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»Sie können diese Überschrift in 5 Sekunden überspringen« Zur Dialektik des Skippens.

Veröffentlicht am 1. Oktober 2021

Von Marvin Dreiwes

Technik steht uns nicht einfach in ihrer Materialität verheißungsvoll oder bedrohlich gegenüber. Eine philosophische Auseinandersetzung mit Technik muss gleichermaßen fragen, wie unsere praktischen Vollzüge immer schon »technisiert« sind, also Praxis selbst ein technisches Moment innewohnt. Ausgehend von diesem Gedanken werde ich im Folgenden die Praxis des Skippens als eine dialektisch verfasste Kulturtechnik untersuchen[1] Wenn vom Skippen als einer Kulturtechnik die Rede ist, geht es nicht bloß um einzelne Praktiken, die im Umgang mit einzelnen Artefakten in spezifischen Situationen auftauchen. Die Rede von einer Kulturtechnik zielt auf die Frage ab, wie eine Praxis umgreifend den praktischen Umgang mit und den Zugriff auf Welt, somit also Weltverhältnisse prägt. Diese Überlegungen schließen an Benjamins Gedanken an, die er in seinem Kunstwerkaufsatz entwickelt. Für Benjamin ist Wahrnehmung nicht natürlich und unveränderlich, sondern trägt einen historischen Index, sie ist »geschichtlich bedingt« (Benjamin 1963:14). Von Interesse für Benjamin waren bekanntermaßen die neuen Reproduktionsmöglichkeiten der Fotografie und des Films, die in Folge technischer Innovation ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftraten. Diese machten nicht nur eine Neubestimmung dessen notwendig, was als »Kunst« galt, sondern veränderten auf eine fundamentale Weise, die Art wie überhaupt wahrgenommen und schließlich gehandelt wurde. Entscheidend ist dabei die Annahme, dass Technologien unsere Wahrnehmung und damit unsere Weltverhältnisse selbst strukturieren und formen können.[2] Genau gefasst lautet daher die Frage: Wie strukturieren und modifizieren technologisch bedingte Praktiken wie das Skippen die Praxisformen von Subjekten?

Eine Ausgangsthese ist nun, dass die Praxis des Skippens ein essentieller Bestandteil spätmoderner Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsökonomien[3] ist. Dabei findet sich ein dialektischer Umschlag in der Praxis, insofern Skippen einerseits ein subversives Moment enthält, das Rezeptionsordnungen umgeht, zugleich allerdings ein Moment der »Notwehr« in sich trägt. Praktiken des Skippens erscheinen so als Abwehrreaktionen und Bewältigungsstrategien, infolge der Überwältigung von Informationen. Zugleich greifen zunehmend Technologien auf diese Praxis zu, um den Abwehrreflex des Skippens zum Zweck der Lenkung von Aufmerksamkeit zu instrumentalisieren. Die Praxis des Skippens ist in diesem Sinne eine parasitäre Praxis, insofern sie über spezifische Anwendungsbereiche hinausstrahlt, sich als Rezeptionsmodus in Subjekte einschreibt und zum technologischen Eingriffspunkt wird.

Skippen – Zwei Bedeutungsstränge

Zunächst zum Begriff: »Skippen« ist die Substantivierung des englischen Verbes »to skip«,das sich als Anglizismus im deutschsprachigen Raum etabliert hat – hier zunächst als Verb »skippen«. Etymologisch wird ein skandinavischer Ursprung vermutet. »To skip« kann übersetzt werden als »auslassen«, »aussetzen« oder »überspringen«, aber auch »hüpfen«, »springen« oder »hopsen«. In Verbindung wie »to skip work« als »blaumachen« oder »to skip school«, kann es als »schwänzen« übersetzt werden. Semantisch finden sich also zwei Dimensionen, die analytisch voneinander getrennt werden, sich aber im Begriff überlappen: 1) eine leibliche Dimension: Skippen ist ein Hopser, Sprung oder ein Satz der gemacht wird, um eine kleine Distanz zu überwinden; 2) in der abstrakten Dimension ist Skippen das Auslassen eines Elements in einer geordneten Reihung. Wer skippt, weicht ab, lässt etwas aus oder kürzt ab. Skippen wird zum Mittel des Entzugs aus vorgegebenen oder erwarteten Positionen. Während das »überspringen« dabei noch an einer Reihung festhält, zeigt sich im »auslassen« das Potential einer Praxis des Nicht-tuns, einer bewussten Lücke und Aussetzen, die keine Verkürzung darstellen muss.

