Mit Bezug auf die Mathematik sagte Bertrand Russel einst: „Seit man begonnen hat, die einfachsten Behauptungen zu beweisen, erwiesen sich viele von ihnen als falsch.“[1] Gleichwohl genießt die Mathematik seit jeher ein hohes Ansehen in unserer Gesellschaft, da sie mit ihrer Objektivität und ihrer (scheinbar) widerspruchsfreien Struktur ein Idealbild von Wissenschaft verkörpert. Nicht ohne Grund basieren viele weitere Wissenschaftsgebiete auf den Grundlagen der Mathematik, denn ob etwa die Turbinen eines Flugzeugs die zum Abheben nötige Schubkraft erzeugen, lässt sich einfach berechnen. Klare Regeln – in Beweisführung, wie auch in Berechnung – führen zum Ergebnis. Kein Wunder also, dass wir uns auf die Mathematik verlassen, sie hat uns in ihrer Anwendbarkeit niemals enttäuscht.
Bei genauerer Betrachtung müssen wir uns allerdings von diesem Ideal verabschieden und Bertrand Russell Gehör schenken. Denn so klar die Mathematik in ihrer Anwendung auch zu sein scheint, so uneinig sind sich Mathematiker*innen und Philosoph*innen seit Jahrtausenden über ihre Art und ihre Beschaffenheit.
Alter Glaube
Uneinigkeiten über die genauen Grundlagen der Mathematik gab es schon in der vorchristlichen, griechischen Philosophie. Diese Uneinigkeiten bewegten sich jedoch – stark vereinfacht ausgedrückt – zumeist in den Dimensionen, wie man geometrische Strukturen definiert, oder wie mit irrationalen Zahlen umzugehen sei. Gemeinsame Wurzeln mathematischer und philosophischer Strömungen lassen sich in dem finden, was wir heutzutage mathematischen Platonismus, oder einfach nur Platonismus nennen. Die Überzeugung, dass mathematische Objekte und Sachverhalte existieren, war Konsens. Es bestand kein Zweifel, dass eben jene auch unabhängig von Sprache und menschlicher Interaktion existieren und durch sie lediglich entdeckt, aber nicht verändert werden können. Damit war noch lange nicht entschieden, was diese mathematischen Objekte genau sind, ihre Existenz sei aber losgelöst von menschlichem Denken und damit ewig.
Nicht zuletzt Platon schrieb in der Politeia:
„[S:] Und ist nicht auch noch dies einzuräumen?
[G:] Was doch?
[S:] Daß wegen der Erkenntnis des immer Seienden, nicht des bald Entstehenden, bald Vergehenden?
[G:] Leicht einzuräumen [..] Denn offenbar ist die Meßkunst die Kenntnis des immer Seienden.
[S:] Also, Bester, wäre sie [die Geometrie] auch eine Leitung der Seele zur Wahrheit hin und ein Bildungsmittel philosophischer Gesinnung, daß man nämlich nach oben richte, was wir jetzt gar nicht geziemend nach unten halten.“[2]
Auch Kant, als Nicht-Mathematiker, widmete einen Teil seiner philosophischen Überlegungen der Mathematik. Denn auch ihm schien klar zu sein, welche Tragweite die Frage „Was für Wissen kann Mathematik erzeugen?“ mit sich bringt. Sein Fokus lag darauf, die Anwendbarkeit der Mathematik sicherzustellen, da er dies als eine ihrer zentralen Aufgaben verstand. Möglichen struktur-immanenten Problemen müsste dafür zuerst durch eine geeignete Charakterisierung der Mathematik vorgebeugt werden. Dafür charakterisiert er die Sätze der reinen Mathematik als synthetische Urteile a priori. Für Kant handelt es sich somit um Erkenntnisse, die vor jeder Erfahrung, durch eine intuitive Konstruktion ihrer reinen Anschauung, aber dennoch synthetisch, also nicht bereits durch ihre innere Begrifflichkeit zu erklären sind.[3] Abgesehen davon, dass man bis heute diskutiert, ob es synthetische Urteile a priori überhaupt geben kann, scheint diese Überlegung insbesondere für mathematisches Wissen paradox. Instinktiv würde man Mathematik als rein analytisch bezeichnen, doch nach Kant ist das nicht möglich, da mathematisches Wissen sich nicht durch ihre innere Begrifflichkeit erklären lässt. Erst über die, durch Sinne gewonnenen, inneren Anschauungsformen von Raum und Zeit lassen sich Begriffe wie z.B. „Zahl“ als Prinzip der Quantität überhaupt erst erklären. Anders als zuvor bei Platon sind damit sowohl der Verstand, als auch die Sinneseindrücke Teil der mathematischen Erkenntnisgewinnung.[4]
