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Das Böse – und die Polizei. Kritische Anfragen aus philosophischer Perspektive

Veröffentlicht am 11. März 2022

I. Angesichts des radikal Bösen[1]

Häufig verdrängen wir die Frage nach dem Bösen, spüren wir doch intuitiv die Irritationen, Infragestellungen, Unaussprechlichkeiten, die mit ihr einhergehen. Dennoch diabolisieren wir immer wieder unreflektiert, wenn wir mit dem radikal Bösen konfrontiert werden: Wir bezeichnen Täter*innen, die Massenmorde begehen, als „Monster“, „Unmenschen“, „Sadisten“, „Teufel“. Das „radikal Böse“ erschüttert uns, weil es einen theoretischen und praktischen „Angriff auf das gemeinsame Menschsein“[2] darstellt. Das radikal Böse steht also nicht nur für ein Handeln gegen Moral, sondern für einen Angriff auf Moral. Der Nazismus repräsentiert geradezu exemplarisch das radikal Böse.[3]

Vom radikal Bösen ist zu sprechen, wenn Menschen nicht mehr wie Menschen betrachtet und behandelt werden. Primo Levi, Überlebender von Auschwitz, erzählt in seiner Autobiographie Ist das ein Mensch? von seiner „Aufnahmeprüfung“ in das Kommando 98 von Auschwitz, dem so genannten Chemiekommando. Pannwitz, ein promovierter Ingenieur, übernahm die Prüfung:

„Pannwitz ist hochgewachsen, mager und blond; er hat Augen, Haare und Nase, wie alle Deutschen sie haben müssen, und er thront fürchterlich hinter einem wuchtigen Schreibtisch. Ich komme, Häftling 174517, stehe in seinem Arbeitszimmer, klar, sauber und ordentlich, und mir ist, als müßte ich überall, wo ich hinkomme, Schmutzflecken hinterlassen. Wie er mit Schreiben fertig ist, hebt er die Augen und sieht mich an.
Von Stund an habe ich oft und unter verschiedenen Aspekten an diesen Dr. Pannwitz denken müssen. Ich habe mich gefragt, was wohl im Innern dieses Menschen vorgegangen sein mag und womit er neben der Polymerisation und dem germanischen Bewußtsein seine Zeit ausfüllte; seit ich wieder ein freier Mensch bin, wünsche ich mir besonders, ihm noch einmal zu begegnen, nicht aus Rachsucht, sondern aus Neugierde auf die menschliche Seele.
Denn zwischen Menschen hat es einen solchen Blick nie gegeben. Könnte ich mir aber bis ins letzte die Eigenart jenes Blickes erklären, der wie durch die Glaswand eines Aquariums zwischen zwei Lebewesen getauscht wurde, die verschiedene Elemente bewohnen, so hätte ich damit auch das Wesen des großen Wahnsinns im Dritten Reich erklärt.
Was wir alle über die Deutschen dachten und sagten, war in dem Augenblick unvermittelt zu spüren. Der jene blauen Augen und gepflegten Hände beherrschende Verstand sprach: ‚Dieses Dings da vor mir gehört einer Spezies an, die auszurotten, selbstverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist.‘“

P. Levi, Ist das ein Mensch? – Die Atempause, München/Wien 1988, 19.

Der Satz „Denn zwischen Menschen hat es einen solchen Blick nie gegeben“ bringt den Wahnsinn des Nazismus zum Ausdruck. Der Nazismus war ein aktiver Nihilismus: Die Vernichtung des Anderen, die mit der Diskriminierung, Ausgrenzung und Aussonderung begann, wurde sogar um den Preis des eigenen Nichtsseins vorangetrieben. Die Erinnerung daran hat Konsequenzen für die ethische Begriffsbildung, denn „der Riss im moralischen Bild des Menschen lässt keine Hoffnung auf apriorische Gattungsgewissheiten mehr zu“[5].

