Gewalt zum sacer, ja sogar zum homo sacer, der so, immer noch auf jenen letzten, thematisch dichten Seiten[38] des Seminars, zum ersten Mal Erwähnung findet. Dass sich Agambens Aufmerksamkeit zur Thematik der Gewalt schrittweise von einer Untersuchung ihrer ‚Qualität‘ (Form, Anwendung, Erschei­nungsbild) hin zu deren Auswirkungen auf die Herausbildungen der Subjektivität verlagert, wird offensichtlich, untersucht man die beiden klassischen loci, an denen sich Agamben direkt mit Benjamin und seiner Kritik der Gewalt auseinandersetzt, das heißt in Homo Sacer und Stato di eccezione.

An der ersten der drei Stellen[39] in Homo Sacer, an denen explizit auf Zur Kritik der Gewalt Bezug genommen wird, kommt es umgehend zu einer Diskussion der zuvor bereits erwähnten Verbindung zwischen Benjamin und Schmitt, und diese wird auch explizit mit den Konzepten der Schuld und des Charakters in Verbindung gebracht. Bezüglich einer Definition dieser beiden Eigenschaften des Menschen ist es Agambens Analyse zufolge Benjamin, der sich, anders als Schmitt, als Verteidiger des Menschen gegenüber der (All)Macht der Institutionen profiliert, verkörpert durch die durch Schmitt ins Feld geführte „souveräne Macht“[40]: „Denn Benjamin geht es gerade darum, […] den Menschen von der Schuld zu befreien. […] Dagegen steht im Mittelpunkt von Schmitts Einforderung des rechtlichen Charakters und der zentralen Bedeutung der Schuld nicht die Freiheit des ethischen Menschen. […] Eine analoge Konvergenz liegt bezüglich des Charakters vor.“[41]

An der zweiten Stelle allerdings[42] fehlt die Beziehung zwischen Menschen und Gewalt, inso­fern als Agamben Benjamin nutzt, um den Unterschied (und die „zweideutige“ Verbindung[43]) zwischen rechtsetzender und rechterhaltender Gewalt zu klären. Benjamins Ausdruck er­scheint hier eher kontextuell, ohne direkte hermeneutische Absicht. Ein solcher direkter her­meneutischer Bezug tritt dann jedoch deutlich an der ersten Soglia[44] des Agambenschen Tex­tes hervor,[45] der als kritische Weiterentwicklung und Vertiefung der oben erwähnten Einlas­sung Benjamins wirkt. Agamben nimmt hier sozusagen die Dichotomie zwischen rechtsetzen­der und rechterhaltender Gewalt wieder auf und arbeitet heraus, wie Benjamin eine doppelte konzeptuelle Verlagerung vollzieht, um eine Untersuchung dieses Begriffspaares durchführen zu können. Die erste Verschiebung geschieht mittels der Einführung des dritten Begriffs der „göttlichen Gewalt“[46], den Agamben sogleich mit der „souveränen Ge­walt“ parallel setzt, und zwar als Gegengewicht zur ‚mythischen‘ Kraft des Rechts. Die zweite Verschiebung vollzieht sich dann anhand einer Bindung der göttlichen Gewalt an einen „Träger“[47], ein ‚philosophischer Charakter‘ (welcher später zum Protagonisten par excellence in Agambens Werk werden wird[48]), das heißt dem „bloßen Leben“[49]. Meines Erachtens ist diese doppelte Verlagerung für Agamben entscheidend, da sie seinen Versuch der Fortsetzung des Benjaminschen Werkes am besten widerspiegelt. Agamben wird nämlich sein Jugendthema der revolutionären Gewalt, aber auch der sakralen Gewalt, aufgeben zugunsten einer Konzentration auf das Subjekt, d. h. auf den „Träger“ jener Gewalt (den homo sacer), welcher in den zwanzig Jahren von 1995 bis 2015 anhand einer umfangreichen Palette historischer und theoretischer Blickwinkel genauestens untersucht wurde. Die Gewalt als Hervorbringerin der sacertas und des homo sacer gerät damit immer mehr in den Hintergrund und verliert sodann die Rolle des Hauptakteurs in den philosophischen Analysen Agambens.

Womöglich verdankt Agamben in seinem Versuch der Erstellung einer Genealogie der Subjekte der sacertas viel jenem Michel Foucault, welcher neben Benjamin bereits in der Einleitung – programmatisch – als für seine Untersuchung orientierungsstiftender Fixstern zitiert wird:[50]

Und nur eine Reflexion, die ausgehend von [Michel] Foucaults und Walter Benjamins Ansätzen die Beziehung zwischen nacktem Leben und Politik thematisch befragt – eine Beziehung, die im geheimen auch die scheinbar am weitesten entfernten Ideologien regiert –, wird das Politische aus seiner Verborgenheit heraus- und das Denken zu seiner praktischen Aufgabe zurückzuführen.[51]