Spezialisierung
Wo es zu Platons Zeit noch üblich war, dass Mathematik als Wissenschaft im Rahmen der Philosophie betrieben wurde, differenzierten sich die beiden Fachgebiete über die folgenden Jahrhunderte in zwei hauptsächlich separat betrachtete Wissenschaftsbereiche. Mathematik wurde als alleinstehender Wissenschaftsbereich gelehrt. Hier wurde nun hauptsächlich an höherer Mathematik (reelle Analysis, analytische Geometrie, höhere Algebra) geforscht, wobei es immer den notwendigen Rückbezug zur Philosophie gab, auch wenn dieser nicht mehr so prominent diskutiert wurde wie zuvor. Denn um Mathematik als Wissenschaft betreiben und weiterentwickeln zu können, braucht es ein philosophisch erklärtes Verständnis ihrer Grundlagen – ein Verständnis über den wahren Charakter mathematischen Wissens. So sind Mathematiker*innen seit jeher an den philosophischen Aspekt der Mathematik gebunden, um ihre Arbeit gewissenhaft durchführen zu können. Problematisch wird es dann, wenn sich die Charakterisierung mathematischen Wissens innerhalb verschiedener Positionen derart unterscheidet, dass eine Koexistenz jener nicht mehr möglich ist. Eine Konfrontation ist in diesem Fall notwendig, da die Gesamtheit der mathematischen Forschung von der Gewissheit ihrer Grundlagen abhängt.
Besonders gut lässt sich dies an der Konfrontation von Formalismus und Intuitionismus erkennen, zwischen denen zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Grundlagenstreit der Mathematik entbrannte.
Formalismus
Der Formalismus gründet auf der seit der Antike vorherrschenden Grundvorstellung, dass das Konzept der Mathematik als Instanz außerhalb menschlicher Existenz existiert. Genauer nimmt er diesen Anspruch als Ausgang, um im Folgenden die Axiomsysteme der Logik ins Zentrum zu stellen, aus denen alle mathematischen Sätze folglich ableitbar wären. Um diese These halten zu können, setzt der Formalismus die autonome Existenz der Mathematik voraus, da die Axiomsysteme in ihrer Gänze lediglich Bestand haben können, solange die Mathematik konzeptuell absolut und damit menschenunabhängig ist. Der Formalismus, dessen bekanntester Vertreter David Hilbert ist, befasst sich genau betrachtet also nicht mit der vielseitig gestellten Frage nach ontologischer Eigenständigkeit mathematischer Objekte, sondern setzt diese indirekt voraus und möchte mathematische Wahrheit rein über formale, mathematische Strukturen und widerspruchsfreie axiomatische Systeme begründen. Konsistenz wäre in diesem Fall ausreichend, um mathematische Wahrheit als gegeben annehmen zu können.[5]
Durch die Reduktion auf logische Grundstrukturen mathematischer Axiomatik scheint sich Hilbert dem philosophischen Aspekt eben jener entziehen zu wollen. Durch die Formalisierung von mathematischen Objekten zu Zeichen und mathematischen Behauptungen zu Formeln wird nach Hilbert ein Bild der Wissenschaft ‚Mathematik‘ geliefert. Die Bedeutung mathematischer Objekte und Formeln wird dabei nicht verändert oder ihnen gar abgesprochen, sie werden durch die Formalisierung lediglich nicht mehr betrachtet.[6] Von Hilberts Standpunkt aus wäre es somit treffender, seine Position als methodischen Formalismus zu bezeichnen, da er sich nicht herausnimmt mit dem Formalismus eine Aussage darüber zu treffen, was Mathematik selbst genau ist. Sein Formalismus ist in dem Sinne als methodisch zu bezeichnen, als dass er ihn aufstellt, um Beweistheorie als Objekt-Mathematik betreiben zu können.[7] Für ihn ist die beweistheoretische Grundlagensicherung ein zentraler Teil der Mathematik, der lediglich über eine solche Formalisierung erreicht werden könne. Mathematische Wahrheit ließe sich rein unter dem Begriff der Konsistenz zusammenfassen.[8] Sein Versuch, die Widerspruchsfreiheit der Mathematik zu beweisen, indem er sie in einem Axiomsystem zusammenfasst und wiederum dessen Widerspruchsfreiheit nachweist, wurde fortan als Hilbertprogramm bezeichnet.[9] Interessant ist jedoch, dass die Widerspruchsfreiheit logisch formaler Systeme zu beweisen bis heute niemandem gelungen ist.