Wenn wir Täter*innen des radikal Bösen als „Teufel“ bezeichnen, so hilft uns das, mit dem Schrecken umzugehen.[6] Indem wir diabolisieren, geben wir dem Schrecken einen Namen. Wir unterstellen damit zudem, dass hier eine Grenze überschritten wurde, und dass alle anderen Menschen das auch so sehen. In diesem Sinne können wir sagen, dass Diabolisierung verbindet. Sie vermag der kollektiven moralischen Selbstvergewisserung zu dienen. Und sie besitzt das Potenzial, in uns Verantwortung für die Opfer zu wecken und uns zum Handeln zu bewegen. Aber sie erklärt häufig nichts. Wenn wir diabolisieren, schließen wir von den Taten des radikal Bösen auf die Bosheit der Täter*innen. Wir unterstellen, dass die Täter*innen das Böse um des Bösen willen tun. Es gibt in der Tat solche Täter*innen, die den Tod der anderen zum höchsten Lebenszweck erheben. Aus der Geschichte der Genozide wissen wir aber auch, dass viele Täter*innen keine Monster, keine Teufel, keine Sadist*innen waren, sondern gewöhnliche Menschen, Nachbar*innen, die die Verwundbarkeit der Anderen bis zur Fassungslosigkeit gesteigert haben.[7] Warum viele gewöhnliche Menschen am radikal Bösen mitwirken, lässt sich durch Diabolisierung nicht erklären. Wenn wir diabolisieren, dann sollten wir ebenso wenig übersehen, dass wer diabolisiert, sich distanziert und exkulpiert. Durch die Diabolisierung wird zwischen mir und den Bösen eine Demarkationslinie eingezogen: Die Bösen, das sind nämlich immer die anderen. Diabolisierungen verhindern Selbstkritik.

II. Von der „furchtbaren Banalität des Bösen“ (H. Arendt)

Deshalb dürfen wir uns nicht, wenn wir vom Bösen sprechen, mit der Diabolisierung begnügen. Ansonsten verkennen wir, dass das Dämonische häufig darin besteht, dass die Täter*innen gewöhnliche Menschen waren. Hannah Arendt hat deshalb bekanntlich von der „Banalität des Bösen“[8] gesprochen. Damit hat sie nicht gesagt, das Böse sei banal, sie sprach schließlich von der „furchtbaren Banalität des Bösen“[9]. Ihr ging es darum, zu zeigen, dass Täter*innen häufig banal, das heißt: gewöhnlich, waren.[10]

Gewöhnliche Menschen haben am Bösen mitgewirkt, an dem, was „nie hätte geschehen dürfen“[11]. Auch diese Rede vom Bösen kennt das Entsetzen über das Böse, das sprachlos macht, das wir weder bestrafen noch vergeben können.[12] Fassungslos macht uns, dass viele Täter*innen nicht aus Überzeugung handelten, sondern einfach mitmachten[13]: „Diese Leute waren keine gewöhnlichen Verbrecher, sondern ganz normale Zeit­genossen, die mit mehr oder weniger Enthusiasmus Verbre­chen begangen hatten, einfach weil sie das taten, was man von ihnen verlangt hatte.“[14] Wir haben es also mit einer Situation zu tun, in der sich Menschen um einen herum anständig, wertebewusst, pflichtbewusst verhalten und gleichzeitig Monströses vollbringen. Wie war das möglich? Für Arendt lag die Ursache in der Gedankenlosigkeit. Gedankenlosigkeit verleitete Menschen dazu, am Bösen mitzuwirken.

III. Wider die Gedankenlosigkeit

Dieser fürchterlichen Gedankenlosigkeit setzt Arendt die Kraft des Nichtkönnens entgegen. In Zeiten, in denen die Mitwelt sich auf geradezu perverse Art und Weise als anständig geriert, sind „die einzigen zuverlässigen Menschen jene, die sagen ‚Ich kann nicht‘.“[15] Dieses Vermögen zum Nichtkönnen gründet nicht in Konventionen, sondern im Denken. Und mit diesem Denken ist jede Person ausgestattet, unabhängig vom Bildungsstand. Denken ist das Vermögen, mit sich ein Selbstgespräch führen zu können. Im Denken machen wir also die Erfahrung, dass ich (s)elbst wenn ich Einer bin, (…) ich nicht schlicht Einer“[16] bin: „(…) vielmehr habe ich ein Selbst und stehe zu diesem Selbst als meinem eigenen Selbst in Beziehung. Dieses Selbst ist keinesfalls eine Illusion; in­dem es mit mir spricht, macht es sich hörbar (ich rede mit mir selbst, ich bin mir nicht nur meiner selbst bewußt), und in diesem Sinne bin ich, als Einer, Zwei-in-Einem, und es kann Harmonie oder Disharmonie mit dem Selbst geben.“ Dieses Gespräch unterscheidet sich jedoch von anderen Gesprächen: „Wenn ich mit anderen Menschen nicht übereinstimme, kann ich Weggehen; aber von mir selbst kann ich nicht Weggehen, und deshalb empfiehlt es sich für mich, (…) mit mir selbst in Übereinstimmung zu kommen zu suchen (…).“[17]