Das zentrale Kapitel des zweiten Bandes des Homo Sacer-Projektes, Stato di eccezione, Homo Sacer II.1,ist mit Gigantomachie rund um eine Leere[52] überschrieben. Das gesamte Kapitel ist einer Aufarbeitung des ‚Ferndialoges‘ zwischen Benjamin und Schmitt zur Souveränitätsthematik gewidmet. Es besteht in einer dichten Lektüre einiger Benjaminscher Schriften, die dem italienischen Philosophen zufolge Carl Schmitt, zwar kaum auf explizite Weise, so doch radikal beeinflusst haben. Nach Agamben sei gerade „Schmitts Theorie der Souveränität als Antwort auf Benjamins Kritik der Gewalt zu lesen“[53], und insbesondere als Antwort auf die Idee einer revolutionären Gewalt, die weder auf die rechtsetzende Gewalt noch auf diejenige Gewaltform, welche das Recht bewahrt, zurückführbar ist. Agambens Argumentation basiert auf einem Abschnitt beinahe am Ende von Benjamins Text, in dem der Berliner Autor den Ausdruck „Entsetzung des Rechts“[54] in Anschlag bringt. Agamben übersetzt das deutsche Substantiv ‚Entsetzung‘ verbalisierend mit dem italienischen „deporre“[55]. Wenngleich diese Übersetzung an sich nicht falsch ist, so ist sie doch mit philosophischen Konnotationen äußerst stark befrachtet. Stimmiger wäre der Gebrauch von ‚absetzen‘, um den Begriff der ‚deposizione‘, wie Agamben ihn vorschlagen will, adäquat zu beschreiben, während Benjamins „Entsetzung“, vom Verb ‚entsetzen‘, ursprünglich aus dem Militärjargon stammt und den Akt der Befreiung einer Stadt von einer Belagerung meint. Noch interessanter ist in diesem Zusammenhang die primäre Bedeutung des Verbes ‚entsetzen‘, welche auf einen Moment der Abscheu, des Grauens verweist, welcher dann in einem übertragenen Sinn zu einer Distanzierung von der eigenen Ausgangsposition führt.[56] Die Vorstellung von einer Gewalt, welche weder über Recht verfügt noch dieses schützt, sondern dieses vielmehr ‚entsetzt‘, hat ein präzises hermeneutisches Ziel seitens Agambens: Benjamin und Schmitt gegeneinander auszuspielen, ersteren als denjenigen darzustellen, der die (messianische) Möglichkeit einer Gewalt erkannt hat, welche die Ordnung des Rechts aufheben könnte – gegen letzteren als Fahnenträger der konstituierenden Gewalt. Meiner Ansicht nach ist Benjamins Vorstellung eher mit einer ‚Befreiung‘ des Gesetzes aus einem vorhergehenden Zustand des Zwangs verbunden (wie das Bild der Befreiung von einer Belagerung zu suggerieren scheint), um es für einen späteren Zeitpunkt verfügbar zu halten, und weniger mit dessen Abschaffung verknüpft: eine Befreiung, welche eine Neuverortung und ein Neudenken, jedoch keine Kenotisierung (zumindest nicht notwendigerweise) des Rechtes ermöglichen könnte. Dieser Abschnitt liefert meiner Meinung nach das philosophische Moment in Benjamin, welches Agamben nutzt, um seinen eigenen theoretischen Standpunkt vorzutragen: Dieser betrifft eben genau dessen Untersuchungen zur Gewalt. Über die – eher wenig ergiebige – Frage nach der getreuen Nachfolge der Agambenschen Hermeneutik in Orientierung an Benjamins Text und Intentionen hinaus wird aus den letzten beiden Abschnitten des Kapitels aus Stato di eccezione,welchehier analysiert werden, deutlich, dass für Agamben der entscheidende Punkt für eine Argumentation gegen Schmitt in der Möglichkeit der Existenz eines vom Gesetz unabhängigen menschlichen Handelns besteht: „[…] die reine Gewalt – diesen Namen gibt Benjamin der menschlichen Handlung, die weder Recht setzt noch bewahrt –“[57]. Benjamins Vorstellung von einer ‚reinen Gewalt‘ wird also von Agamben eingesetzt, um einen Handlungsraum zu beschreiben, welcher sich den engen Maschen des Gesetzes entziehen könnte. Die Idee der Gewalt verliert hier beinahe ihre destruktive Kraft, um Synonym für das ‚Handeln‘ zu werden, ein rein menschliches Handeln. Nochmals ausdrücklich bekräftigt wird diese Vorstellung in Absatz 4.7 des hier untersuchten Kapitels, das Agamben der Hermeneutik des Reinheits-Konzeptes bei Benjamin[58] widmet: Dieser Absatz erfüllt eine grundlegende Funktion, denn er markiert den Übergang von der Untersuchung der Gewalt zur Analyse des Zustandes, der auf sie folgt, aus einer anti-Schmittschen Sicht. Die Frage, die Agamben sich stellt, ist diejenige nach dem Zustand, welchen eine Gewalt, wie er sie bei Benjamin gefunden hat, herstellen würde, unter der Annahme, dass sie eingetreten wäre. Handelt es sich bei der ‚reinen‘, revolutionären Gewalt tatsächlich um eine Gewalt, welche nicht Recht setzt (nicht einmal ein Neues, Alternatives), und auch nicht um eine Art Polizeigewalt, welche das Recht erhält, so stellt sich die Frage, welches dann ihr effektives Ziel ist. Wem wäre die Welt nach einer solchen Gewalt ähnlich? Agamben hebt korrekterweise hervor, dass ähnliche Probleme bereits im gedanklichen Zentrum zweier anderer Denkweisen standen: derjenigen der christlichen Autoren, wenn sie die Welt nach der Erlösung beschreiben, und derjenigen der kommunistischen Theoretiker, wenn sie über die Welt nach der Revolution reflektieren. Agamben evoziert dazu ein narratives Motiv, dasjenige eines „Recht[es], das nicht mehr praktiziert und nur studiert wird“[59], wie es in Kafkas Kurzerzählung Der neue Advokat Verwendung findet. Der italienische Philosoph verdeutlicht auch anhand seiner Wortwahl,[60] in welchem starken Ausmaß es problematisch ist, einen Weltzustand zu denken, innerhalb dessen eine Gewalt, die das vorherige Recht (auch im Zuge einer Revolution) abgesetzt hätte, sich nicht automatisch zu einer einen anderen Rechtszustand schaffenden Gewalt wandelte: wie höchst problematisch es also sei, dem Schmittschen Paradigma zu entkommen.