Intuitionismus
Im Gegensatz zu den Formalist*innen waren sich die Intuitionist*innen der Tragweite dieser Problematik bewusst und stellten ausdrücklich den mathematischen Inhalt wieder in den Vordergrund. Der Intuitionismus hat seinen Ursprung am Anfang des 20. Jahrhunderts, als Georg Cantor mit seiner Charakterisierung der Unendlichkeit die Grundlagenkrise der Mathematik ausgelöst hatte. Die Unterteilung der Unendlichkeit in abzählbar und überabzählbar löste zwar einige Probleme, erschuf gleichzeitig aber ebenso viele neue. Zum einen sorgte sie dafür, dass man endlich Aussagen über die Mächtigkeit von abzählbar unendlichen Mengen treffen konnte, zum anderen jedoch, dass die vorherige aristotelische Interpretation von Unendlichkeit, welche die mathematischen Arbeiten und Erkenntnisse der letzten Jahrtausende prägte, überholt werden musste. Aristoteles vertrat seiner Zeit die Auffassung, dass man keine Aussagen über das Aktual-Unendliche (Unendlichkeit, die zu einem endlichen Zeitpunkt existiert; also von der Unendlichkeit aus gedacht) treffen könne. Da sich alle Aussagen, die man über das Aktual-Unendliche zu treffen vermag, eigentlich auf das Potentiell-Unendliche (Unendlichkeit, die mit ewiger Zeit ewig weiter zunimmt; also vom Objekt her gedacht) beziehen. Das Aktual-Unendliche kann somit gar nicht existieren.[10] Diese Aristotelische Interpretation von Unendlichkeit hielt sich für viele Jahrhunderte. Da Cantors Definition in den 1870er Jahren weitreichende Veränderungen für den Umgang mit der Unendlichkeit in der Mathematik mit sich brachte, sahen sich viele gezwungen, die alten Konzepte neu zu denken. Der Ansicht, dass ein solches Neu-Denken notwendig war, schienen zumindest jene zu sein, die sich von dort an der konstruktivistischen Position, dem Intuitionismus, verschrieben; allen voran L.E.J. Brouwer.
Mathematische Tätigkeit wurde nun als immanent geistige Tätigkeit verstanden, die auf Grundlage einer Ur-Intuition mathematische Semantik erst konstruiert. Im absoluten Kontrast zu vorherigen Positionen haben mathematische Objekte nunmehr keinerlei Existenz unabhängig von tatsächlichen Denkprozessen. Sie werden erst durch die geistige Tätigkeit der jeweiligen Mathematiker*in erschaffen. Als Folgerung daraus würde nach dem Ableben des letzten (denkenden) Menschen ebenso die Mathematik und damit all ihre Objekte – Zahlen, Mengen und geometrische Figuren – aufhören zu existieren.
Zurückweisung eines bekannten Prinzips
Dieses Neu-Denken schloss auch einige altbekannte Prinzipien mit ein, welche nun abermals mit kritischem Blick erfasst wurden. Eine der berühmtesten und gleichzeitig weitreichendsten Änderungen gegenüber der ‚klassischen‘ Mathematikauffassung ist die Argumentation für die Ungültigkeit des tertium non datur – der Satz vom ausgeschlossenen Dritten – , wobei es sich (auch heute noch) um ein in Beweisen sehr oft genutztes Argument der Mathematik handelt. Das tertium non datur (tnd) ist ein logisches Prinzip, das besagt, dass für eine beliebige Aussage entweder sie selbst, oder ihr Gegenteil gilt. Eine dritte Möglichkeit, neben ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ sei ausgeschlossen. Dies gilt für Aussagen über die Vergangenheit oder die Gegenwart, da man über den Wahrheitswert von in Zukunft liegenden Ereignissen keine Entscheidung treffen kann. L.E.J. Brouwer erklärte dieses Prinzip für ungültig, indem er das tnd mit der Aussage gleichsetzte, dass jedes mathematische Problem lösbar sei. Da es für letztere weder einen Nachweis für noch gegen ihre Gültigkeit gibt, kann es auch keinen Nachweis dafür geben, dass das tnd gilt, so Brouwer.[11]
Durch die Zurückweisung dieses fundamentalen logischen Prinzips müssten im Umkehrschluss alle Beweise, die je mit dem tnd begründet wurden, revidiert und neu angegangen werden. Wenn Mathematik, so wie hier beschrieben, konstruktiv und nicht wie bisher angenommen autonom ist, müssten alle mathematischen Konzepte von Grund auf neu durchdacht werden.