Vor diesem Hintergrund wird auch der Ausspruch des Sokrates verständlich, auf den sich Arendt immer wieder bezieht, dass es besser sei, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun, denn: „Wenn ich Unrecht tue, bin ich dazu verdammt, in unerträglicher In­timität mit einem Unrechttuenden zusammenzuleben; ich kann ihn nie loswerden.“[18] Arendt bringt es auf den Punkt: „Wenn Sie Übles tun, leben Sie mit einem Übeltäter zusammen, und wenn auch Viele es vorziehen, zu ihrem eigenen Vorteil eher Schlechtes zu tun, als Schlechtes zu erleiden, wird niemand gerne mit einem Dieb oder einem Mörder oder einem Lügner zusammenleben wollen.“[19]

Für Arendt zeigt sich die Tätigkeit des Denkens etwa dort, wo „ich einen Vorfall auf der Straße beob­achtet habe oder in ein Geschehen hineingezogen wurde und danach beginne, das, was geschah, zu betrachten, es mir selbst als eine Art Geschichte erzähle, es auf diese Weise für die anschließende Kommunikation mit Anderen aufbereite usw.“[20]. Wer Böses tut, beeinträchtigt genau diese Fähigkeit: „(…) der sicherste Weg für den Verbrecher, nie­mals entdeckt zu werden und der Strafe zu entkommen, ist, das, was er tat, zu vergessen und nicht weiter darüber nach­zudenken. Gleichermaßen können wir sagen, daß Reue zuerst darin besteht, nicht zu vergessen, was man getan hat, indem man dahin ‚zurückkehrt‘ (…). Diese Verbindung von Denken und Erinnern ist (…) besonders bedeutsam.“[21] Die Weigerung, sich zu erinnern, ist die Bereitschaft, alles zu tun[22]: „Die größten Übel­täter sind jene, die sich nicht erinnern, weil sie auf das Getane niemals Gedanken verschwendet haben, und ohne Erinnerung kann nichts sie zurückhalten. Das Denken an vergangene Angelegenheiten bedeutet für menschliche We­sen, sich in die Dimension der Tiefe zu begeben, Wurzeln zu schlagen und so sich selbst zu stabilisieren, so daß man nicht bei allem Möglichen – dem Zeitgeist, der Geschichte oder einfach der Versuchung – hinweggeschwemmt wird.“[23] 

Das Denken gibt deshalb Halt in haltloser Zeit. Das Böse gibt auf Dauer keinen Halt:  „Das größte Böse ist nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbar Extreme entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten.“[24] Das Böse ist von grenzloser Haltlosigkeit geprägt. Wer böse ist, lebt in der Furcht, nicht mehr „in der Lage zu sein, mit sich selbst zu reden“[25]. Wer böse ist, verliert sein Selbst. Ein Selbst kann ich nämlich nur ausbilden, wenn ich „bestimmte Dinge“ nicht tun kann, „weil ich danach nicht mehr in der Lage sein würde, mit (…) [mir] selbst zusammenzule­ben.“[26] Vom Bösen sprechen heißt, zu unterscheiden „zwischen jener Art von Über­tretungen, mit denen wir täglich zu tun haben und von de­nen wir wissen, wie wir mit ihnen klarkommen oder sie entweder durch Bestrafung oder Vergebung loswerden kön­nen, und solchen Straftaten, von denen wir nur noch sagen können: ‚Das hätte nie geschehen dürfen‘.“[27] Wer Böses tut, löscht sein Selbst aus.[28]  

IV. Das Böse als Verkehrung des Guten

Der Gedanke der Banalität des Bösen offenbart, dass das Böse keine eigenmächtige Kraft ist, sondern das Ergebnis eines menschlichen Tuns. Mithin befällt es Menschen nicht von außen, besitzt es doch kein eigenes Sein. Das wussten auch schon antike Philosophen, die das Böse als privatio boni, als Mangel an Gutem, definiert haben. Das Böse breitet sich aus, wenn das Gute sich zurückzieht. Das Böse geschieht, wenn wir versagen, zu denken, wenn wir versagen, moralisch zu handeln.