Spezifischer gefasst und bezogen auf den Medienkonsum und -umgang lässt sich Skippen einreihen in jene Kulturtechniken, die auf eine gesamtgesellschaftliche Beschleunigung und Pluralisierung der Informationstechnologien reagieren. Durch sie wird eine Fragmentierung von Wahrnehmungsinhalten und eine Verkürzung von Wahrnehmungsintervallen erreicht (Rosa 2012:199). Damit rückt das Skippen in die Nähe verwandter Praktiken, wie Spulen, Zappen oder Surfen. Gemein ist allen, dass sie als Steuerung der Wiedergabe von Information fungieren, die sich infolge jüngster Informationstechnologien herausgebildet haben. Dabei dienen sie der Individualisierung des Medienkonsums und dem potentiellen Ziel einer Steigerung der Erlebnisdichte an Informationen.

Mediale Gangarten: Spulen, Zappen und Surfen

Skippen unterscheidet allerdings sich in einigen Punkten von den oben genannten Praktiken, auch wenn es zweifelsohne Überschneidungen gibt. So verweisen Praktiken des Spulens zunächst auf den manuellen und später mechanischen Vorgang des Auf- oder Abrollens, der bis zu den Pergamentrollen zurückreicht und später bei Filmrollen, Tonbändern oder VHS- und Audiokassetten auftaucht. Sobald durch eine Spule audiovisuelle Informationen gespeichert und wiedergegeben werden, gewinnt das Vor- und Zurückspulen eine weitere Dimension. Das Spulen trägt als Beschleunigung zeitlicher Medien in sich noch die Stauchung von Zeit und darin die Leistung der Bewegung. Spulen ist die lineare Manipulation einer Wiedergabe. Spulen beschleunigt oder verlangsamt und kann die Richtung ändern, folgt aber der Logik eines notwendigen Nacheinanders, da es immer entlang oder entgegen der Leserichtung erfolgt, die durch den Informationsträger vorgegeben ist. Die Reihung der Informationen bleibt bestehen, kein Element kann übersprungen werden – zumindest nicht ohne direkten Eingriff in die Struktur des Informationsträgers. Sobald das Spulen eine gewisse Geschwindigkeit überschreitet und nicht mehr allein als beschleunigte Informationswiedergabe, sondern Rauschen erfahren wird, erfordert es einen Stopp, um die neue Position zu erkennen. Spätestens mit der umgreifenden Digitalisierung der Informationstechnologien entfällt jedoch diese analoge Charakteristik des Spulens. Digitale Zeitanzeigen geben jederzeit genaue Auskunft über Wiedergabepositionen. Digitale Player bieten einen Zeitstrahl, auf dem zu jedem beliebigen Zeitpunkt eines Mediums gesprungen werden kann: Vom Spulen kann nur noch im übertragenden Sinne die Rede sein; geradezu skandalös erscheint der mechanische »Bremsvorgang« beim Spulvorgang analoger Medien.

Die Unterscheidung zum Skippen zeigt sich darin, dass die übersprungene Zeit völlig neutralisiert wird. Sie ist in keiner Weise bedeutsam. Jedes Skippen ist instantan und als Akt, unabhängig von der Menge an Information oder der Dauer, die übersprungen wird, identisch. Im Skippen erfolgt die Steigerung der Handlungsgeschwindigkeit im Gegensatz zum Spulen nicht durch eine Beschleunigung, sondern durch eine Reduktion von Pausen, Leerzeiten und Schwellen (Rosa 2012:199). Hierauf gilt es zurückzukommen.