Am Ende des Kapitels versucht Agamben, eine deutliche Position gegen jenes Paradigma zu beziehen: Er scheint hier auf relativ eindeutige (und man muss sagen beinahe ‚überraschende‘) Weise zu einer Beschreibung dessen zu gelangen, was ein Gesetz sein könnte, welches „gilt, ohne angewandt zu werden“[61]:

Dieses Gesetz – oder besser, diese Gesetzeskraft – ist Benjamin zufolge nicht mehr Gesetz, sondern Leben, ein Leben, das im Roman Kafkas gelebt wird „im Dorf am Fuße des Schloßbergs“. Das Eigentümliche bei Kafka ist nicht, dass er, wie Scholem behauptet, ein Gesetz aufrechterhält, das keine Bedeutung mehr hat, sondern gezeigt zu haben, dass es Gesetz zu sein aufhört und in jedem Punkt vom Leben ununterschieden wird.[62]

Agamben ruft die Kategorie des ‚Lebens‘ auf, welche für sein Denksystem im Laufe der Zeit immer zentraler werden wird,[63] um einen Zustand zu beschreiben, in dem es keinerlei menschliches Handeln mehr gibt, das irgendetwas stiften wollte, müsste oder könnte. Das Leben, welches wir leben, das unmittelbar, unreflektiert gelebte Leben, wird zu einer Art Verkörperung eines Gesetzes, welches keine von oben herab angewendete externe Praxis mehr wäre, sondern ein konstitutiver Teil des Subjektes.

Es ist meiner Ansicht nach kein Zufall, dass die Beschreibung eines vollkommen post-rechtlichen Zustandes, innerhalb dessen sich die revolutionäre Gewalt ohne etwas hervorzubringen selbst erschöpfen würde und einem von den Mechanismen der Macht befreiten Leben Raum gäbe, dem Kommentar eines Schriftstellers wie Kafka überlassen wird.

Es scheint hier beinahe so, als erkenne Agamben, wie unmöglich es ist, mit den argumentativen Instrumenten der Rechtsphilosophie nicht einer Aporie anheimzufallen, versucht man, eine völlige Aufhebung der Gewalt durch sich selbst zu denken, ein menschliches Handeln, welches sich autopoietisch selbst erschöpfte, ohne irgendetwas zurückzulassen. Die Einführung dieses erzählerischen Mittels – begleitet vom auf den letzten Seiten des untersuchten Kapitels immer präsenten theologischen Dispositiv des Messianismus – sowie die Verwendung der begrifflichen Kategorie des Lebens, welche sich einer eindeutigen Definition entzieht[64], deuten meiner Ansicht nach darauf hin, dass gerade Agambens Argumentationsstrategie sich einer erschöpfenden Auseinandersetzung mit Schmitt auf dessen eigenem Terrain verweigert. Die ‚Lösung‘ (wenn man in einem solchen Fall überhaupt von einer Lösung sprechen kann) für die Gewaltproblematik wird von Agamben auf ein neues Terrain verlagert, einen anderen Ort als denjenigen, an dem sowohl Schmitt, als auch Benjamin und Agamben selbst ihre Auseinandersetzung begonnen hatten. Weder die politische Philosophie noch das Recht besitzen die notwendigen Beschreibungsmodi, um eine Welt darzustellen, in der die engen Maschen der ontologisch-juridischen Maschinerie[65] deaktiviert werden.

Der modus des philosophischen Argumentierens selbst scheint unzureichend: Deshalb wird Kafka zitiert, deshalb wird auf Passagen bei Benjamin verwiesen, in denen der messianische Ton letztendlich eine immer größere Rolle spielt. Das Leben kann und darf nicht analysiert, seziert werden, es kann bloß in seinem Gelebt-Sein, seiner Form dargelegt werden. Nicht zufällig ist es die begriffliche Figur der ‚Lebensform‘, welche die Bühne des Agambenschen Schaffens der letzten Jahre so völlig ausfüllt.

Der ‚Lebensform‘ ist der abschließende Teil der vorliegenden Überlegungen gewidmet.

  • Lebensformen: Die Aufhebung der Gewalt

Mit der Veröffentlichung von L’uso dei corpi [Der Gebrauch der Körper] schließt Agamben 2014 sein Projekt Homo Sacer nach zwanzigjähriger Arbeit ab. Doch er blieb weiterhin äußerst produktiv: mindestens sechs veröffentlichte Bücher, unter denen eine Autobiographie in Bildern, das bereits erwähnte Autoritratto nello studio. Kurz zuvor erschienen zwei Studien, die scheinbar völlig getrennt stehen vom bisherigen Denken des Autors: eine untersucht die Freskenzyklen von Tiepolo (von Vater und Sohn), die im Zentrum Pulcinella, die berühmte neapolitanische Maske der Commedia dell’arte [66], abbilden. Die andere Studie befasst sich mit dem Verschwinden des italienischen Physikers Majorana.[67] Um den philosophischen Wert des Agambenschen Schaffens nach Beendigung des Homo Sacer-Projektes zu verstehen, und nicht nur dessen Kontinuität gegenüber dem gesamten vorangegangenen Werk des Philosophen zu begreifen, sondern ebenfalls gegenüber den Untersuchungen zur Gewalt, muss man diese drei letzten Arbeiten als drei unterschiedliche Herangehensweisen innerhalb eines einzigen begrifflichen Horizontes lesen, in dessen Mittelpunkt das Konzept der ‚Lebensform‘ steht. Agamben widmet dieser Thematik tatsächlich – wie bereits am Ende des letzten Absatzes angedeutet wurde – kontinuierliche Überlegungen, welche sein gesamtes Werk durchziehen, sich jedoch in den letzten Jahren intensivieren, bis sie sich zur tragenden Säule des vierten Teils des Homo Sacer-Projektes entwickeln. Dort erscheint, sowohl in Altissima Povertà [Höchste Armut, ein Buch über die Franziskanermönche] als auch in L’uso dei corpi, stets die Lebensform als ‚philosophische Protagonistin<in>‘[68]. Die Lebensform ist „[d]ieses Sein, das nur seine nackte Existenz ist, […] [ein] Leben, das seine Form ist und untrennbar von ihr bleibt“[69]. Sie ist der philosophische Punkt, mit dem Agamben sein großes Rekonstruktions- (und Dekonstruktions-)Projekt der abendländischen ontologisch-juridisch-(bio)politischen Maschine abschließt, indem er ihm den dritten, abschließenden Teil von L’uso dei corpi widmet. Und wie er dort schreibt, „[n]ur indem man ein Leben lebt, kann sich eine Lebensform im Sinne einer immanenten Untätigkeit eines jeglichen Lebens herausbilden“[70].

