Simon Faets
Einleitung
Ich möchte mich in meinem Beitrag mit der Verhältnisbestimmung von Solidarität und Befreiung auseinandersetzen. Diese beiden Begriffe, so die leitende These, stehen in keinem zufälligen Verhältnis zueinander, sondern sind begrifflich miteinander verschränkt. Die Verbindung der Solidarität mit dem Begriff der Befreiung ist keine äußerliche, sondern eine interne, ja intrinsische Verbindung. Denn die Solidarität ist selbst eine Form der Befreiung, ihr Sinn oder ihre Bestimmung ist die Befreiung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Von der Solidarität führt deshalb ein direkter Weg zur Befreiung, weil die Solidarität an sich ein Modus der Befreiung ist.
Die Solidarität geht jedoch nicht einfach in der Befreiung auf. Die innere Verbindung von Solidarität und Befreiung besteht nicht in einem einfachen Entsprechungsverhältnis oder einer Identität zwischen beiden. Denn obwohl die Solidarität eine Form der Befreiung von Unterdrückung ist, verkehrt sie die Freiheit, die sie erkämpft, erneut in Herrschaft und Unfreiheit. Die Solidarität führt als Form der Befreiung zur Entstehung neuer Gestalten der Unterdrückung. Diesen grundlegend dialektischen Charakter der Befreiung hat der Frankfurter Philosoph Christoph Menke in seinen Hegelstudien in der Tradition der Kritischen Theorie ins Zentrum seiner Untersuchungen gerückt (vgl. Menke 2018a, 15). In der Beschreibung der Dialektik der Solidarität beziehe ich mich daher maßgeblich auf Menkes kritische Studien.
Die paradoxe Wendung der Solidarität in ihr Gegenteil ist dabei in ihrem Begriff als soziale Praxis angelegt. Die Solidarität verkehrt sich selbst von einer – subversiven und inklusiven – Praxis der Befreiung in eine – repressive und exkludierende – Praxis der Unterdrückung, weil sie eine soziale Praxis, eine Form des Sozialen ist (vgl. exemplarisch: Menke 2018a, 48). Die Solidarität ist als befreiende Praxis der Dialektik des Sozialen, d.h. der Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft unterworfen. Bevor man diese Dialektik nicht verstanden hat, kann man auch die Solidarität in ihrer ganzen Gestalt, und das heißt: in ihrer paradoxen Gegenwendigkeit, nicht begreifen.
Dass die Solidarität als soziale Praxis notwendig von einer inneren Widersprüchlichkeit gekennzeichnet ist, die sie stets in ihr Gegenteil umschlagen lässt, bedeutet aber nicht einfach, dass sie sich selbst aufhebt. Der dialektische Charakter der Solidarität, der Solidarisierung zu Abschottung und Solidarität zur partikularistischen Fragmentierung des Sozialen werden lässt, schafft nicht gleich den befreienden Sinn der Solidarität ganz ab. Die Dialektik der Solidarität erfordert vielmehr, die Befreiung, die sich im Kampf derer ereignet, die sich solidarisch gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit zusammenschließen, neu zu denken.
Die Befreiung lässt sich vor dem Hintergrund der Dialektik der Solidarität nicht mehr als einen abschließbaren Akt verstehen, an dessen Ende eine gesicherte oder statische Form der Freiheit steht. Die Solidarität muss vielmehr kritisch die Selbstbegrenzung reflektieren, die mit ihrem sozialen Praxischarakter dauerhaft einhergeht, und sich darin als einen unabschließbaren Prozess der (Selbst)Befreiung verstehen. Das bedeutet, dass Freiheit nicht mehr als ein Zustand, sondern nur noch als Prozess, und das heißt als Befreiung gedacht werden kann (vgl. Menke 2018a, 51).