Wesentlich medienspezifischer ist die Praxis des Zappens. Sie steht für ein Umschalten zwischen verschiedenen »Strömen« von Informationen. Typischerweise geht es um eine Vielzahl von TV-Kanälen, durch die gezappt wird, bzw. durch die »sich eine Person zappt«. In einem ständigen Springen zwischen diesen Strömen, kann das Zappen als Versuch gelesen werden, möglichst wenig Informationen zu verpassen, beziehungsweise das steigende Angebot von Informationen möglichst umfassend zu nutzen. Häufig werden Werbeunterbrechungen genutzt, um den Kanal zu wechseln. Deren gleichzeitiges Verströmen führt dazu, dass jedes Verweilen bei einer Informationsquelle den Verlust anderer, potentiell besserer (d.h. unterhaltsamerer) Informationen bedeutet. Im popkulturell verankerten Bild des apathisch auf dem Sofa liegenden Mannes, der mit einer Fernbedienung von Kanal zu Kanal zappt, findet sich schließlich das überforderte Subjekt angesichts unermesslicher Wahlmöglichkeiten. Die Potenzierung der Auswahlmöglichkeiten in den audiovisuellen Massenmedien (Fernsehkanäle, Radiosender) der letzten Dekaden führt dazu, dass praktisch immer weniger Augenblicke bei einem Kanal verblieben wird (Rosa 2012:293, Fn. 88). Das Zappen wird hier zum ziellosen Rauschen, ohne dass ein Punkt klar fixiert wird. Da nicht vorher gewusst wird, wohin das Zappen führt, ist immer ein kurzer Moment der Kalibrierung vonnöten, um dann in wenigen Sekunden zu entscheiden, ob bei einem Kanal geblieben wird, gerade weil es keiner gerichteten Intentionalität folgt. Zappen wird so zum Versuch der Diversifizierung von Informationsquellen durch Fragmentierung der Informationen. Auch wenn im Kontext von Social Media selten von Zappen die Rede ist, zeigt sich eine Aktualisierung des Zappens im ziellosen Scrollen durch algorithmisch personalisierten Feeds, für das sich das Bild des »Wasserfall« und des langsamen Ertrinkens findet (Lupinacci 2021:286).[4]

Mit dem Begriff Surfen wiederumprägte die US-amerikanischen Bibliothekarin Jean Armour Polly 1992 einen ähnlich arbeitenden Begriff für die vergleichbare Praxis des ziellosen Springens von Seite zu Seite (Polly 1992). Oftmals werden Surfen oder Zappen als oberflächlicher Konsum beschrieben, Polly verwendet den Begriff allerdings noch ohne negative Wertung. Die Richtungslosigkeit kann hier sogar explorativ gedeutet werden. Entgegen eines passiven Konsums in den klassischen Massenmedien, bricht das Subjekt im Internet gerade aus dieser Rolle heraus. Der Soziologe Zygmunt Baumann beschwört im Zappen gar ein postmodernes Flanieren: »Die ultimative Freiheit steht unter Bildschirmregie, wird in Gesellschaft von Oberflächen gelebt und heißt zapping [herv. i. O.]« (Baumann 1997:153). Das Subjekt konsumiere eben nicht passiv-stumm, sondern greife aktiv in das Rezeptionsgeschehen ein.

