Die kommunitaristische Liberalismuskritik sei wie das Falten von Hosen, schrieb Michael Walzer vor fünfunddreißig Jahren, „transient but certain to return“. (Walzer 1990: 6) Für ihre stete Rückkehr in die politische Arena gebe es einen sozialstrukturellen Grund, der sich nicht ein für alle Mal beseitigen ließe, nämlich, kurz gesagt, die Spannung zwischen Formen gemeinschaftlicher Verbundenheit und Formen gesellschaftlicher Assoziation der Bürger in den modernen liberalen Gesellschaften. Auf der einen Seite stehen tendenziell dauerhafte, sogar generationenübergreifende Beziehungen, die auf Tradition, Familie, Nachbarschaft, auf kollektivem Gedächtnis und kollektiv geteilten Narrativen beruhen; auf der anderen Seite eher flüchtige Beziehungen, die durch Autonomie, rationales Nutzenkalkül und strategisch zielorientierte Kommunikation charakterisiert sind. Hier Stabilität, dort Dynamik, hier Verwurzelung, dort Mobilisierung, hier Zugehörigkeit zum Gemeinwohl, dort Vereinzelung durch Eigeninteressen. Die Wirklichkeit ist zwar reich an Grautönen, die sich aber aus unterschiedlichen Mischungsverhältnissen der hier idealtypisch verdichteten Gegensätze ergeben.
Walzer stellt auch fest, dass viele Kommunitaristen die besagte Spannung bereits in der liberalen Theorie angelegt sehen. Die Theoriefamilie des politischen Liberalismus hat ihren ‚Markenkern‘ in der Begründung der Grundwerte von „life, liberty and the pursuit of happiness“, um es in den Worten der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zu formulieren. Diese Formel enthält eine stufenlogische Differenzierung des liberalen Freiheitsideals. Während „life“ auf die Gewährung der Voraussetzungen individueller Selbsterhaltung verweist, wird unter „liberty“ die gegenüber der Selbsterhaltung anspruchsvollere bürgerliche Ordnung verstanden, der zufolge wir dann frei sind, wenn die individuellen Lebensziele nicht durch obrigkeitsstaatliche Willkür oder Bevormundung gebeugt werden. Der Vollbegriff des besagten Freiheitsideals wird aber erst durch das „pursuit of happiness“ erreicht, einer Synthese aus allgemeiner materieller Lebenssicherung (life) und politischer Freiheit (liberty) (Thomä 2003: 132), die auch durch den Begriff der individuellen Selbstbestimmung bezeichnet werden kann. Dieses Freiheitsideal leistet der liberalen Vergesellschaftungsform freier Assoziation unabhängiger Individuen ebenso Vorschub, wie es der Legitimation der demokratischen Herrschaftsform dient.
Die Selbstwidersprüchlichkeit liberaler Vergesellschaftung
Die Crux am liberaldemokratischen Vergesellschaftungsmodell ist nach Meinung vieler Kommunitaristen, dass sich seine Durchsetzung die eigenen Bestandsvoraussetzungen abzugraben droht. Jedenfalls beobachten Kommunitaristen mit Sorge die Auflösung von Lebensformen gemeinschaftlicher Verbundenheit und ein Nachlassen der Gemeinwohlorientierung. Das sei umso besorgniserregender, als diese Lebensformen nicht nur neben der freien Assoziation unabhängiger Individuen koexistieren. Vielmehr ist es laut communis opinio der Kommunitaristen so, dass die Individuen in den gemeinschaftlichen Lebensformen überhaupt erst die notwendige Resilienz entwickeln können, um sich auf dem gesellschaftlichen Spielfeld rationaler Egoisten behaupten zu können. Der Liberalismus sei eine „self-subverting doctrine“ (Walzer 1990: 15), betont daher auch Michael Walzer, und bedürfe folglich einer periodisch wiederkehrenden kommunitaristischen Korrektur – sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Für die meisten Kommunitaristen ist aber auch klar, dass nicht die Grundidee der liberaldemokratischen Vergesellschaftung zur Disposition steht, sondern ihre Umsetzung in die Wirklichkeit sozialer Koexistenz. Das scheint sich allerdings heute zu ändern, insbesondere auf der rechten Seite, wo die Kritik am Liberalismus sich mit einer Aufforderung zum regime change verbindet. (Deneen 2023).