Damit ist das Programm des vorliegenden Beitrags abgesteckt: In einem ersten Schritt möchte ich im Dialog mit einschlägigen Theoretiker*innen dem Begriff der Solidarität als politischem Kampfbegriff Kontur verleihen und ihn in seiner inneren Verschränkung mit dem Konzept der Befreiung nachvollziehen. Daran anschließend werde ich in einem zweiten Schritt die Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft rekonstruieren, der die Solidarität als eine Grundform des Sozialen unterworfen ist und die Christoph Menke im Anschluss an Hegels Begriff der zweiten Natur herausgearbeitet hat. Ziel ist es zu zeigen, inwiefern sich die Solidarität in ihrem Befreiungspotential in eine Praxis der Unfreiheit und Unterdrückung verkehrt – und deshalb nicht von ihrem aporetischen Charakter loskommt. Im dritten und letzten Schritt soll daher der Begriff der Befreiung ausgehend von der biblischen Erfahrung des Exodus reformuliert werden.
Solidarität als politischer Kampfbegriff
Das Ziel der Solidarität ist die Befreiung aus der Knechtschaft. Ihr Programm ist die Bekämpfung und „Aufhebung aller Knechtschaft“ (Brunkhorst 2016, 105). Sie ist, wie die Philosophin Sally Scholz in ihrer Konzeptualisierung politischer Solidarität herausarbeitet, in einer revolutionären Praxis verwurzelt und richtet sich gegen alle Formen gesellschaftlicher Herrschaft (vgl. Scholz 2008, 20). Nach Scholz hat politische Solidarität einen oppositionellen Charakter. Auch Kurt Bayertz zufolge entsteht Solidarität in der Gegnerschaft zur Unterdrückung; sie nimmt ihren Ausgang von den Ideen des Sozialismus und ist eine antagonistische Praxis des Widerstands gegen konkrete Formen der Ungerechtigkeit (vgl. Bayertz 1999, 16). Diese kämpferische, widerständige Grundstruktur der Solidarität bringt der Soziologe Stephan Lessenich treffend auf den Punkt: „In diesem Sinne ist Solidarität zwangsläufig Kampfsolidarität: Soll sie etwas verändern, so wird sie Widerstände zu überwinden haben“ (Lessenich 2019, 105). Den genannten Autor*innen zufolge besteht ein zentrales Spezifikum der Solidarität in der Art und Weise, wie sie das soziale Band der Gemeinsamkeit und wechselseitigen Verbindung stiftet, durch das sich die Einzelnen solidarisch vereinen.
Denn es ist entscheidend, dass Solidarität nicht einfach aus der bloßen Erfahrung von Unterdrückung heraus entsteht, sondern aus der daraus folgenden Verpflichtung der Einzelnen, gegen ein wahrgenommenes Unrecht zu kämpfen und eine gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen. „Political solidarity rests on a commitment and not on the experience of oppression“ (Scholz 2008, 57). Diese Selbstverpflichtung auf einen gemeinsamen Kampf um Emanzipation und Befreiung ist dabei von Beginn an kollektiv verfasst und bildet als solche die normative Dimension der Solidarität. Die besondere Form der Relationalität, die im Kontext der Solidarität wirksam ist, ist immer schon mit dieser Normativität immanent verknüpft. „Regardless of how one becomes involved in political solidarity, making the commitment to the cause puts one in relation with others similarly committed and in opposition to at least some others in society“ (Scholz 2008, 53). Die kollektive Selbstverpflichtung vereint die solidarische Gruppe und formt normative Beziehungen der Individuen untereinander in Orientierung an den konkreten Unrechtsverhältnissen, deren Bekämpfung das gemeinsame Projekt der Gruppe bildet. „In der praktischen Verbundenheit solidarischen Handelns gibt es also immer ein Gegenüber“ (Lessenich 2019, 106).
Obwohl sich die relationale Verbindung der Solidarität in der individuellen Verpflichtung der Einzelnen widerspiegelt, die sich gemeinsam aus Verhältnissen der Unterdrückung befreien wollen, ist sie der individualistischen Auffassung des Sozialen radikal entgegengesetzt, wie sie durch den Liberalismus im Paradigma der bürgerlichen Gesellschaft propagiert wird. Die normative Verpflichtung am Grund der Solidarität ist zwar an eine individuelle Entscheidung gebunden, aber sie ist darin gerade nicht der Ausdruck einer desinteressierten, unengagierten Willkürfreiheit. Der Liberalismus begreift die bürgerliche Gesellschaft nach Marx’ berühmter Diagnose als eine Assoziation egoistischer, voneinander unabhängiger Atome (vgl. Marx 1843, 366). Die Freiheit, um die es im Liberalismus geht, ist demnach negative Freiheit: „Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade“ (Marx 1843, 364). Die negative Freiheit des Liberalismus befreit das Individuum von sozialer Verantwortung; sie setzt den bürgerlichen Privatmenschen von normativen Anforderungen frei, indem sie die individuelle Privatsphäre gegenüber sozialen und politischen Legitimationszwängen immunisiert und dadurch den Willen der Einzelnen naturalisiert. Der Liberalismus ermächtigt das subjektive Wollen als normativ indifferentes, er ermöglicht das rein egoistische Entscheiden nach privatem Belieben (vgl. Menke 2015).