Neben dem Bösen als Mangel an Gutem (privatio boni) gibt es aber auch eine Form des Bösen als Verkehrung des Guten (perversio boni).[29] Perversio boni meint: Die Täter*innen des Bösen streben das Böse nicht um des Bösen willen an, aber handeln auch nicht böse aus Gedankenlosigkeit.[30] Mit perversio boni wird, Didier Pollefeyt zufolge, ein bewusster Selbstbetrug bezeichnet. Ausgangspunkt zum Verständnis dieser Verstrickung ist auch hier wieder die auf sich reflektierende Person. Die Verstrickung ins Böse gründet hier allerdings in dem, was der US-amerikanische Psychoanalytiker Robert J. Lifton als „Dopplung“ bezeichnet hat. Dopplung gründet in der Fähigkeit des Selbst, sich in den Beobachtenden und den Beobachteten aufzuteilen.[31] Ohne diese Fähigkeit gäbe es keine Selbstreflexivität. Problematisch wird dieses Vermögen erst dann, wenn das Selbst, das beobachtet, sich weigert, die Verantwortung für die Taten des Selbst zu übernehmen, das es beobachtet.

Nun, wie haben wir uns diesen Prozess vorzustellen? Es geht um eine Person, die böse handelt und gleichzeitig bis zu einem gewissen Grad um ihre Verantwortung weiß. Da sie aber nicht als Person erscheinen möchte, die das Böse um des Bösen willen wählt, bedient sie sich des Selbstbetrugs. Sie spaltet das Selbst auf, doppelt sich in zwei Selbste. Dabei repräsentiert das eine Selbst die Verbindung zu einer Welt, die in Kontinuität mit früheren Erfahrungen und Werten steht; während das zweite Selbst eine Welt widerspiegelt, in der die Werte der ersten Welt auf den Kopf gestellt sind. In der Welt des zweiten Selbst werden die Werte der früheren Welt pervertiert, da sie mit Handlungen korreliert werden, die zuvor als unethisch qualifiziert waren. So gelingt es bspw., einen Mord in eine notwendige Tötung umzudeuten, die nichts anderes als Heilung sei.

Diese Dopplung in zwei Selbste entsteht in einem tiefgreifenden Prozess fortschreitenden Selbstbetrugs. Häufig wird der Selbstbetrug dadurch ausgelöst, dass das Selbst plötzlich in eine Umwelt platziert wird, die in radikaler Diskontinuität zu seiner ersten Welt und ihren Werten und Haltungen steht. In einer solchen Umwelt wird das frühere Selbst dysfunktional, sodass ein zweites Selbst ausgebildet wird.[32] Dieses zweite Selbst ist autonom, aber dennoch mit dem früheren verbunden. Die Autonomie darf also nicht mit Autarkie verwechselt werden.[33] Das zweite Selbst ermöglicht es nun, durch Separation vom ersten Selbst, dieses, das wahre, das erste Selbst unabhängig von Schuld und Pflicht zu erhalten.[34] Diese Separation erlaubt es der Person, tagsüber Massenmorde zu begehen und abends zu Hause ein guter Vater oder eine gute Mutter zu sein. Dennoch weiß das erste Selbst vom zweiten Selbst. Es ist deshalb auch moralisch für die Handlungen haftbar zu machen.[35] Es weigert sich jedoch, die Schuld auf sich zu nehmen. Durch die Weigerung, sich diesem Gefühl auszusetzen, verfällt das Selbst in den Selbstbetrug. Dazu bedient es sich diverser Umdeutungen. So dient der Hinweis auf Pflicht und Loyalität gegenüber einer Gruppe dazu, die eigene Verantwortung abzulehnen. Das zweite Selbst ist somit das Produkt mangelnder Courage, der Feigheit, dem eigenen Leben ehrlich gegenüberzutreten.[36] Bei dieser Dopplung weiß das eine, das erste Selbst, zwar, was das andere tut, aber es weigert sich, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Und so macht es Kräfte jenseits seiner selbst dafür verantwortlich.[37]