Agamben benutzt, wie wir bereits am Ende des vierten Kapitels von Stato di eccezione gesehen haben, den Lebensbegriff und insbesondere den Begriff vom gelebten Leben als deskriptives Konzept, um einen Weltzustand zu beschreiben, innerhalb dessen die revolutionäre Gewalt die vorherige politische Ordnung umgewälzt hat, ohne jedoch eine neue zu erschaffen oder einzurichten: eine Welt, in der sich das Gesetz zurückgezogen hat, ohne ein neues (ge-)setzt zu haben. Auf der allerletzten Seite des Kapitels[71] bezieht sich Agamben erneut auf die Kafkaschen ‚Figuren‘ und auf die Gründe, weshalb „sie [die Figuren] für uns interessant“[72] sind: Jene müssten uns nämlich interessieren, da jede von ihnen auf ihre Weise eine Ausschaltung des Gesetzes herbeiführe, eine alternative Lebensweise ‚nach‘ dem Ausnahmezustand.

Ich glaube, dass Agambens theoretischer Antrieb nach Abschluss des Homo Sacer-Projektes an dieser Stelle dem in Bezug auf Kafka Erwähnten gleicht. Agamben beschreibt die mittels der karnevalesken Maske des Pulcinella auf die Bühne gebrachte menschliche Komödie, das Rätsel um das Verschwinden des italienischen Physikers Ettore Majorana im Jahre 1938 und – zu guter Letzt – sein eigenes Leben und seine philosophische Erfahrung als Figuren, als Teil einer Galerie exemplarischer ‚Figuren‘, von ‚Lebensformen‘, welche einen alternativen Weg und ein alternatives Leben repräsentieren gegenüber demjenigen, der innerhalb der Kategorien und engen Maschen der Mechanismen von Recht, Politik und Ökonomie handelt. Das Agambensche Projekt einer Reihe von ‚Porträts‘ der exemplarischen Lebensformen durchzieht parallel das gesamte politische Schaffen des Philosophen und fungiert hier beinahe als Gegenstimme: Bartleby[73], die „beliebige Subjektivität“[74], die Franziskanermönche aus Altissima povertà agieren noch vor Pulcinella und Majorana als Protagonisten einer der Geschichte der Ontologie, der Macht und der Politik entgegenzusetzenden ‚Gegengeschichte‘ der Lebensformen. Sie alle verkörpern verschiedene Spielarten des Dorflebens um Kafkas Schloß herum als Allegorie unserer Welt.

Die Lebensform, die Galerie exemplarischer Lebensformen, wie Agamben sie vorschlägt, bedeutet eine doppelte Lösung für das philosophische Problem, welches den Autor von Beginn seines philosophischen Projektes an beschäftigte: Die Lebensform ist einerseits eine Art der Überwindung der Dualismen, welche die abendländische Politik und Ontologie umtrieben, verheerten und bis zur Erschöpfung beschäftigten, ein Weg, das Hin und Her zwischen den gegensätzlichen Polen des Bios/Zoe, der Politik/Ökonomie, der Herrschaft/Regierung aufzuheben, indem die Lebensform eine einzige, nicht gespaltene, unmittelbare Existenz jenseits jeglicher Form der Gewalt darstellt:

Es wird jedoch darum gehen, eben jenes zweipolige Dispositiv des bios/zoe in Frage zu stellen und zu neutralisieren, um nicht so sehr dem verbindenden Glied zwischen ihnen, sondern eher dem sie trennenden auf den Grund zu gehen. Man wird sich nämlich fragen müssen, auf welche Art und anhand welcher Vorgehensweisen die Trennung zwischen bios und zoe ablaufen könnte und auf welche Art und anhand welcher Vorgehensweisen sie wieder neutralisiert werden kann. Die Lebensform, das menschliche Leben an sich, sind jene, welche, indem sie das Schaffen und die spezifischen Funktionen des Lebendigen stilllegen, diese sozusagen leerlaufen lassen und sie als Möglichkeiten öffnen.[75]

Andererseits korrespondiert die Galerie der Lebensformen auf stilistischer Ebene mit der thematischen Verlagerung, wie sie in Stato di eccezione untersucht wurde, als Agamben Kafka als Schlichter des philosophischen Disputes zwischen Schmitt und Benjamin aufrief. Agamben verbindet die theoretische Idee der Lebensform mit der stilistischen Vorstellung eines Philosophierens, das das Systematische und selbst das ‚theoretische‘ Moment hinter sich ließe, um ein anderes Genre zu werden: Autobiographie, Hagiographie (die Schrift über Majorana), Musik und Malerei (über Pulcinella).[76] Diese immer weiter fortschreitende Distanzierung – oder vielleicht einfach nur Veränderung des Blickwinkels – gegenüber der konzeptuellen Herangehensweise findet ihren Ausdruck in einigen autobiographischen Anmerkungen Agambens zur Malerei in seinem Autoritratto nello studio: Hier drückt der Autor seine „Liebe zur Malerei“ [77] aus, welche „immer ein wesentlicher Teil meines Lebens war und es auch immer mehr sein wird“[78]. Diese Liebe zur Malerei kann man eventuell als Schlüssel zur jüngsten theoretischen Schaffensperiode Agambens auffassen, die in Richtung des Porträtierens exemplarischer Lebensformen geht, so wie ich sie gerade behandelt habe.

Diese philosophische pointe wird sowohl am Anfang als auch am Schluss des Buches explizit gesetzt: Der Text setzt nämlich (und nicht zufällig, wie jetzt nach den oben durchgeführten Analysen offensichtlich sein dürfte) mit dem Ausdruck „Eine Lebensform“[79] ein und endet[80] mit dem Bild vom Gras: eine vegetative Lebensform, die Agamben (entgegen Aristoteles) auf nüchterne Weise zu lieben erklärt, bis hin zur grundlegendsten Identifikation im Sinne der spinozischen naturierenden Natur.