In seiner zeitphilosophischen Diagnose widerspricht Byung-Chul Han genau dieser Lesart, da »Hast und Ruhelosigkeit […] weder das Flanieren noch das Vagabundieren [kennzeichnen]« (Han 2015:37). Die Freiheit, die Surfen und Zappen bedeutet, ist nach Han keine echte Freiheit: »Freiheit ist ein Beziehungswort« (Han 2015: 38). Zappen dagegen kappe alle Verbindungen. Die Freiheit des Zappens werde zu einer haltlosen Freiheit:

»Der Netzraum ist auch ein ungerichteter Raum. Er ist aus Anschluß-Möglichkeiten bzw. Links gewoben, die sich voneinander nicht unterscheiden. Keine Richtung, keine Option hat einen absoluten Vorrang vor den anderen. Im idealen Falle ist jederzeit ein Richtungswechsel möglich. Es gibt keine Endgültigkeit. Alles wird in Schwebe gehalten. Nicht Gehen, Schreiten oder Marschieren, sondern Surfen und Browsen […] stellen die Gangart im Netz-Raum dar. Diese Bewegungsformen sind an keine Richtung gebunden. Sie kennen auch keine Wege«
(Han 2015:44)

Skippen schließlich moduliert und radikalisiert diese Momente, die bereits in den oben genannten Praktiken angelegt sind. Wie beim Spulen kann zwar innerhalb eines linearen Informationsstrangs geskippt werden, wie auch zwischen verschiedenen Medien. Doch gerade im Internet als nicht linearem Medium par excellence wird das Skippen die paradigmatische Bewegungsform. Geskippt werden alle Arten von Rahmen und Anfängen: bei Serien und Filmen werden Intros, Abspänne oder Werbeblöcke geskippt; in Computerspielen Tutorials oder Zwischensequenzen. Galt der Vorspann als Einstimmung, dessen Unverwechselbarkeit fast ins Kultische steigen kann[5] und der Abspann eines Films im Kino als nötiger Ausklang, erscheinen diese Funktionen bei Episoden ohne jeden Rhythmus und Verzögerung obsolet. In dieser Ausprägung entwickelt das Subjekt beim Skippen eine Rezeptionshaltung, die vorrangig output- und nicht prozessorientiert ist. Im Anschluss an Hans Technikkritik lässt sich erkennen, dass das Internet in der Tat keine Wege kennt, und damit scheinbar jede Form der Schwellen und Übergänge verloren gehen. Digitale Interfaces geben eine vollständige Kontrolle über die Sicht- und Verfügbarkeit. Wir können vorwärts- und rückwärtsspulen, die Wiedergabe anhalten, die Geschwindigkeit verändern. Mit wenig Aufwand finden sich sogar Programme, die die Wiedergabe rückwärtslaufen lassen. All dies verändert die Zeitlichkeit selbst:

»Man wird Zeit somit nicht mehr als Abfolge distinkter, singulärer, unwiederholbarer Momente betrachten können, […] sondern sie wird multiplikativ, die Linearität ihrer Momente wird zu einem fortlaufenden sich modifizierenden Nunc stans umgebaut.«
(Burckhardt und Höfer 2015:117)

Alles in allem hatte das Subjekt noch nie so viele technischen Möglichkeiten wie heute, die es ihm erlauben, seine Mediennutzung und damit den Konsum von Information nach seinen Geschmack zu individualisieren (Görland 2020:184).

Skippen als Aussetzung

Dagegen sei an das oben erwähnte Skippen als bewusste Auslassung, als Aussetzen erinnert. In produktionsästhetischen Kontexten steht es in der Nähe zur Ellipse. Sei es beispielsweise im Film durch Schnitte zwischen Szenen, textuell auf der Makro-Ebene durch ein Auseinanderfallen von erzählter Zeit und Erzählzeit, bis hin zur typographischen Auslassung, wie den offenen drei Punkten oder dem bedeutungsschwangeren Gedankenstrich in Kleists Marquies von O…. (Abbt and Kammasch 2009). Es sei ebenso an die verschiedenen künstlerischen Annäherungen und Interpretationen an Phänomene der Stille, des Schweigens, der Pause und der Abwesenheit erinnert – allen voran vermutlich John Cages 4’33“.[6]