Im Zuge der Verkehrung des Guten immigriert das zweite Selbst in eine andere Welt, in der das, was unmoralisch ist in der ersten Welt, nun in der zweiten moralisch und vernünftig ist.[38] So entsteht „eine Parallelwelt der gewollten Ahnungslosigkeit“ (A. Zielcke). In dieser neuen Welt erscheint dann das Böse, das Morden, als das Gute, als Heilen. Das gelingt aber nur, wenn sich das Gute aus diesen Lebensbereichen zurückgezogen hat, erst dann kann das Böse als das Gute erscheinen.[39] Das Böse resultiert aus vielen Unterlassungen. Statt sich der eigenen Anfragen auszusetzen, lassen sich die Täter*innen so in das Böse hineintreiben. In vermeintlicher Unschuld fragen sie: „Wie kann ich verantwortlich sein? Ich habe doch gar nichts gemacht.“

V. Die Gefahr der Verkehrung des Guten in der Polizei

Der Blick in die Geschichte zeigt, dass Polizei auch in das radikal Böse verstrickt war. Erinnert sei nur an das „Reserve-Polizeibataillon 101“ in Polen.[40] Wir wissen, dass es das Böse in der Polizei auch heute gibt: „Es gibt sie. Rassisten in Uniform. Rechtsextreme in Uniform. Und Neonazis in Uniform.“[41] Wenn ich nun auf den Zusammenhang „Das Böse und die Polizei“ zu sprechen komme, dann möchte ich für gegenwärtige Einfallstore des Bösen sensibilisieren. Deshalb beziehe ich mich auf das  Böse als „internes Böse“ (A. Margalit). Während „das externe Böse (…) ein radikal Böses [ist], das auf eine Negation moralischen Denkens hinausläuft“, umfasst das „interne Böse (…) Taten, die in grober Weise die Moral untergraben, aber in der Doktrin die moralische Perspektive nicht negieren.“[42]

Der Polizeiapparat ist besonders in Gefahr, zum Einfallstor für das Böse zu werden, zeichnet sich doch das System „Polizei“ durch eine abschließende Binnenkultur aus, die von Aiko Kempen folgendermaßen skizziert wird: „Mit dem Beginn der Ausbildung wird die Polizei für viele zur zentralen und oft einzigen Bezugsgruppe. Ob an Polizeihochschulen oder an Polizeiakademien – fast überall bleiben angehende Polizisten unter sich. Zwar ist die Trennung zur Zivilgesellschaft längst nicht mehr so groß wie in Zeiten, in denen Polizeischüler noch in Kasernen auf dem Schulgelände einquartiert waren. Auch gibt es an jeder Lehreinrichtung externe Dozenten und Ausbilder ohne beruflichen Hintergrund in der Polizei. Und doch bleiben die polizeilichen Ausbildungsstätten oft eine in sich geschlossene Institution.“[43] Kempen listet Maximen auf, die durch eine solche Binnenkultur produziert werden: „‚Kollegen werden nicht verraten‘ und ‚Es wird nicht lange darüber diskutiert, was getan wird‘. Vor allem zwei gruppendynamische Elemente spielen (…) eine Rolle für dieses fest etablierte Verhalten innerhalb der Polizeistrukturen: Die Gruppe empfinde sich als Gefahrengemeinschaft, und es gebe eine gewisse Angst, sich aus dieser Gruppe zu lösen. Das führe dazu, dass Beamte oft lange stillhalten, obwohl sie vielleicht ein schlechtes Gefühl haben mit dem, was ein oder mehrere Kollegen sagen oder tun.“[44] Solche Einbettungen begünstigen und verfestigen auf Dauer die Einstellung, dass es „wichtiger sei, den Kollegen beizustehen, statt sich den Raum für eine eigene Entscheidung zu nehmen“[45]. Und wenn diese Nicht-Haltung nicht nur auf Gefahrensituationen beschränkt ist, droht daraus, so warnt Kempen, ein dauerhafter Zustand zu werden, der einen abgeschlossenen Zirkel schafft.[46] Ein Polizeiethos, das aus einer geschlossenen Binnenkultur hervorgeht, die sich durch andere Perspektiven nicht aufbrechen lässt, ist anti-moralisch, es untergräbt Moralität. Es leistet der Lüge Vorschub, die – auf Dauer gestellt – das Selbst moralisch aushöhlt und in die Dopplung führt.