Dieses völlig Zur-Natur-, Zum-vegetativen-Leben-Werden birgt wahrscheinlich Agambens endgültige Lösung des Gewaltproblems: „Durch das Gras und im Gras und wie das Gras habe ich gelebt und werde ich leben“[81].

© Antonio Lucci

Dr. Antonio Lucci ist Fellow am FIPH Hannover und Gastprofessor für „Wissens- und Kulturgeschichte“ am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine aktuellen Forschungsbereiche sind die Biopolitik sowie die Kulturtheorie und -philosophie. Zu seinen letzten Publikationen: Askese als Beruf. Die sonderbare Kulturgeschichte der Schmuckeremiten (Wien 2019) und (Hg. mit T. Skowronek) Potential regieren. Zur Genealogie des möglichen Menschen (Padeborn 2018).


[1] Dieses Thema wurde von den Kommentatoren, die sich mit der Gewaltthematik bei Agamben auseinander­ge­setzt haben, ausgiebig studiert. Da ich an dieser Stelle keine erschöpfende Bibliographie zur Gewaltthematik bei Agamben anführe, beschränke ich mich auf einige der wichtigsten Arbeiten zum Bezug zwischen Agamben und Benjamin hinsichtlich der Gewaltthematik, welcher auch den Schwerpunkt dieses Beitrages ausmachen wird: B. Moran/ C. Salzani (Hrsg.): Toward the Critic of Violence. Walter Benjamin and Giorgio Agamben, London: Bloomsbury 2015 (vgl. insbesondere S. 109-239); R. Sinnerbrink: Violence, Deconstruction, and Sovereignty: Derrida and Agamben on Benjamin’s “Critique of Violence”, in: A. Benjamin/ C. Rice (Hrsg.): Walter Benjamin and the Architecture of Modernity, Melbourne: re.press 2009, S. 77-91; B. Morgan: Undoing Legal Violence: Walter Benjamin’s and Giorgio Agamben’s Aesthetics of Pure Means, in: Journal of Law and Society 34.1 (2007), S. 46-64; A. Haverkamp: Anagrammatics of violence: the Benjaminian Ground of Homo Sacer, in: A. Norris (Hrsg.): Politics, Metaphysics, and Death: Essays on Giorgio Agamben’s Homo Sacer, Duhram, NC: Duke University Press 2004, S. 135-144; A. Deuber-Mankowsky: Homo sacer, das bloße Leben und das Lager. Anmerkungen zu einem erneuten Versuch einer Kritik der Gewalt, in: Die Philosophin. Forum für feministische Theorie und Philosophie 25 (2002), S. 95-114.
[2] Siehe hier paradigmatisch die Vorbemerkungen Agambens zu Beginn des letzten Bandes der Reihe Homo Sacer, in denen das Projekt, welches ihn zwanzig Jahre lang begleitet hatte, ausdrücklich für beendet erklärt wird: „[…] Ein gedankliches oder poetisches Werk kann nicht abgeschlossen, sondern nur aufgegeben (und vielleicht von anderen fortgeführt) werden.“ („Ogni opera di poesia e di pensiero, non può essere conclusa, ma solo abbandonata (e, eventualmente, continuata da altri.“). Vgl. G. Agamben: L’uso dei corpi. Homo Sacer IV.2, Vicenza: Neri Pozza 2014, S. 9. Ich werde die Werke von Giorgio Agamben in der deutschen Übersetzung zitieren. Falls keine dokumentierte Übersetzung vorhanden ist, wird diese vom Verfasser selbst bereitgestellt.
[3] Vgl. insbesondere die Überlegungen in G. Agamben: Stasis. La guerra civile come paradigma politico, Homo Sacer II.2, Turin: Bollati Boringhieri 2015, dt. Übers. v. M. Hack, Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, Frankfurt am Main: Fischer 2016. Die Tatsache, dass dieser Band Teil des Homo Sacer-Projektes ist, jedoch erst nach dessen erklärter Beendigung erschienen ist (er wurde nach L’uso dei corpi, a.a.O., Teil IV.2, dem eigentlich abschließenden Band, veröffentlicht), ist ein Beweis dafür, dass sich Agamben bis in die jüngste Zeit hinein kontinuierlich mit dem Thema der Gewalt beschäftigt hat. Dies zeigt sich auch in den abschließenden Seiten von L’uso dei corpi (S. 339-341), in denen Agamben die Bedeutung von Benjamins Aufsatz Zur Kritik der Gewalt für das gesamte Projekt von Homo Sacer noch einmal hervorhebt. Für diesen Hinweis sei an dieser Stelle Carlo Salzani herzlich gedankt.
[4] G. Agamben: Sui limiti della violenza, in: Nuovi Argomenti 17 (1970), S. 159-173. Dieser Jugendaufsatz ist einer der wenigen Fälle, in denen sich der italienische Philosoph direkt, explizit und programmatisch mit der Gewaltthematik auseinandersetzt.
[5] G. Agamben: L’uomo senza contenuto, Macerata: Rizzoli 1970, dt. Übers. v. A. Schütz, Der Mensch ohne Inhalt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012.
[6] Da ich hier keine vollständige Liste aller Definitionen des Gewaltkonzeptes in Agambens Werk bereitstellen kann, beschränke ich mich auf die Anmerkung, dass die wichtigsten Bedeutungen des Konzeptes im Keim bereits in den jugendlichen Überlegungen angelegt sind, welche hier untersucht werden.
[7] G. Agamben: Stato di eccezione, Homo Sacer II.1, Turin: Bollati Boringhieri 32012 (2003). Dt. Übers. v. U. Müller-Schöll, Ausnahmezustand, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.
[8] Vgl. W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Band II.1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 179-202.