Trotz der unzähligen Spielarten der Auslassung erfüllen sie oftmals eine ähnliche Funktion, die zu einer Unterbestimmtheit des Kunstwerks führt und zugleich die Vorstellung in der Betrachtung anregt.[7] Da der Sinn nicht komplett auserzählt ist, findet sich im Umgang mit ästhetischen Praktiken und Werken immer eine gewisse Mehrdeutigkeit. Diese Mehrdeutigkeit geht keineswegs in völlige Beliebigkeit über. Aufgrund der im Werk etablierten Eigenlogik sind bestimmte Sinn-Optionen plausibler, während andere ausgeschlossen werden können, ohne dabei aber einen abschließenden Sinn zu bilden.[8]

Aus dieser produktionsästhetischen Perspektive betrachtet, wird das Skippen zur produktiven Lücke. Es geht nicht einfach um einen Sprung, der die Zeit neutralisiert, sondern um eine formende und bestimmende Taktung und Rhythmisierung. Die offengehaltenen Lücken, die durch die Auslassung entstehen, können sich füllen, ohne dass sie gefüllt werden. Das Skippen im Sinne eines willkürlichen instantanen Sprunges, dagegen ist gerade der Wegfall jener Lücken.[9]

Skippen als dialektische Kulturtechnik der Notwehr

Kulturtechniken, die versuchen Handlungen zu beschleunigen, tendieren paradoxerweise dazu, ein Gefühl gesteigerter Zeitknappheit und des Gehetztseins zu erzeugen, da die Ereignis- bzw. Informationsdichte zunimmt. Das Freiheitsversprechen der Technik schlägt um, da es Sachzwänge erzeugt, die der technischen Effizienzsteigerung immanent sind (Rosa 2012:244–45). Übertragen auf die Praxis des Skippens bedeutet dies, dass der Versuch, durch das Skippen einen souveränen, das heißt individuellen, selbstbestimmten Umgang mit Informationen und der eigenen Aufmerksamkeit zu gewinnen, in einen unausweichlichen Zwang kippt. Wie bei anderen technologischen Innovationen findet sich auch beim Skippen ein dialektischer Umschlag. Es führt nicht zu einer Lösung des Problems, sondern verschiebt, ja verschärft die zu lösende Problematik, insofern es in einer gesamtgesellschaftlichen Steigerungslogik verbleibt. Die ubiquitäre Möglichkeit zu Skippen, die mit einem Filter- und Selektions-Zwang verbunden ist, führt dazu, dass Subjekte permanent skippen müssen. Damit verlieren sie gerade den erwarteten Gewinn an Autonomie in der Aufmerksamkeitsökonomie und dem Umgang mit Informationen. Das Skippen wird zu einer Bewältigungsstrategie, einer Kulturtechnik der Notwehr angesichts der Omnipräsenz von Informationen.

Es folgt dabei einer technischen Logik, dass sich Automatisierungs- und Externalisierungsstrategien für das Skippen im Sinne einer Informationsbewältigung entwickelt haben. Die Personalisierung der social feeds stellt mithin keine gezielte Delegation dar, sondern dient primär der Entlastung des Subjekts. Nachdem Streaming-Dienste mit einer hochgradigen Flexibilisierung aufwarten konnten, finden sich zunehmend Algorithmen, die personalisierte Playlists anhand von Hörprofilen kuratieren. Bei diesen selbstlernenden Systemen greifen Feedback-Schleifen, die Interaktionen auf ausgetretenen Pfaden forcieren, wohingegen wenig genutzte Pfade sukzessiv aus dem Feed verschwinden. Ziel der Algorithmen ist es, auf den schmalen Grat zwischen Bekanntem und Neuen zu bleiben, der – eine der Phänomenologie und Hermeneutik vertraute Einsicht – notwendig für Sinn überhaupt ist. Eine Wiederholung des Gleichen würde ebenso abstumpfen, wie die Überförderung durch das völlige Fremde, das auf kein Bekanntes zurückgeführt werden kann. Ziel ist es dabei bekanntermaßen, die maximale Verweildauer auf der jeweiligen Plattform zu gewährleisten, ohne dabei allerdings dem Subjekt eine Pause zu gewähren.