Oliver Pohl, Kriminalhauptkommissar und Pressesprecher der Polizei Kiel, setzt dagegen Selbstreflexion und Haltung. Er legt den Finger in die Wunde des Systems: „‘Ich denke, dass ich in der Polizei ein Rassist geworden bin‘“.[47] Aber Polizist*innen werden nicht zu Rassist*innen, weil sie böse sind, sondern, so zeigt Pohl, aufgrund einer Struktur, „die darauf ausgelegt ist, schnell und effizient zu handeln. Polizeibeamte seien Menschen, die gelernt haben, auch in Extremsituationen handlungsfähig zu bleiben, indem sie sehr schnell urteilen, sagt Pohl. In der Realität bedeute das: ‚Wir kommen in eine Situation, sehen Schwarz-Weiß und handeln.‘“[48] Wer so wie Pohl reflektiert, durchbricht Strukturen, Muster und Vorurteile, die handlungsleitend sind und die Basis für böse Handlungen sein können. Solche Reflexionen befähigen dazu, moralisches Vermögen zu erkennen und es an die erste Stelle zu setzen.

Gerade Polizist*innen sind aufgrund ihrer professionellen Identität anfällig für das Böse als perversio boni. In vielen Einsätzen wird von ihnen verlangt, dass sie funktionieren. Dabei sollten sie sich darüber im Klaren sein, dass dies solange nicht gefährlich sein muss, wie sie in einem Rechtsstaat leben.[49] Aber auch der Rechtstaat bewahrt sie nicht davor, aktiv an bösen Handlungen zu partizipieren: Wenn Vorgesetzte mit bösen Motiven das Funktionieren anordnen, können gedankenlose Polizist*innen auch im Rechtsstaat zur Waffe des Bösen werden.[50] Bettina Stangneth warnt, dass Anstand, Loyalität, Disziplin, Konzentration, Konsequenz, Gehorsam, Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit nicht vor dem Bösen schützen.[51] Nicht selten dienen sie dem Selbstbetrug und der Zerstörung von Haltung. Verschärfend kommt hinzu, dass „Fehlverhalten in der Polizei fast ausschließlich intern aufgearbeitet [wird]. Doch eine Gesellschaft, die das zulässt, schadet nicht nur der Demokratie, sondern auch der Polizei selbst.“[52]

Wer auf diese Zusammenhänge reflektiert, erkennt, dass „die Polizei (…) ein strukturelles Risiko für die Demokratie“[53] ist. Daniel Loick weist darauf hin, dass „selbst liberale Rechtsstaaten regelmäßig daran scheitern, die Polizei auf ihre Rolle als exekutive Rechtsdurchsetzung zu beschränken und sie dazu tendiert, eigenständige Zwecke zu verfolgen. Zum anderen untergräbt sie systematisch den Status einiger Staatsbürger*innen als gleiche Teilnehmer*innen des demokratischen Diskurses.“[54] Das ist gefährlich: „ (…) es ist ein entscheidender Unterschied, ob ein Handwerker oder Bankberater den demokratischen Rechtsstaat überwinden will und den Gedanken ablehnt, dass alle Menschen gleich zu behandeln sind, oder ob ein Polizist diese Einstellungen vertritt. Denn die Polizei ist in einer Demokratie nicht nur die Gewalt, sie hat zugleich das Monopol darauf. Wer unzufrieden mit einem Handwerker ist, ruft beim nächsten Mal jemand anderen. Wer die Polizei hingegen als Gefahr und nicht als Hilfe erlebt, hat keine Alternative –außer den Schutz, den ein demokratischer Rechtsstaat bieten und sicherstellen sollte, nicht mehr in Anspruch oder in die eigenen Hände zu nehmen. (…) wenn jene zur Bedrohung werden, die Bedrohungen fernhalten sollen, schwindet zugleich das Vertrauen in den Staat.“[55]