Ganz anders im Fall der Solidarität: Im Gegensatz zum liberalen Freiheitsverständnis, das normativ nichts Weiteres begründet, weil Willkürfreiheit normativ buchstäblich nichts begründen kann (vgl. Menke 2018b, 123), geht aus der Entscheidung für den Kampf um Befreiung eine Form der wechselseitigen Verantwortung hervor, die zwar notwendig eine Verpflichtung der Einzelnen beinhaltet, aber darin eine kollektive Verbindung der Individuen erzeugt, die über deren Individualität entscheidend hinausgeht. Der solidarische Zusammenschluss der Einzelnen im Kampf gegen Unterdrückung verändert das Individuum wesentlich, indem er es in den Rahmen neu entstehender moralischer Beziehungen einschreibt, die durch den gemeinsamen Widerstand performativ verwirklicht werden.
Auf diese transformative Weise begründet Solidarität als eine Form der kollektiven Verantwortung positive moralische Pflichten. Sally Scholz hebt in diesem Zusammenhang besonders die Pflichten zur Kooperation, zum Aktivismus und zur Gesellschaftskritik hervor (vgl. Scholz 2008, 58), während Bayertz betont, dass Solidarität zugleich antizipatorisch und archäologisch ist: Sie nimmt im Befreiungskampf auf utopische Weise eine bessere Zukunft vorweg (Antizipation) und legt durch diesen Kampf unerschlossene Potentiale und Dispositionen des Sozialen frei, die unter der etablierten Gesellschaftsordnung begraben liegen (Archäologie) (vgl. Bayertz 1999, 20). Die Solidarität ist immer auch eine gelebte Utopie, „eine Vorwegnahme des Möglichen, ein Vorgriff auf das, was auch im Großen und Ganzen sein könnte, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse andere – nämlich solidarische – wären“ (Lessenich 2019, 108). Kurz: Das Subjekt der Solidarität bleibt im kollektiven Prozess seiner Befreiung nicht dasselbe, sondern es wird ein anderes.
Die Dialektik der Solidarität als soziale Praxis
Der Ort der Befreiung ist die bürgerliche Gesellschaft. Freiheit verwirklicht sich nirgendwo anders als im Sozialen. Deshalb ist die Solidarität eine soziale Praxis. Gerade weil die Freiheit jedoch gesellschaftlich verwirklicht wird, ist ihr bereits die Entstehung neuer Herrschaft eingeschrieben. Denn die gesellschaftliche Gestalt der Freiheit – und eine andere gibt es nicht – ist gleichzeitig die Herrschaft des Sozialen über das Individuum. „Jede Gesellschaft ist despotisch, soweit nicht etwas von außen hinzutritt, das ihren Despotismus in Grenzen hält“ (Durkheim 1991, 89f.). Nach Durkheim nimmt die Macht des Sozialen über den Einzelnen eine gleichsam naturhafte Gestalt in Form einer »moralischen Mechanik« an.
Hierin besteht die Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft, der auch die Solidarität als eine Grundform des Sozialen unterworfen ist. Die in der Solidarität erkämpfte Freiheit schlägt durch sich selbst in Unfreiheit um, denn durch ihre gesellschaftliche Institutionalisierung verselbstständigt sich die Freiheit gegenüber dem Prozess ihrer Entstehung, nämlich der Befreiung, und verkehrt sich in sozialen Zwang (vgl. Menke 2018a, 119ff.). Die in der Befreiung erkämpfte Freiheit schlägt sich, sobald sie in den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft eingeschrieben wird, „begrifflich als Machtverhältnis – genauer: als eine institutionalisierte, verfestigte Asymmetrie der Macht, und das heißt: als Herrschaft“ (Menke 2015, 279) nieder.