Diese monumentale Herausforderung war dann auch Diskussionsgrundlage für den Grundlagenstreit der Mathematik. Denn die bisherigen vermeintlichen Gewissheiten, die die Mathematik über die Jahrtausende hervorgebracht hat, lassen sich nicht ohne Widerstreit ihrer Verfechter*innen für nichtig erklären.
Der Grundlagenstreit der Mathematik
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam durch L.E.J. Brouwer mit dem Intuitionismus eine konstruktive Position ans Tageslicht, die im Vordergrund die konzeptuelle Umsetzung und Anwendung der bis dato ‚klassischen‘ Mathematik scharf kritisierte. Viele Sätze, Beweisketten und Axiomsysteme wurden über die Jahrhunderte abermals neu untersucht und mit verschiedensten Techniken für ungültig erklärt, doch der Intuitionismus nahm sich etwas heraus, mit dem die Mathematik in diesem Ausmaß noch nicht konfrontiert wurde: Sie sprach ihr die autonome Existenz ab.
Zunächst konnten beide Positionen friedlich nebeneinander existieren. Das Verhältnis von Hilbert und Brouwer war zu diesem Zeitpunkt noch freundlich-kollegial, was wohl dem Umstand zuzuschreiben war, dass Brouwers Arbeiten bis 1920 ausschließlich trockener, analytischer Natur waren – vermutlich, um dem anbahnenden Konflikt auszuweichen. Erst als ein Schüler Hilberts eine emotionale Rede über Brouwers Arbeiten hielt und sie unter anderem als „Revolution“[12] der Mathematik betitelte, sah sich Hilbert in der Verantwortung, auf den Intuitionismus zu reagieren. Hilbert war es auch, der den beginnenden Streit auf persönlicher Ebene fortführte und Brouwers Arbeit nicht als Revolution, sondern als „Wiederholung eines Putschversuches“[13] bezeichnete. Von dort an verselbstständigte sich der Streit zwischen Brouwer und Hilbert und wurde zum heute bekannten Grundlagenstreit der Mathematik.[14]
Der Formalismus, der sich bemühte, sich vom philosophischen Anspruch der Mathematik loszusagen und Wahrheit und Existenz rein auf die Konsistenz formaler Systeme zu begründen, wurde von den Intuitionist*innen eben gerade für diese Taktik kritisiert. Sprache, egal ob in verbaler oder (formal-)schriftlicher Form sei nur eine Art der Mitteilung, die lediglich ein Bild der in ihr beschriebenen Aussage wiedergebe. Keinesfalls handele es sich bei den formalen Zeichenketten aber um ein Bild der Mathematik selbst.[15] Was Formalist*innen als die große Stärke ihrer Schule sahen – axiomatische Zeichensysteme führen rein dank ihrer Widerspruchsfreiheit zu Wahrheit und Existenz – wurde nicht nur als belanglos und inhaltsleere Taktik diffamiert. Sondern auch wichtige grundlegende Sätze drohten, ihre Gültigkeit zu verlieren.