VI. Dem Bösen widerstehen

Polizist*innen sollten sich mit dem Bösen in seinen verschiedenen Facetten befassen, insbesondere mit der Gefahr der Dopplung. Jedes Selbst ist ein geteiltes Selbst. Diese Teilung ist ja die Bedingung der Möglichkeit von Selbstreflexion. Ohne Selbstreflexion gäbe es keine Moral.[56] Diese Teilung ist keine Zersplitterung.[57] Aufgespaltet wird das Selbst erst durch eine Verkehrung des Guten, welche gerade die innere Ordnung des Selbst zerstört, die durch die Teilung ermöglicht wird. Diese innere Ordnung, die durch die Verkehrung zerstört wird, ist das, was wir Haltung nennen. Ohne Haltung gibt es keinen Halt. Haltung entsteht, wenn Werte in unser Selbst derart eingezeichnet sind, dass sie uns zur zweiten Natur geworden sind. Haltung ist nicht zu verwechseln mit Konventionen, die unserer Gewohnheit entstammen. Haltung bezeichnet nämlich nicht eine Praxis der Gewohnheit und der Routine. Sie entsteht nicht durch Konventionen. Routinierte Handlungen zeichnen sich durch Automatismen und Unachtsamkeit aus. Haltung steht dafür, dass etwas mit ganzer Seele vollzogen wird.[58] Aus dieser Perspektive zeigt sich, dass Handlungen nicht allein deswegen gut sind, „weil ihre Folgen wünschenswert sind“, sondern dass sie „(…) mit der Güte der handelnden Person verbunden sein“[59] müssen. Haltung bezieht sich auf die innere Qualität unseres Handelns, seine Innenwirkung.[60] Wenn eine Person Haltung hat, dann spüren wir, „welches Verhalten dieser Person versperrt ist“.[61] Durch Haltung wird der Spielraum der Praktiken, das, was möglich, und das, was unmöglich ist, festgelegt.[62] Ohne Haltung verliert der Mensch sein Selbst, streicht er sich selbst durch. Wenn das System „Polizei“ Haltung bedroht, wird es bei Polizist*innen psychische Instabilitäten auslösen, die bis zum Kontrollverlust über das eigene Selbst führen können. Kritische Reflexion auf polizeiliches Handeln schwächt nicht, sie stärkt, da sie die Denktätigkeit fördert, die es braucht, um „eine Haltung zur Moral zu etablieren“[63]. Dabei ist der Sokratische Rat hilfreich, eher Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun.

Alles Böse beginnt mit tödlicher Abgeschlossenheit. Systeme, die keine Möglichkeit bieten, der Macht und den Regeln des Systems zu entkommen, sind gefährlich.[64] In ihnen kann keine Haltung erworben werden, des Weiteren zerstören sie bereits bestehende Haltungen. Genau diese Gefahr lauert im System „Polizei“.[65]