[9] Vgl. Brief von Giorgio Agamben an Hannah Arendt vom 21. Februar 1970 in The Hannah Arendt Collection at the Library of Congress (Correspondence, General, 1938–1976, “Ab-Am” miscellaneous 1965–1975. Document no. 004722). Das Dokument wurde vor Kurzem im Anhang der englischen Übersetzung von Agambens Sui limiti della violenza veröffentlicht: vgl. G. Agamben: On the Limits of Violence, engl. Übers. von E. Fay, in: diacritics, 39.4 (2009), S. 103–111. Der Brief befindet sich auf S. 111.
[10] Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, dt. Übers. herausgegeben von G. Uellenberg, München/ Zürich: Piper 1970, Fußnote 44a, S. 35.
[11] Vgl. G. Agamben: Sui limiti della violenza, a.a.O., S. 159. („Rimeditazione del problema dei limiti e del significato della violenza“).
[12] Ebd.; ein vieldeutiger Begriff, der u.a. mit Kraft, Macht, aber auch Gewalt ins Deutsche übertragen werden kann.
[13] Vgl. W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, a.a.O., S. 191.
[14] Dieser Punkt wird Agamben immer wieder beschäftigen. Dem Eid als besondere Ausprägung dieser Verbindung wird er Band II.3 des Homo Sacer-Projektes widmen: Vgl. G. Agamben: Il sacramento del linguaggio. Archeologia del giuramento, Homo Sacer II.3, Rom-Bari: Laterza 2008. Dt. Übers. v. S. Günthner, Das Sakrament der Sprache. Eine Archäologie des Eides, Homo Sacer II.3, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2010. Vgl. hier insbesondere die Definition des Eidbruches als „indoeuropäische Plage“ (S. 13).
[15] G. Agamben, Sui limiti della violenza, a.a.O., S. 166. Für den vollständigen Argumentationsverlauf vgl. S. 163-166. („Inquadrare la teoria della violenza in una più ampia teoria dei mezzi rispetto a un fine superiore che si pone come unico criterio della giustizia dei mezzi stessi“).
[16] Ebd., S. 168. („Teoria della violenza rivoluzionaria“).
[17] Ebd. („Violenza sacra“).
[18] Ebd. („Creatori di storia“).
[19] An dieser Stelle scheint es Agamben an Kohärenz bei der religionshistorischen Analyse zu fehlen: Die genannten Völker – „Babylonier, Ägypter, Hebräer, Iraner, Römer“ („Babilonesi, egizi, ebrei, iraniani, romani“ vgl. ebd., S. 168) – waren Agrargesellschaften, deren Riten größtenteils Übergangsriten waren (Geburt, Tod, Wiedergeburt, Aussaat, Ernte, etc.) und nicht Riten der Zerstörung (und Neuerschaffung). Das Opfer war in diesem Zusammenhang eher eine Art, den Kosmos am Leben zu erhalten, als ein Weg, ihn zu zerstören und wieder zu erschaffen. Zur auf der Wiederholung basierenden Struktur des Rituals vgl. z.B. T. Macho, Das zeremonielle Tier. Feste – Rituale – Zeiten zwischen den Zeiten, Graz: Styria 2004, insbesondere S. 47-74.
[20] G. Agamben, Sui limiti della violenza, a.a.O., S. 170. („Non la violenza che è semplicemente mezzo al fine giusto della negazione del sistema esistente, ma la violenza che nella negazione dell’altro fa l’esperienza della propria autonegazione e nella morte dell’altro porta alla coscienza la propria morte, è la violenza rivoluzionaria. […] Come la violenza sacra è innanzi tutto passione, nel senso etimologico della parola, autonegazione e sacrificio di sé“).
[21] Vgl. Ebd., S. 172-173.
[22] Ebd. („In quanto è questa esperienza della propria negazione, la violenza rivoluzionaria è infatti l’arrethon per eccellenza, l’indicibile che eternamente scavalca le possibilità del linguaggio e elude ogni giustificazione. Ma proprio in quanto, nella violenza rivoluzionaria, è al di là del linguaggio e si nega quindi come essere dotato di parola, l’uomo può attingere alla sfera originale in cui la conoscenza del mistero che ha trovato forma nella cultura si spezza e un nuovo inizio diventa possibile alla sua azione e alla sua parola. Se all’inizio della storia della salute e della conciliazione con la morte starà sempre scritto: ‘in principio era il verbo’, all’inizio di ogni nuova storia temporale si leggerà sempre: ‘All’inizio era la violenza’. Questo è il limite e, insieme, l’insopprimibile verità della violenza rivoluzionaria. In quanto supera la soglia della cultura e si tiene, nel suo gesto, in una zona inaccessibile al linguaggio, essa affonda, per così dire, nell’Assoluto […].“).
[23] Vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien von Carl Schmitt, Berlin: Dunker&Humblot 1979 (1963) (Unveränderter Nachdruck der 1963 erschienenen Auflage).
[24] Ebd., S. 50-51.
[25] G. Agamben: Ausnahmezustand, a.a.O.
[26] G. Agamben: Autoritratto nello studio, Rom: Nottetempo 2017, S. 103. („[…] Benjamin è il solo autore la cui opera ho voluto, nella misura delle mie forze ma senza riserve, continuare“).
[27] Vgl. A. Kotsko: On Agamben’s use of Benjamin’sCritique of Violence“, in: Telos 145 (Winter 2008), S. 119-129. Hier: S. 120.
[28] Vgl. L. De la Durantaye: Giorgio Agamben: A Critical Introduction, Stanford CA: Stanford University Press 2011, S. 354.
[29] Vgl. B. Moran/ C. Salzani: Introduction: On the Actuality of “Critique of Violence”, in: B. Moran/ C. Salzani (Hrsg.): Toward the Critic of Violence. Walter Benjamin and Giorgio Agamben, a.a.O., S. 1-15. Hier vgl. besonders S. 5-7.