Zwei Wege der Liberalismuskritik
Will man die kommunitaristische Kritik am Liberalismus – im ganzen Spektrum von eher konservativen bis zu tendentiell sozialdemokratischen Positionen – auf einen griffigen Nenner bringen, so bietet es sich an, raummetaphorisch von einer Kritik an der horizontalen Dimension liberaler Vergesellschaftung der Individuen sprechen. Damit meine ich, dass der Fokus der Kritik auf den Bedingungen und Formen sozialer Interaktion der Menschen liegt. Wir haben ja gesehen, dass es bei dieser Kritik vor allem um den Gegensatz von gemeinschaftlicher Verbundenheit und gesellschaftlicher Assoziation sowie um die jeweilige Qualität der Beziehungen geht, die durch die liberaldemokratische Vergesellschaftungsform ermöglicht werden. Man könnte auch sagen, es gehe um die Individualisierung des einzelnen durch sein Verhältnis zum anderen, und darum, wie sie durch die liberale Vergesellschaftungsform vermittelt ist. Gegenstand der Kritik ist folglich die Art der intersubjektiven Beziehungen, die von der liberalen Gesellschaft gefördert oder erschwert werden.
Nun lässt sich freilich auch eine ganz andere Variante der Kritik am Liberalismus denken. Und diese zweite Kritikvariante ließe sich in Analogie zur ersten raummetaphorisch als Kritik an der vertikalen Dimension liberaler Vergesellschaftung bezeichnen. Dabei steht weniger die Spannung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft im Vordergrund, als die Spannung zwischen unterschiedlichen Aspekten im Selbstverhältnis der interagierenden Subjekte. Und man könnte auch sagen, dieser Kritikvariante gehe es um die Individuierung des einzelnen durch sein Selbstverhältnis und darum, wie es durch die liberale Vergesellschaftungsform vermittelt ist. Das soll heißen, Gegenstand der Kritik könnte die Art der Selbstverhältnisse sein, die von von den liberalen Gesellschaften gefördert oder erschwert werden. Dem Liberalismus würde in diesem Fall eine erhebliche Gestaltungsmacht über das Selbstverhältnis des einzelnen zugestanden, nämlich dadurch, dass die Gesellschaft den Zugang zu oder den Ausschluss von bestimmten symbolischen Ressourcen und Praktiken begünstigt, die auf die Entwicklung der Persönlichkeit Einfluss haben.
Es gibt Berührungspunkte dieser beiden Kritikvarianten, die darauf beruhen, dass Persönlichkeitsentwicklung und Sozialbeziehungen intrinsisch verschränkt sind und dass folglich auch ein Zusammenhang bestehen muss zwischen der Kritik liberaler Individualisierung und der Kritik liberaler Individuierung. Trotzdem lassen sich aus ihnen jeweils ganz unterschiedliche Folgerungen im Blick auf die Krise der liberaldemokratischen Gesellschaften ziehen. Deshalb lohnt es sich auch, die beiden Kritikvarianten analytisch zu trennen. Und ich möchte mich im Folgenden allein mit der zweiten Variante befassen, mit der Kritik an der liberalen Individuierung. Dazu beziehe ich mich auf Iris Murdoch, die diese Kritik in einer für unser Thema erhellenden Weise vorgetragen hat.