Natürlich bieten Plattformen dem Subjekt Möglichkeiten der Einflussnahme auf die präfigurierten Filter: Andere User können ignoriert, Serien negativ bewertet oder favorisiert werden und nicht selten wird direkt nach Bewertungen gefragt. Allerdings wird die intendierte Funktion dieser Filter ad absurdum geführt, sobald mehr Zeit für die Justierung der Skip-Maschinerie als für das eigentliche Skippen aufgebracht wird. Die pragmatische Reaktion auf die Überwältigung durch das Informationsangebot ist es, seine hypothetischen Präferenzen in die Hände eines letztlich mystischen Prozesses zu legen. Dies zeigt sich eindrücklich an den verwendeten Bildern für die Konditionierungsversuche des Algorithmischen. Hier heißt es, dass der Algorithmus noch anders »trainiert« oder »gefüttert« werden müsse. Das Subjekt steht einem undurchsichtigen Gefüge gegenüber, dessen innere Logik verborgen bleibt; einem wilden Tier, das vielleicht gezähmt aber nicht verstanden werden kann (das mythologische Pendant zum Coca-Cola-Rezept bildet gewissermaßen der gehütete Facebook-Algorithmus).[10]

Skippen als parasitäre Praxis

An dieser Stelle soll auf ein weiteres Motiv hingewiesen werden. Die Dialektik, in der eine potentiell befreiende Kulturtechnik in Zwang umschlägt, zeigt sich an ihrer Anfälligkeit für äußere Instrumentalisierungen. Das Skippen stellt dabei keine Ausnahme dar. So werden Werbeanzeigen bei Streamingdiensten, im Internet oder bei Apps zunehmend mit Countdowns versehen, die markieren, wann eine Anzeige geskippt werden kann. Bemerkenswert ist hier, dass nicht jede Form der Werbung übersprungen werden kann und die Art des Skippens genauso wie die Längen variieren: Es gibt exakte Zeitangaben wie 5 oder 30 Sekunden oder ein indirektes »nur noch ein Spot, dann geht es weiter«. Manche Internetseiten fordern, dass ein Werbe-Clip gesehen werden muss, bevor eine Seite besucht wird; sobald dabei z. B. auf einen anderen Browsertab gewechselt wird, stoppt die Wiedergabe. An anderen Stellen schließlich wird das targeting den*die Rezipient*innen selbst überlassen, die*der bspw. eines aus vier Videos wählen muss. Der paradoxe, aber höchst effektive Imperativ dabei lautet in allen Fällen: »Schau hin, um nicht mehr hinschauen zu müssen«. Die Aussicht auf ein vermeintlich intendiertes Skippen wird hier in determinierte Formen gelegt, um paradoxerweise die Aufmerksamkeit auf jene Inhalte zu errichten, die gerade als störend empfunden werden. Die vermeintliche Entscheidung wird zum double blind, fängt nur noch einen Reiz zur Umgehung ein und verkehrt gerade ihren Sinn.

Eine individualistische Technikkritik, die in der Praxis des Skippens bloß eine schlechte Angewohnheit infolge einer verkürzen Aufmerksamkeitsspanne diagnostiziert, verkennt die Durchdringung alltäglicher Wahrnehmungsstrukturen durch technologische Logik. Da überdies moderne Sozialbeziehungen selbst technisch vermittelt sind, sind auch sie anfällig für das »Skippen«. Mehr noch, ich möchte vorschlagen, die Kulturtechnik des Skippens als parasitäre Praxis zu begreifen, insofern technologische Wahrnehmungs- und Handlungsmuster auf soziale Interaktionsmuster überspringen und diese infiltrieren. Ins Soziale gewendet droht Skippen zur kalten Indifferenz zu werden, wie es als Extremform im sogenannten ghosten auftritt. Skippen im Zwischenmenschlichen zeigt sich als Stummschalten, Blockieren, Abbrechen – swipe left.[11]