Herausforderungen für den Formalismus
Die intuitionistische Annahme, dass der Inhalt der Mathematik zentral und keineswegs belanglos sei, würde die Wissenschaft um Jahre des Fortschritts zurückwerfen. Als Brouwer von seinem intuitionistischen Standpunkt aus begann, Sätze wie das tertium non datur zu widerlegen, fühlten sich Formalist*innen zunehmend angegriffen. Dass das tnd ebenso ein Aberglaube sein sollte, wie der lange herrschende Glaube an die Rationalität von π, oder die Ebenheit der Erde[16] war nichts, was die Formalist*innen hinnehmen konnten. Hinzu kam noch, dass intuitionistische Beweise auch mit den Mitteln der formalen Logik durchgeführt werden konnten, während die Umkehrung im Allgemeinen nicht galt. Die sich langsam entwickelnde intuitionistische Logik konnte dementsprechend nicht gleichwertig starke Beweise liefern, wie es sich die ‚klassische‘ Logik herausnahm. Jenes stellte sich als einer der wesentlichen Kritikpunkte seitens der Vertreter*innen des Formalismus heraus, wie in einem Kommentar Hilberts, als Antwort auf einen Vortrag von Brouwer, deutlich wird: „Mit Ihren Methoden müßten die meisten Resultate der modernen Mathematik aufgegeben werden, und für mich ist es wichtig, mehr und nicht weniger Resultate zu bekommen.“[17]
Tatsächlich – und anders als zumeist angenommen – wehrte sich Hilbert gar nicht blind gegen die Beschränkung auf das wirklich sicher Geltende in der Mathematik. Doch sah er die Richtigkeit und vor allem die Notwendigkeit, dies über einen kompletten Neuaufbau der Mathematik, im intuitionistischen Sinne, zu erreichen nicht. Natürlich könne man nicht jede mathematische Aussage ohne genauere Untersuchungen und Beweise als sicheres Wissen annehmen, die radikale intuitionistische Methode führe aber eben nur dazu, dass wir in unserer mathematischen Erkenntnis weit zurückgeworfen werden, anstatt voranzuschreiten.[18] Hilberts Taktik – sich dieser Beschränkung der Mathematik entgegenzustellen – konzentrierte sich darauf, die Gesamtheit der ‚klassischen‘ Mathematik als axiomatisches System aufzufassen und über intuitionistisch zulässige Konsistenzbeweise zu begründen.[19] Vereinfacht gesagt: Er wollte die Intuitionist*innen mit ihren eigenen Waffen schlagen. Ein Plan, der wenige Jahre später durch den Mathematiker Kurt Gödel zunichte gemacht wurde.
Gödels Unvollständigkeitssatz
Schon im Jahre 1931 bewies Gödel seinen ersten Unvollständigkeitssatz, der für viele das Scheitern des Hilbertprogramms datiert. Dieser zeigt, dass in jedem hinreichend starken widerspruchsfreien System unbeweisbare Aussagen existieren. Als Konsequenz daraus ist jedes System also entweder widersprüchlich oder unvollständig und die Widerspruchsfreiheit somit nicht beweisbar. Im Laufe der Zeit entwickelten sich weitere mathematische Sätze im Anschluss an diesen Unvollständigkeitssatz, die unter anderem von Hilbert selbst kamen.
Bemerkenswert bleibt, dass der Streit zwischen Brouwer und Hilbert zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr aktiv fortgeführt wurde. Obwohl der Unvollständigkeitssatz als fantastisches Argument für den Intuitionismus gedient hätte, galt der Grundlagenstreit zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Satzes 1931 als beendet und wurde auch nicht wieder aufgenommen.
Ende des Grundlagenstreits
Nachdem Hilbert mit aller Kraft dafür sorgte, dass Brouwer als Redakteur der hoch angesehenen Zeitschrift Mathematische Annalen entlassen wurde, zog sich Brouwer aus der Öffentlichkeit zurück. Hilbert konzentrierte sich folgend auf eine Antwort auf Gödels Unvollständigkeitssatz, denn trotz der weit verbreiteten Meinung, dass das Hilbertprogramm gescheitert war, sah er eine Chance, seine Arbeit weiterzuführen. Mangels eines aktiven Gegenspielers geriet der Streit im akademischen Tagesgeschäft weitestgehend in Vergessenheit. Der Umstand, dass die angewandte Mathematik ungeachtet der Grundsatzdiskussion weiterhin verlässlich funktionierte, wird maßgeblich dazu beigetragen haben. Das Scheitern des Hilbertprogramms war zwar ein Dorn im Auge vieler, doch einige Mathematiker*innen sahen darin lediglich die Konsequenz, dass ihre Arbeit weiterhin interessant und unvorhersehbar bleiben würde. Nur wenige – zu wenige – beschäftigten sich mit der Frage, welche Auswirkung dieser Sachverhalt auf die Stellung des Intuitionismus hatte, denn dieser behauptete seit seiner Entstehung, dass die mathematische Erkenntnis einer Beschränkung bedürfe. Obwohl er sich als durchaus mögliche Position in der Mathematik herausgestellt hatte, fand der Intuitionismus fortan kaum noch Erwähnung. Vermutlich, da er so weitreichende Folgen für alle mathematische Erkenntnis haben würde.