Denn durch ihre Einschreibung in die bürgerliche Gesellschaft wird die Freiheit gleichzeitig Teil der Ordnung des Sozialen, welche die Freiheit, die ihrem Begriff nach zunächst unbegrenzt ist, notwendig begrenzen, einhegen und disziplinieren muss. Dieses Paradox der Befreiung hat Michel Foucault im Begriff des assujettissement, also in seinem dialektischen Verständnis der Subjektivierung formuliert, und zwar als „Paradox (der Verhältnisse) zwischen Fähigkeit und Macht“ (Foucault 1984, 704). Das Paradox besteht dabei darin, dass jede Erweiterung der Freiheit durch den Erwerb neuer Fähigkeiten gleichzeitig mit der Unterwerfung unter eine neue Macht einhergeht.
Diese dialektische Dynamik des Sozialen hat Hegel im Begriff der zweiten Natur beschrieben. Indem das Individuum zum sozialen Teilnehmer wird, wird es zum Subjekt. Im Gewinn seiner sozialen Freiheit wird das Subjekt jedoch erneut der Herrschaft unterworfen, und zwar „der Knechtung durch die Macht sozialer Formen und Normen“ (Menke 2018a, 122). Das Konzept der zweiten Natur wird dabei von Hegel in seiner Theorie der Bildung entfaltet, also im Rahmen dessen, was Foucault unter dem in sich ambivalenten Begriff der Subjektivierung verstanden hat. Denn: „In der Bildung kann sich der Bürger die Befreiung aus seiner natürlichen Existenz nur so erarbeiten, dass er sich der Notwendigkeit der sozialen Existenz (…) unterwirft“ (Menke 2018a, 120). Hegels Konzept der zweiten Natur erklärt dabei, wie aus der sozialen Form der Freiheit eine neue Gestalt der Unfreiheit wird: „Das soziale Medium der Freiheit schlägt in einen Mechanismus der Knechtschaft um, weil die sozialen Regeln, durch die das Selbst von der Determinationsmacht seiner natürlichen Antriebe frei wird, sich zu quasi- oder zweitnatürlichen Mechanismen verselbständigen“ (Menke 2018a, 122f.).
Die Solidarität verkehrt sich also in ihrem Befreiungspotential in eine Praxis der Unterdrückung, nicht weil sie zu partikular und also tendenziell exklusiv oder zu rebellisch und deshalb tendenziell militant und gewalttätig ist, sondern – grundlegender – weil sie eine soziale Praxis ist. Die Solidarität begrenzt die Freiheit, zu der sie kollektiv befreit, immer schon unfreiwillig selbst, da sie der Freiheit als Teil der sozialen Ordnung die Gestalt einer zweiten Natur, also eines natürlichen Mechanismus der Unfreiheit verleiht. „Die Theorie der zweiten Natur untersucht also das monströse Laster der freiwilligen Knechtschaft, indem sie es als soziales Laster begreift – als das Laster, ja als das Monströse des Sozialen. Es geht im Begriff der zweiten Natur um den Umschlag von Freiheit in Knechtschaft als die dialektische Grundbestimmung des Sozialen: der sozialen Existenz des Subjekts“ (Menke 2018a, 121).
Die Solidarität unterliegt als Form der Befreiung notwendig der Dialektik der Befreiung, die sie innerlich – also substantiell – und nicht nur äußerlich – also akzidentell – begrenzt. Sie fällt als soziale Praxis stets erneut in die Beherrschung durch die Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaft zurück und wird somit immer wieder aufs Neue dazu herausgefordert, sich aus ihren Selbstbegrenzungen zu befreien. Die Solidarität muss sich daher als einen unabschließbaren Prozess der Selbstbefreiung verstehen, als permanente Befreiung aus den eigenen Inkonsistenzen, in die sie sich aufgrund ihres sozialen Charakters so oft verstrickt wie sie sich aus ihnen zu befreien versucht. Sofern Solidarität also eine Praxis des Widerstands ist, muss sich der Widerstand folglich auch gegen die Solidarität selbst richten. Die Befreiung aus gesellschaftlichen Verhältnissen der Unterdrückung muss als kollektiver „Effekt sozialer Beziehungen, insbesondere solidarischer Beziehungen“ (Butler 2019, 112) erst noch und wieder gegen die Dialektik erfochten werden, die sie in ihrem Inneren heimsucht.