Allerdings greift eine Kulturkritik zu kurz, nach der die Praxis des Skippens nur noch Symptom einer Gesellschaft sei, die Dauer nicht mehr aushält. Jene Heideggerianische Technikkritik am Skippen, wie sie mit Han formuliert werden kann, verspielt das kritische Moment der Auslassung und des Aussetzens. Es kann nicht um eine neue, dabei doch letztlich reaktionäre (Wieder-)Entdeckung der Langsamkeit gehen. Vielmehr findet sich an der Praxis selbst etwas Widerständiges, das noch nicht völlig durch technologische Sachzwänge determiniert ist. Die in der Praxis des Skippen eingefasste Dialektik wird durch die technologischen Intensivierungen zwar exponiert, aber nicht geschaffen. Das heißt, die Praxis ist nicht vollständig technisch determiniert. Sodann gilt es, jene Reste und Fragmente freizulegen, in denen ein nach wie vor kritisches und sich entziehendes Moment aufscheint. Skippen vermag dann ein feiner Zug im Spiel der Aufmerksamkeitsökonomie sein, gar eine »Taktik« in dem Sinne wie sie de Certeau in seinem Werk Kunst des Handelns der »Strategie« entgegenstellt:

»Sie [die Taktik M.D.] muss mit dem Terrain fertigwerden, das ihr so vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert. […] Sie profitiert von ›Gelegenheiten‹ und ist von ihnen abhängig; […] Dieser Nicht-Ort ermöglicht ihr zweifellos die Mobilität – aber immer in Abhängigkeit von den Zeitumständen –, um im Fluge die Möglichkeiten zu ergreifen, die der Augenblick bietet. […] Sie ist die List selber.«
(de Certeau 1988:89)

Taktiken finden sich nach de Certeau in alltäglichen Praktiken, die nicht restlos dem Zugriff durch äußere Gewalt ausgeliefert sind, sondern Spielräume auf unvorhersehbare Weise nutzen. Fernab aller kulturkritischer Einschätzung und technologischer Dystopien erinnert de Certeau daran, dass es möglich ist, aus einer Notwehr eine List zu machen.      

© Marvin Dreiwes

Literatur

  • Abbt, Christine, and Tim Kammasch. 2009. Punkt, Punkt, Komma, Strich? – Geste, Gestalt und Bedeutung Philosophischer Zeichensetzung. Bielefeld: Transcript.
  • Baumann, Zygmunt. 1997. Flaneure, Spieler und Touristen: Essays Zu Postmodernen Lebensformen. Hamburg: Hamburger Edition.
  • Benjamin, Walter. 1963. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
  • Burckhardt, Martin, and Dirk Höfer. 2015. Alles und Nichts. Ein pandämonium digitaler Weltvernichtung. Berlin: Matthes & Seitz Berlin.
  • de Certeau, Michel. 1988. Die Kunst des Handelns. Berlin: Merve Verlag.
  • Görland, Stephan O. 2020. Medien, Zeit und Beschleunigung. Mobile Mediennutzung in Interimszeiten. Wiesbaden: Springer VS.
  • Han, Byung-Chul. 2015. Duft der Zeit. Ein Philosopischer Essay zur Kunst des Verweilens. 15. Auflag. Bielefeld: Transcript Verlag.
  • Lupinacci, Ludmila. 2021. »Absentmindedly Scrolling through Nothing«: Liveness and Compulsory Continuous Connectedness in Social Media.« Culture & Society 43(2):273–90. doi: 10.1177/0163443720939454.
  • Maschewksi, Felix/Nosthoff, Anna-Verena. 2020. Über Die Unfestgelegtheit Des Menschen im Zeitalter seiner Profilierung. Überlegungen zur Frage: Welche Technik?” S. 57–74 in Welche Technik?, hrsg. von B. Recki. Dresden: Text & Dialog.
  • Polly, Jean Armour. 1992. »Surfing the Internet 1.0.« Wilson Library Bullentin.
  • Rosa, Hartmut. 2012. Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. 9. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
  • Werner, Florian. 2014. »Auf Zur Jagd! – Friedrich Nietzsche und die Tatort-Musik als Geburt der Tragödie.« S. 49–62 in Der Tatort und die Philosophie. Schlauert werden mit der beliebtesten Fernsehserie, hrsg. von W. Eilenberger. Stuttgart: Tropen.