Neben all den mathematischen Fragen, die sich während des Grundlagenstreits der Mathematik ergaben, taten sich darüber hinaus auch zentrale philosophisch-mathematische Fragen auf. Ein wesentlicher Unterschied der sich streitenden Positionen betraf den Charakter des Wissens, dass Mathematik generieren kann. Ist es – und damit die Mathematik selbst – autonom oder konstruktiv?
Die philosophische Dimension des Streits
Tatsächlich tut sich die Mathematik in jeder Hinsicht schwer, Wahrheitsansprüchen an von ihr generiertem Wissen gerecht zu werden. Da ihre Rechtfertigung über Rückschlüsse auf elementare wahre Aussagen erfolgen muss, wird der Anspruch an Wahrheit für die Mathematik noch essenzieller. Ein Fakt, der das Scheitern eines solchen Anspruches gleichzeitig noch fataler macht. Der Formalismus, sowie der Intuitionismus haben diesen Wahrheitsanspruch an mathematisches Wissen im Grunde versucht, auf gleiche Art und Weise – über ihre Widerspruchsfreiheit – zu erfüllen. Was sich dabei unterscheidet, ist lediglich der Charakter der Mathematik. Die Formalist*innen verstehen Mathematik als etwas, das autonom existiert und vom menschlichen Denken nur entdeckt werden kann. Intuitionist*innen wiederum sehen die Mathematik als etwas speziell durch menschliches Denken Konstruiertes.
Der Versuch beider Positionen, die Widerspruchsfreiheit der Mathematik mit ihren jeweils eigenen Mitteln aufzuzeigen, war zwar legitim, doch genau aus ihren Charakterisierungen heraus auch zum Scheitern verurteilt.
Die Probleme beider Positionen
Ein kleiner Rückblick auf das Konzept der Unendlichkeit macht deutlich, wieso beide Positionen keine verlässliche Wissensproduktion gewährleisten können. Unendlichkeit – unabhängig von ihrer Nutzbarkeit in der Mathematik – ist ein notwendigerweise paradoxes Konzept. Zum einen steht es im Gegensatz zum Endlichen und zum anderen steht es niemals zu irgendetwas im Gegensatz, da es allumfassend ist. Da Mathematik mehrere Teilgebiete umfasst, die ihrerseits unendlich sind (z.B. die natürlichen Zahlen), ist auch sie selbst wiederum unendlich. Eine Eigenschaft, an denen beide Positionen im Hinblick auf ihr Ziel auf unterschiedliche Weise zwangsläufig scheitern.
Der Formalismus machte es sich unter Hilbert zur Aufgabe, mathematische Wahrheit mit Konsistenz eines Systems gleichzusetzen. Durch ein Auffassen der Mathematik in ein Axiomsystem wollte er die Widerspruchsfreiheit der gesamten Mathematik zeigen. Hier sah er sich – wie nicht zuletzt von Gödel gezeigt – mit dem Problem konfrontiert, dass man die Widerspruchsfreiheit eines hinreichend großen Systems niemals beweisen kann. Bei genauerer Betrachtung wird ersichtlich wieso: Denn Mathematik (insbesondere, wenn sie konzeptuell absolut und autonom betrachtet wird) ist unendlich und Unendlichkeit ist notwendigerweise paradox. Folglich ist die Mathematik, sofern man sie wirklich als Ganzes erfassen vermag, auch paradox – also widersprüchlich. Was dem Formalismus in seiner Arbeit also im Weg steht, ist die Tatsache, dass er Widerspruchsfreiheit eines mathematischen Systems nicht mit mathematischer Wahrheit gleichsetzten kann, denn dann könnte es mathematische Wahrheit niemals geben. So bleibt der Wahrheitsanspruch an mathematisches Wissen stets unerfüllt, was dazu führt, dass kein ‚echtes‘ Wissen in der Mathematik generiert werden kann.