Exodus – Solidarität als Befreiung
Das Denken der Solidarität darf an diesem Punkt aber nicht stehenbleiben. Die Dialektik der Solidarität besagt, dass die Befreiung, deren Weg und Form die Solidarität ist, durch die Solidarität selbst wieder zunichte gemacht wird. Bliebe man bei diesem – zutreffenden – Verständnis stehen, würde das Konzept der Solidarität tatsächlich in einem unauflösbaren Selbstwiderspruch gefangen bleiben. Diesem Widerspruch lässt sich jedoch, so mein Vorschlag, durch eine Relektüre der Solidarität aus der Perspektive des Exodus begegnen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist in der politischen und Sozialphilosophie eine Debatte über den systematischen Stellenwert des Begriffs des Exodus als philosophischer Konzeption entstanden (vgl. exemplarisch: Walzer 1998; Hardt/Negri 2002; Virno 2010; Hetzel 2015).
Die Perspektive des Exodus versteht dabei den befreienden Charakter der Solidarität nicht vom dialektischen Umschlag von Freiheit in Unfreiheit her, sondern ausgehend von einer grundlegend neuen Auffassung des Sozialen. Die Befreiung, die in der und durch die Solidarität geschieht, als Exodus zu interpretieren bedeutet, das Soziale auf grundsätzliche Weise neu und anders zu begreifen: Der Exodus etabliert eine neue Ordnung des Sozialen, indem er einen neuen Begriff des Volkes hervorbringt (vgl. exemplarisch: Assmann 2015). Der Exodus befreit dadurch, dass er gegen die Schicksalhaftigkeit der Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft die gänzlich neue Erfahrung des Bundes zwischen dem befreienden Gott und seinem auserwählten Volk, den befreiten Israeliten, setzt.
Im Exodus zeigt sich die paradigmatische Struktur der Relationalität, die die Solidarität kennzeichnet. Denn im Exodus, so erläutert Menke im Anschluss an Assmann, vollzieht sich die Befreiung dadurch, dass ein Bund eingegangen wird. „Der Bund befreit, weil er die freie Selbstverpflichtung jedes Einzelnen zur Treue gegenüber einem Unbedingten ist, durch die sich jeder Einzelne mit jedem anderen verbindet und damit selbst ein anderer wird“ (Menke 2018b, 91). Der Bundesgedanke begründet eine neue Idee des Volkes, denn die Befreiung der Einzelnen geschieht im Exodus notwendig durch das Kollektiv. Der Exodus setzt in der bzw. gegen die Gegenwart der alten, knechtenden Ordnung die Erfahrung einer neuen, anderen Ordnung des Sozialen, in der sich die Einzelnen in der Bindung an einen Kampf um Befreiung bereits wesentlich verändert haben. Die Solidarität vom Exodus her und auf den Exodus hin zu verstehen, rückt damit noch einmal schärfer den (sozial)transformativen Aspekt der Solidarität in den Vordergrund: „Ziel solidarischer Praxis ist demgegenüber die grundlegende, radikale Veränderung des gesellschaftlichen Systems ungleicher Möglichkeiten der Teilhabe an der Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen“ (Lessenich 2019, 99).
Der Exodus befreit die Einzelnen also, indem er ihre soziale Existenz transformiert und dadurch den Begriff des Volkes neu konstituiert. Dabei verändert der Exodus das soziale Sein des Subjekts, weil er dessen Subjektivität in der normativen Ausrichtung an einem Unbedingten, nämlich in der gegenseitigen Verpflichtung auf einen Befreiungskampf, neu bestimmt. Indem der Exodus zwischen den Einzelnen ein Band der wechselseitigen Verantwortung etabliert, bindet er ihre Subjektivität in die neu entstehende Struktur einer solidarischen Kollektivität ein. Dadurch stiftet er inmitten der alten Herrschaftsordnung ein neues Verständnis des Volkes als Gemeinschaft der Solidarität.