[30] Vgl. G. Agamben, Il linguaggio e la morte. Un seminario sul luogo della negatività, Turin: Einaudi 32008 (1982). Dt. Übers. v. A. Hiepko, Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.
[31] Vgl. ebd., Vorbemerkung des Autors (ohne Seitenangabe).
[32] Vgl. ebd., S. 172.
[33] Vgl. ebd., S. 169-172.
[34] G. Agamben, Sui limiti della violenza, a.a.O., S. 172.
[35] Vgl. G. Agamben, Die Sprache und der Tod, a.a.O., S. 170.
[36] Vgl. W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, a.a.O., S. 197. Dazu siehe auch die sehr genaue Analyse in J. C. McQuillan: Agamben’s Critique of Sacrifical Violence, in: B. Moran/ C. Salzani (Hrsg.): Toward the Critic of Violence. Walter Benjamin and Giorgio Agamben, a.a.O., S. 125-137, insbesondere S. 133-135.
[37] Vgl. G. Agamben, Die Sprache und der Tod, a.a.O., S. 172.
[38] Vgl. ebd., 170.
[39] Vgl. G. Agamben, Homo Sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Turin: Einaudi 22005 (1995). Dt. Übers. v. H. Thüring, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 38, 51, 74-78.
[40] Ebd., S. 38.
[41] Vgl. ebd.
[42] Vgl. ebd., S. 51.
[43] Vgl. ebd.
[44] Agamben nennt „Soglie“ (Schwellen) Zwischenbemerkungen, die als Übergänge zwischen den Kapiteln seiner Bücher gelten.
[45] Vgl. G. Agamben, Homo Sacer, a.a.O, S. 74-78.
[46] Angemerkt sei, dass Agamben die Identifikation des dichotomischen Paares rechtsetzende/rechterhaltende Gewalt und mythische Gewalt als gegeben voraussetzt (vgl. S. 74). Erstere werden unter der mythischen Gewalt zusammengefasst und der göttlichen Gewalt entgegengesetzt, welche wiederum in eine (Ähnlichkeits-, aber nicht Übereinstimmungs-)Beziehung mit der souveränen Gewalt gesetzt wird (vgl. S. 75). Tatsächlich scheint diese erste Identifikation nicht selbstverständlich zu sein – es stellt sich meines Erachtens vielmehr die Frage nach einer möglichen Parallelisierung der dichotomischen Paare rechtsetzende Gewalt/rechterhaltende Gewalt und mystische Gewalt/göttliche Gewalt.
[47] Vgl. ebd., S. 76.
[48] Vgl. die programmatische Ankündigung auf S. 18: „Der Protagonist dieses Buches ist das nackte Leben, das heißt das Leben des homo sacer, der getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf […]“.
[49] Hier setzt Agamben den italienischen Ausdruck „nuda vita“ und das deutsche „bloß<e> [sic] Leben“ (vgl. S. 76) direkt nebeneinander. Dies ist nicht der Ort, um sich über die Übertragung des Begriffs „nuda vita“ in das deutsche „nackte Leben“ durch Agambens ersten deutschen Übersetzer, Hubert Thüring, zu äußern. Ich verweise lediglich auf Thürings eigene Anmerkungen zur Übersetzung selbst (Vgl. Anmerkung zur Übersetzung und Zitierweise, in: G. Agamben: Homo Sacer. Die Souveranität der Macht und das nackte Leben, a.a.O., S. 199-200. Hier vgl. S. 199) und auf den ausschlaggebenden Aufsatz von Carlo Salzani zu diesem Thema: vgl. C. Salzani: From Benjamin’s bloßes Leben to Agamben’s Nuda Vita: A Genealogy, in: B. Moran/ C. Salzani (Hrsg.): Toward the Critic of Violence. Walter Benjamin and Giorgio Agamben, a.a. O., S. 109-124.
[50] In diesem Zusammenhang darf nicht unterschätzt werden, dass Foucault in Verbindung zur Schrift Les techniques du soi (1988) zitiert wird (vgl. M. Foucault: „Technologien des Selbst“, in: L. H. Martin/ H. Gutman / P. H. Hutton (Hrsg.), Technologien des Selbst, Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 24-62), welche als summa der Ende der 70er-Jahre begonnenen und bis zu seinem Tod fortgeführten Analysen zur Konstitution der Subjektivität gelten kann. Zu dieser Phase des Foucaultschen Denkens vgl. A. Lucci: Gouvernementalität und Askese. Individuelle und kollektive Selbsttechniken bei Michel Foucault zwischen Machtapparaten und antagonistischen Lebensformen, in: A. Lucci/ T. Skowronek: Potential regieren. Zur Genealogie des möglichen Menschen, Paderborn: Fink 2018, S. 201-217.
[51] G. Agamben, Homo Sacer, a.a.O., S. 14. Foucault, zusammen mit Benjamin, Arendt und Schmitt ist der meistzitierte Autor des gesamten Bandes.
[52] Vgl. G. Agamben: Ausnahmezustand, a.a.O., S. 64-77.
[53] Ebd., S. 65.
[54] W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, a.a.O., S. 202.
[55] G. Agamben, Stato di eccezione, a.a.O., S. 70. Ich zitiere in diesem Fall aus der italienischen Ausgabe, da ich mich direkt auf eine Übersetzungsfrage beziehe.
[56] Vgl. F. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. W. Mitzka, Berlin: De Gruyter 201967 (1883), S. 168. Vgl. auch „Entsetzung“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/Entsetzung>, (abgerufen am 13.08.2019), und J. Grimm/ W. Grimm: Deutsches Wörterbuch, 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig: Hirzel 1854-1961. Hier Bd. 3, Sp. 624. Dass die Übersetzung des Benjaminschen „Entsetzen“ ein kritischer Kernpunkt für Agamben ist, wird deutlich in L’uso dei corpi (a.a.O., S. 339-340), in dem der Autor eine neue Übersetzung des Begriffs vorschlägt: „destituzione“ („Absetzung“).
[57] G. Agamben: Ausnahmezustand, a.a.O., S. 73.
[58] Vgl. ebd., S. 73-75.