Betrachtet man die Mathematik im Gegensatz dazu aus intuitionistischer Sicht, scheint sich diese Problematik zu lösen. Wenn Mathematik im menschlichen Denken konstruiert wird, kann sie allerdings nur als endliches Konzept verstanden werden. Dadurch, dass sie nicht autonom existiert und in endlichem Maße von Menschen erfasst, sondern ganz im Gegenteil erst durch das Denken der jeweiligen Menschen konstruiert wird, kann sie nur endlich sein. Menschliche Existenz ist endlich und damit auch ihre Möglichkeit des Denkens. In einem Menschenleben kann nur eine gewisse Menge an mathematischem Wissen konstruiert werden und sobald der letzte Mensch auf der Welt stirbt, tut es die Mathematik mit ihm. Alles, was der Mensch mathematisch konstruiert, kann theoretisch in einem endlichen intuitonistischen System aufgefasst werden. Da man den Paradoxa nur im Endlichen potentiell entgehen kann, wäre es für den Intuitionismus theoretisch möglich, ein widerspruchsfreies System zu konstruieren, indem Wahrheit mit Widerspruchsfreiheit gleichgesetzt werden könnte. Das würde zwar das Problem lösen, welches dem Formalismus im Wege stand, gleichzeitig aber ein neues eröffnen. Denn wenn Mathematik nur endlich konstruiert werden kann, widerspricht das der These, dass Mathematik unendlich ist. Der Intuitionismus kann die Mathematik dementsprechend nicht nur nicht in ihrer Gänze erfassen, er widerspricht sogar einer Eigenschaft, die sich zuvor als zentral für die Mathematik herausgestellt hat: ihrer Unendlichkeit.
Kein Ausweg in Sicht
Beide Positionen müssen infolgedessen große Einbußen hinnehmen, sobald sie versuchen, Wahrheit in mathematischen Aussagen sicherzustellen. Mehr noch hat sich herausgestellt, dass beide an genau diesem Anspruch, Wahrheit in potentiellem Wissen auszumachen, scheitern. Hilbert selbst forderte einst „es soll in mathematischen Angelegenheiten prinzipiell keine Zweifel, es soll keine Halbwahrheiten und auch nicht Wahrheiten von prinzipiell verschiedener Art geben können.“[20] Das ist zwar ein berechtigter, aber offensichtlich nicht haltbarer Wunsch. Zudem sind nicht einmal jene Wahrheiten, die er in ihrer Anzahl ablehnt, in der Mathematik auszumachen. Eben weil es (noch) nicht möglich ist, den Wahrheitsanspruch an Mathematik adäquat zu erfüllen. Ohne Wahrheit kein Wissen – und trotzdem schafft es die Mathematik, sich als Wissenschaftsbereich zu behaupten. Ungeachtet dessen sollte man sich dieser Grundlagenfrage bewusst sein, denn streng genommen ist alles mathematische Wissen bis jetzt nur vermeintliches Wissen. Ob es sich dabei auch um echtes Wissen handelt, bleibt noch zu klären, ebenso die Frage nach dem genauen Charakter der Mathematik. Dass wir keine eindeutige Antwort darauf finden können, ob Mathematik autonom oder konstruktiv ist, wird zu einem großen Teil an ihrer Nicht-Greifbarkeit durch ihre konzeptuelle Unendlichkeit liegen: Da wir uns ihr konstruktiv nur annähern, sie autonom aber niemals erklären können.
Die fortwährende Konsequenz
Da man der Mathematik in keinem Fall ihre Unendlichkeit absprechen kann, ist nachvollziehbar, warum der Intuitionismus mit der Zeit mehr und mehr in Vergessenheit geriet. Unter seinen Bedingungen könnte er niemals das Ziel erreichen, Wahrheit in der Mathematik als Ganzes zu begründen, sodass echtes Wissen generiert werden kann. Ebenso wie ein Grenzwert kann sich der Intuitionismus seinem Ziel immer weiter annähern, erreichen wird er es allerdings nie. Dennoch sollte man sich ebenso der Problematik bewusst sein, die eine Position mit sich bringt, die die Mathematik von vornherein als autonom versteht.