[1]    Den gedanklichen Anstoß für diesen Text gab ein Interview, das Marius Remmert und Verena Stürzebecher im Rahmen ihrer Masterarbeit »s_kip« zum Thema »Skippen« mit mir durchgeführt haben. Ihnen sei für das Bereitstellen der Transkription herzlich zu danken. Die Ergebnisse ihrer Arbeit finden sich unter https://www.instagram.com/skip_instathesis/.
[2]    Im Folgenden geht es also weniger um die Benjamin‘sche Diagnose der »Zertrümmerung« der Aura, oder um die Verschiebung vom Kultwert zum Ausstellungswert.
[3]    Vgl. zum Begriff der »Aufmerksamkeitsökonomie« (Burckhardt und Höfer 2015:54–56).
[4]    Musikalisch wird diese Metapher in dem Song »Digital Sea« der US-Amerikanischen Band Thrice aufgegriffen. Hier erscheint selbst die Integrität des cartesianischen Egos bedroht, wenn es heißt: »I am drowning in a digital sea / I am slipping beneath the sound / Here my voice goes to ones and zeros / I’m slipping beneath the sound […] And the ghost of Descartes screams again in the dark / ›Oh how could I have been so wrong?‹ / But above the screams the sirens sing their song«.
[5]    So stieß beispielsweise der Versuch, den Titelvorspann des Tatorts zu modernisieren auf massive Kritik der Zuschauer*innen (Werner 2014).
[6]    Eindrücklich zeigt sich eine Ode an die Dauer in Cages Werk ORGAN2/ASLSP, das derzeit im Rahmen des John-Cage-Orgel-Projekts mit einer Gesamtspielzeit von 639 Jahren in Halberstadt aufgeführt wird.
[7]    Es ist völlig klar, dass es sich hier nur um eines von vielen ästhetisches Verfahren handelt, mit dem dieser Effekt erzielt werden kann.
[8]    Als Beispiel sei hier die vorletzte Szene aus No Country for Old Man genannt, in welcher der Auftragskiller Anton Chigurh Carla Jean Moss, die Ehepartnerin seines bereits getöteten Gegenspielers Llewelyn Moss aufsucht. Trotz Androhung zeigt der Film letztlich nicht, ob Moss von Chigurh getötet wird. Als Hinweis bleibt alleine Chigurhs prüfender Blick auf seine Schuhsohlen, um keine Blutspuren zu hinterlassen – eine Geste, die bereits im Film auftauchte.
[9]    Tatsächlich gibt es für den Wegfall der »toten Zeit« und der damit verbundenen Verdichtung der Interimszeiten erste empirische Evidenzen. (Görland 2020).
[10]   Es scheint kein Zufall zu sein, dass vermehrt Bilder von Naturgewalten wie der Flut als Metaphern für das Digitale auftauchen, die sogar zur »Sintflut« gesteigert werden (Burckhardt und Höfer 2015:50). Zur Problematisierung dieser Metaphorik (Maschewksi and Nosthoff 2020:57 f.).
[11]   Ähnliche Tendenzen lassen sich natürlich auch für die anderen genannten Praktiken beobachten: Whatsapp führte im Mai 2021 die Optionen des Spulens für empfangene Sprachnachrichten ein, sodass diese mit anderthalb- oder sogar zweifacher Geschwindigkeit abgespielt werden können. Verlangsamt werden kann sie übrigens nicht.


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