[59] Vgl. ebd., S. 75.
[60] Im letzten Abschnitt des vierten Kapitels, das hier untersucht wird, vervielfältigen sich die zweiflerischen und anspielenden Ausdrücke in Bezug auf den Zustand des Rechtes (und der damit verbundenen Gerechtigkeitsidee) nach dessen Selbstzerstörung: „enigmatische[s] Bild“ („enigmatica immagine“); „mögliche Form“ („figura possibile“); „Schwierigkeit“ („difficoltà“); „gespenstische[n] Welt“ („figura spettrale“); „Bahn“ („varco“); „Gut […], das absolut nicht anzueignen und für das Recht unzugänglich ist“ („bene assolutamente inappropriabile e ingiuridificabile“). (Vgl. G. Agamben, Stato di eccezione, a.a.O., S. 81-83 [dt. S. 75-77]. Für die hier wiedergegebenen Ausdrücke siehe S. 82-83 [dt. 76-77]).
[61] Ebd., S. 76.
[62] Ebd. Meine Kursivsetzung.
[63] Die Kategorie der Lebensform wird immense strategische Bedeutung gewinnen, um viele der im Recht, der Politik und der abendländischen Ontologie präsenten Dualismen und Aporien aufzulösen. Für eine kursorische kritische Bibliografie zum Konzept vgl. C. Salzani: Introduzione a Giorgio Agamben, Genua: Il Melangolo 2014, S. 134-137, den Eintrag „Form-of-life“ von A. Murray in: A. Murray/ J. Whyte (Hrsg.): The Agamben Dictionary, Edinburgh: Edinburgh University Press 2011, S. 71-73; E. Geulen: Giorgio Agamben zur Einführung, Hamburg: Junius 22009 (2005), S. 113-124; A. Lucci: L’opera, la vita, la forma. La filosofia delle forme-di-vita di Giorgio Agamben, in: A. Lucci/ L. Viglialoro (Hrsg.): Giorgio Agamben. La vita delle forme, Genua: Il Melangolo 2016, S. 69-94.
[64] Das an dieser Stelle von Agamben erwähnte Leben meint weder das biologische noch das politische und auch nicht ein als juridische Kategorie zu verstehendes, sondern ein Leben, welches die soeben erwähnten Kategorien zwar umfasst, sich aber zugleich nicht auf sie beschränken lässt.
[65] Vgl. J. Böckelmann/ F. Meier (Hrsg.): Die Gouvernamentale Maschine: Zur politischen Philosophie Giorgio Agambens, Münster: Unrast 2007.
[66] Vgl. G. Agamben: Pulcinella, divertimento per li regazzi, Rom: Nottetempo 2016.
[67] Vgl. G. Agamben: Che cos’è reale? La scomparsa di Majorana, Vicenza: Neri Pozza 2016.
[68] Vgl. G. Agamben: Altissima povertà. Regole monastiche e forma di vita, Vicenza: Neri Pozza 2011, S. 113-178 (dt. Übers. v. A. Hiepko, Höchste Armut. Ordensregel und Lebensform, München: Fischer 2012, S. 127-196); G. Agamben: L’uso dei corpi, a.a.O, S. 247-352.
[69] G. Agamben: Homo Sacer, a.a.O., S. 198.
[70] G. Agamben: L’uso dei corpi, a.a.O., S. 350. („È soltanto vivendo una vita che si costituisce una forma-di-vita, come l’inoperosità immanente di ogni vita“).
[71] Vgl. G. Agamben: Ausnahmezustand, a.a.O., S. 77.
[72] Ebd.
[73] Vgl. Agambens Aufsatz Bartebly o della contingenza, in: G. Deleuze/ G. Agamben: Bartleby la formula della creazione, Macerata: Quodlibet 2012 (1993), S. 45-89. Dt. Übers. v. M. Zinfert, Bartleby oder die Kontingenz, in: G. Agamben: Bartleby, Berlin: Merve 1998, S. 7-75.
[74] Vgl. G. Agamben: La comunità che viene, Torino: Bollati Boringhieri 22008 (2001). Dt. Übers. v. A. Hiepko, Die kommende Gemeinschaft, Berlin: Merve 2003, S. 7-11.
[75] G. Agamben: Pulcinella, a.a.O., S. 135. („Si tratterà, pertanto, di mettere in questione e neutralizzare lo stesso dispositivo bipolare bios/zoe, per investigare non tanto l’articolazione che li tiene uniti, quanto la divisione che li ha separati. Occorrerà chiedersi, cioè, in che modo e secondo quali strategie la scissione bios/zoe ha potuto prodursi e in che modo e secondo quali strategie essa potrebbe essere neutralizzata. La forma-di vita, la vita propriamente umana è, infatti, quella che, rendendo inoperose le opere e le funzioni specifiche del vivente, le fa, per così dire, girare a vuoto e, in questo modo, le apre in possibilità“).
[76] Daher auch die Doppelbedeutung des italienischen Wortes ‚divertimento‘, das Agamben als Untertitel seines Buches zu Pulcinella nutzt: einerseits das divertimento als Musikstück; andererseits handelt es sich auch um den Titel des illustrierten Buches, welches Gianbattista Tiepolo Pulcinella gewidmet hat, als dessen Kommentar Agambens Text gedacht ist. Dass sowohl die Musik als auch die Dichtung für Agamben eine herausragende Rolle beim Philosophieren spielen, wird vorwiegend aus dem jüngsten konzeptuellen Vorhaben G. Agambens: Che cos’è la filosofia? Macerata: Quodlibet 2016, siehe insb. S. 11-45 und 134-146, offensichtlich. Der wechselseitige Bezug zwischen theoretischem Schaffen und poetischem Stil tritt zum Beispiel in G. Agambens: Idea della prosa, Macerata: Quodlibet 22013 (2002) recht deutlich zutage.
[77] G. Agamben: Autoritratto nello studio, a.a.O., S. 19. („Amore per la pittura“).
[78] Ebd., S. 71. („È stata ed è sempre più parte essenziale della mia vita“).
[79] Ebd., S. 13. („Una forma di vita“).
[80] Vgl. Ebd., S. 166-167.
[81] Ebd. („Per l’erba e nell’erba e come l’erba ho vissuto e vivrò“).

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