Der Grundlagenstreit der Mathematik hat die Schwächen der gegensätzlichen Positionen somit zwar offengelegt, sich ihrer auf philosophischer Ebene aber nie angenommen. Mit seinem offenen Ausgang hinterließ er Mathematiker*innen, wie Philosoph*innen mit mehr Fragen als zuvor. Daher ist es ganz besonders wichtig, sich auch auf philosophischer Ebene mit Mathematik zu befassen, denn so gerne man sich auch auf mathematisches Wissen verlassen möchte, dass es sich dabei eigentlich noch nicht sicher um ‚echtes‘ Wissen handelt, sollte man nie aus den Augen verlieren.
© Paulina Brause
Paulina Brause studiert Mathematik und Philosophie an der Leibniz Universität Hannover, wo sie sich derzeit ihrer Bachelorarbeit widmet. Zu Beginn des Wintersemesters 2021/22 arbeitete sie im Rahmen eines Praktikums am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover.
[1] Arndt Brunner, Zitate über Mathematik, https://www.arndt-bruenner.de/mathe/Allgemein/zitate.htm (Stand: 07.12.2021).
[2] Platon, Politeia, siebtes Buch, Sämtliche Werke, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2020, Stp. 527b.
[3] Vgl. Arno Schubbach, Kants Konzeption der geometrischen Darstellung, 1.1 Die Aufgabe der geometrischen Darstellung, in: Kant-Studien, Band 108, Heft 1, De Gruyter Verlag, Berlin/Boston, 2017.
[4] Vgl. Arno Schubbach, Kants Konzeption der geometrischen Darstellung, in: Kant-Studien, Band 108, Heft 1, De Gruyter Verlag, Berlin/Boston, 2017.
[5] Vgl. Gottfried Gabriel, Friedrich Kambartel und Christian Thiel, Gottlob Freges Briefwechsel, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1980, S.12: Hilbert an Frege in einem Brief datiert auf den 29. Dezember 1899: „Wenn sich die willkürlich gesetzten Axiome nicht einander widersprechen mit sämtlichen Folgen, so sind sie wahr, so existieren die durch die Axiome definierten Dinge. Das ist für mich das Criterium der Wahrheit und Existenz.“
[6] Vgl. David Hilbert, Die logischen Grundlagen der Mathematik, o.O., 1922, S.152 f.
[7] Vgl. Christian Tapp, An den Grenzen des Endlichen, Erkenntnistheoretische, wissenschaftsphilosophische und logikhistorische Perspektiven auf das Hilbertprogramm, Dissertation, Ludwig-Maximilians-Universität München, 2006, S. 138 f.
[8] Vgl. Gottfried Gabriel u.a., Gottlob Freges Briefwechsel, Hilbert an Frege: „Wenn sich die willkürlich gesetzten Axiome nicht einander widersprechen mit sämtlichen Folgen, so sind sie wahr, so existieren die durch die Axiome definierten Dinge. Das ist für mich das Criterium der Wahrheit und Existenz.“
[9] Vgl. Christian Tapp, An den Grenzen des Endlichen, S. 5.
[10] Vgl. Aristoteles, Metaphysik, zweite Abteilung, III, Holzinger Verlag, Hg. Michael Holzinger, Berlin, 2014, S. 193 ff.
[11] Vgl. Peter Hinst, Klassische, intuitionistische oder dreiwertige Logik?, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 77/Bd.31, S.65.
[12] David Hilbert, Neubegründung der Mathematik, Erste Mitteilung, Göttingen, 1922, S. 160.
[13] Ebd.
[14] Vgl. Dirk van Dalen, Der Grundlagenstreit zwischen Brouwer und Hilbert, Heldermann Verlag, Berlin, 1994, S. 208.
[15] Vgl. Arend Heyting, Die inuitionistische Grundlegung der Mathematik, Niederlande, 1931, S.106 f.
[16] Vgl. Dirk van Dalen und David E. Rowe, L.E.J. Brouwer: Intuitionismus, 2. Auflage, Springer Verlag, Hrsg. David E. Rowe und Klaus Volkert, Köln/Mainz, 2020, S.14.
[17] Dirk van Dalen, Der Grundlagenstreit zwischen Brouwer und Hilbert, Heldermann Verlag Berlin, 1994, S.209.
[18] Vgl. Dirk van Dalen, Der Grundlagenstreit zwischen Brouwer und Hilbert, S.209.
[19] Vgl. Christian Tapp, An den Grenzen des Endlichen, S.127.
[20] David Hilbert, Neubegründung der Mathematik, Erste Mitteilung, Göttingen, 1922, S.157.
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