Solidarität bezeichnet also den kämpferischen Prozess einer Gegen-Subjektivierung. Darin ist sie ein Modus der Kritik. Die Befreiung, die sich in der Solidarität vollzieht, „richtet sich gegen die Macht der selbstproduzierten und -reproduzierten naturhaften Mechanismen des Sozialen“ (Menke 2018a, 49). Der Exodus konstituiert daher die neue Wirklichkeit des Sozialen nur dadurch, dass er im Widerstand gegen die Mechanismen der Unterdrückung die alte Ordnung des Sozialen destituiert. Die Befreiung ist also notwendig eine „Kraft der Negativität“ (Menke 2018a, 52), sie vollbringt die Schöpfung des Neuen nur in der Destruktion des Alten.
Das bedeutet, dass die Befreiung, die sich im Exodus verwirklicht, nicht eine Position im Sozialen erkämpft, also in der Sozialstruktur, wie sie bisher war. Der Exodus zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass er die bisherige gesellschaftliche Ordnung als Ganze, d.h. die tradierten „Aufteilungen des Sinnlichen“ (Rancière 2016, 41) nicht akzeptiert. Der Bund, mit dem der Exodus einhergeht, kann die alte Ordnung des Sozialen nicht adaptieren, weil er in der Gestalt „eines Anteils der Anteillosen“ (ebd.) im Rahmen der alten Ordnung gar nicht denkbar ist, sondern nur im Widerstand und in der Kritik dieser Ordnung möglich wird. Der Exodus erkämpft keinen bestimmten Status innerhalb der gesellschaftlichen Grundstruktur, sondern setzt sie aus, weist sie radikal zurück. Denn erst durch diese grundlegende Negation ermöglicht der Exodus, das Soziale erneut, also ein neues Soziales zu denken.
Literatur
Assmann, Jan: Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015.
Bayertz, Kurt: Four Uses of „Solidarity“, in: Ders. (Hg.): Solidarity, Dordrecht 1999, 3-29.
Brunkhorst, Hauke: Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, Frankfurt a. M. 2016.
Butler, Judith: Rücksichtslose Kritik. Körper, Rede, Aufstand, Konstanz 2019.
Durkheim, Emile: Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral, Frankfurt a. M. 1991.
Foucault, Michel: Was ist Aufklärung?, in: Defert, D./Ewald, F. (Hg.): Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Bd. IV, 1980-1988, Frankfurt a. M. 2005, 687-707.
Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M./New York 2002.
Hetzel, Andreas: Das Durchbrechen des Zirkels der Angst. Für eine post-souveräne Exodus-Politik, in: Klein, R. A./Finkelde, D. (Hg.): Souveränität und Subversion. Figurationen des Politisch-Imaginären, Freiburg/München 2015.
Lessenich, Stephan: Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem, Stuttgart 2019.
Marx, Karl: Zur Judenfrage, in: Marx Engels Werke, Bd. I, 10. Aufl. Berlin 1976 [1843].
Menke, Christoph: Autonomie und Befreiung. Studien zu Hegel, Berlin 2018a.
Menke, Christoph: Am Tag der Krise. Kolumnen, Berlin 2018b.
Menke, Christoph: Kritik der Rechte, Berlin 2015.
Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M. 2016.
Scholz, Sally: Political Solidarity, Pennsylvania State University Press 2008.
Virno, Paolo: Exodus, Wien/Berlin 2010.
Walzer, Michael: Exodus und Revolution, Frankfurt a. M. 1998.
© Simon Faets
Simon Faets (Mag.
theol.) war von 2016-2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rahmen des
Forschungsprojekts Zukünftige
Generationen als Leerstelle der Demokratie an der Hochschule für
Philosophie München. Er promoviert dort am Lehrstuhl für Praktische Philosophie
mit einer Arbeit zum Thema Biopolitik und
Recht. Christoph Menkes Kritik rechtlicher Normativität im Spektrum
biopolitischer Theorien.
[1] Dieser Beitrag ist die gekürzte und leicht modifizierte Version eines längeren Aufsatzes von mir, der 2020 unter dem Titel Von der Solidarität zur Befreiung. Ansätze einer Ethik der Befreiung im Anschluss an den Exodus im Tagungsband zum Forum Sozialethik 2019 Grenzgänge der Ethik und ihre Perspektiven in der Reihe Forum Sozialethik erscheint.
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