© Jürgen Manemann


[1] Beim folgende Beitrag handelt es sich um einem Vortrag, den ich auf der „Bundestagung der katholischen Polizeiseelsorgerinnen und Seelsorger“ im Herbst 2021 gehalten habe, die sich dem „Bösen“ widmete.
[2] A. Margalit, Über Kompromisse und faule Kompromisse, Berlin 2011, 217.
[3] Vgl. ders., 226.
[4] P. Levi, Ist das ein Mensch? – Die Atempause, München/Wien 1988, 19.
[5] R. Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft, Reinbek 2005, 11.
[6] Vgl. zu diesen Unterscheidungen: J. Manemann, Der Dschihad und der Nihilismus des Westens.  Warum ziehen junge Europäer in den Krieg?, Bielefeld 2015; D. Pollefeyt: The Kafkaesque World of the Holocaust: Paradigmatic Shifts in the Ethical Interpretation of the Nazi Genocide, in: J. K. Roth (Ed.), Ethics after the Holocaust: Perspectives, Critiques, and Responses, St. Paul 1999, 210-242.
[7] Vgl. B. Liebsch, Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist 2005, 217.
[8] H. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 51986.
[9] Ebd., 300.
[10] Auf die Diskussion und Probleme der Arendtschen Perpektive auf das Böse kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Dazu nur ein Hinweis von Franziska Augstein: „Die Banalität des Bösen liegt für Hannah Arendt also darin, daß es Nicht-Personen sind, die sich in NS-Deutschland schuldig machten, Leute eben, die ‚willentlich auf alle persönlichen Eigenschaften verzichteten‘. Daß sie dies gar nicht taten, sondern vor Gericht eine Maske aufsetzten, hat sich heutzutage halbwegs herumgesprochen. Hannah Arendts Wendung von der ‚Banalität des Bösen‘ trifft trotzdem den Nagel auf den Kopf – nur daß es keine Nicht-Personen waren, die diese Taten verübten, sondern Jedermänner.“ (F. Augstein, Taten und Täter, in: H. Arendt,  Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 122017, 177-195, 190)
[11] H. Arendt, Über das Böse, a.a.O., 45.
[12] Vgl. ebd., 17; 45.
[13] Vgl. ebd., 15f.
[14] Ebd., 23.
[15] Ebd., 52.
[16] Ebd., 70.
[17] Ebd.
[18] Ebd.
[19] Ebd., 71.
[20] Ebd., 75.
[21] Ebd., 75f.
[22] Vgl. ebd., 76.
[23] Ebd., 77.
[24] Ebd.
[25] Ebd., 78.
[26] Ebd., 81.
[27] Ebd., 98.
[28] Vgl. ebd., 99.
[29] Diesen Gedanken habe ich von Didier Pollefeyt übernommen: D. Pollefeyt: Horror Vacui. God and Evil in/after Auschwitz, in: D. Patterson/J. K. Roth (Hg.), Fire in the Ashes: God, Evil, and the Holocaust, Seattle 2005, 219-230.
[30] Vgl. ebd.
[31] Dieser Prozess wurde ausführlich von R. J. Lifton (Ärzte im Dritten Reich, München 1998) analysiert. Ich gebe hier, etwas gekürzt, die zusammenfassende Interpretation von Liftons Ansatz durch D. J. Fasching wieder: D. J. Fasching, Narrative Theology after Auschwitz. From Alienation to Ethics, Minneapolis 1992, 133-140. Die Hinweise auf beide Autoren verdanke ich Didier Pollefeyt.
[32] Vgl. ebd.
[33] Vgl. ebd., 138.
[34] Vgl. ebd., 139.
[35] Vgl. ebd., 138.
[36] Vgl. ebd., 139.
[37] Vgl. ebd.
[38] Vgl. ebd., S. 140.
[39] Vgl. D. Pollefeyt, Horror Vacui, a.a.O.
[40] Vgl. C. R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 92019.
[41] A. Kempen, Auf dem rechten Weg? Rassisten und Neonazis in der deutschen Polizei, München 2021, 42.
[42] A. Margalit, a.a.O., 218.
[43] A. Kempen, a.a.O., 97.
[44] Ebd., 119.
[45] Ebd.
[46] Vgl. ebd., 120.
[47] O. Pohl, zit. n.: A. Kempen, a.a.O., 58.
[48] Ebd.
[49] Vgl. B. Stangneth, Böses Denken, Reinbek 2016, 105.
[50] Vgl. ebd., 106.
[51] Vgl. ebd., 108.
[52] A. Kempen, a.a.O., 9/ 10.
[53] D. Loick (Hg.), Kritik der Polizei, Frankfurt 2018 (E-Book), Pos. 549.
[54] Ebd.
[55] A. Kempen, a.a.O., 11.
[56] Vgl. M. Walzer, Lokale Kritik – globale Standards, Hamburg 1996, 112.
[57] Vgl. ebd., 128.
[58] Vgl. dazu: P. Nickl, Ordnung der Gefühle. Studien zum Begriff des habitus, Hamburg 2001.
[59] Ebd., 7.
[60] Ebd., 29.
[61] M. Schwingel, Pierre Bourdieu. Zur Einführung, Hamburg 1995, 70.
[62] Ebd., 71.
[63] B. Stangneth, a.a.O., 115.
[64] Vgl. D. Pollefeyt, The Morality of Auschwitz? A Critical Confrontation with Peter J. Haas’s Ethical Interpretation oft he Holocaust, in: J. Bempporad/ J.T. Pawlikowski/ J. Sievers (Ed.), Good and Evil After Auschwitz: Ethical Interpretations For Today, 119-137.
[65] Weitere Ausführungen zum Thema „Polizeigewalt“ habe ich veröffentlicht in: J. Manemann. Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer, Bielefeld 2021, 124-132.

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