Murdochs Deutung des Liberalismus als Weltanschauung
Es besteht kein Zweifel, dass die Auseinandersetzung mit dem Liberalismus ein Zentralmotiv im Werk Murdochs ist. Sie schimmert auch dort durch, wo es vordergründig um Anderes geht. Was ich als vertikale Dimension der Vergesellschaftung bezeichnet habe, formuliert Murdoch so: „[…] a considerable area of personal reflection is morally important in the sense of constituting a person’s general conceptual attitude and day-to-day ‘being’, which will in turn connect in complex ways with his more obviously moral ‘acts’. And here must be included a man’s meditation upon the conception of his own life.” (VCM, 85). Genau dieses Vermögen der „personal reflection“, von dem hier die Rede ist, wird zum Gradmesser ihrer Liberalismuskritik. Dabei ist es meines Erachtens zunächst wichtig festzuhalten, dass es ihr bei der Selbstverständigung des einzelnen auf sein „day-to-day ‚being‘“ nicht in erster Linie um eine mehr oder minder gut durchargumentierte Theorie geht, sondern recht verstandenerweise um eine Weltanschauung. Sie spricht wiederholt vom Liberalismus als einem „current view“ (VCM, 94), der eine Variante des „moral outlook“ darstelle (ME, 70), und dem ein Weltbild, ein „world picture“ entspreche (z.B. VCM, 94).
Das besagte Weltbild setzt sich so zusammen, dass sich die jeweiligen Inhalte unserer Erfahrungen zu einem sinnhaften Gestaltzusammenhang fügen. Auf welche Sachverhalte in der Welt wir aufmerksam werden, welche in uns eine affektive Resonanz erzeugen, – was wiederum Einfluss darauf hat, welche Sachverhalte wir als zusammengehörig erfahren –, was wir als Kriterien für Tatsachen annehmen (also nach welchen Kriterien wir etwas Vorgestelltes, Erfahrenes, Gehörtes für wahr halten): all dies unterscheidet Weltbilder, und dieser Unterschied sei, so Murdoch, „a total difference of Gestalt“ (VCM, 82). Eine Gestalt ist weder nur subjektiv noch nur objektiv, sondern beides, Ausdruck einer „total vision of life“ (VCM, 80), durchaus in der Doppelbedeutung von „vision“ als Resultat von Erfahrung und Imagination, von Anschauung und Begriff, von Sinnlichkeit und Gefühl. Die besagte komprehensive Vorstellung des Lebens ist im Sinne des genetivus subiectivus und obiectivus gemeint, also so, dass wir uns in unserem Lebensvollzug auf die relevanten Bewandtnisse dieses Lebens als Bewandtnisse eines uns durch die Erfahrung zugänglichen Sinnzusammenhangs beziehen.
Weltanschauung und Selbsterfahrung
Die Eigenart der „total vision“ eines Menschen bezeichnet Murdoch auch als „texture of a man’s being“ (VCM, 81). Sie macht also wesentlich aus, wer man ist und woran man einen Menschen erkennen kann. Damit räumt Murdoch ein, dass Weltanschauungen strukturell durch ein Innenverhältnis gekennzeichnet sind, denn mein Selbstverständnis ist an der Art, wie ich ‚die Welt‘ sehe, gleichsam mitbeteiligt: Wie ich erfahre, womit ich konfrontiert werde, hat Einfluss darauf, wie ich mich selbst verstehe – und umgekehrt wird sich mein Selbstverständnis sicherlich darauf auswirken, was ich überhaupt – und wie – als die relevanten Bewandtnisse meines Lebens verstehe. Mit anderen Worten: Eine Weltanschauung ist begrifflich durch eine intrinsische Wechselbeziehung von Innen und Außen charakterisiert. In diesem Sinne ist Murdoch auch bereit, die Verwendung des Ausdrucks ‚inner life‘ zu rechtfertigen. Sie schlägt vor, zwischen inneren oder privaten, aber vermeintlich introspektiv zugänglichen Phänomenen einerseits und einer privaten oder persönlichen Vision, die in persönlicher Zwiesprache oder öffentlicher Artikulation Ausdruck findet, zu unterscheiden. Nicht in dem ersteren, aber durchaus im letzteren Sinne ist sie bereit, die Rede vom inneren Leben zu verteidigen. (VCM, 78; MGM 273)
Die Weltanschauung eines Menschen zeichnet sich also durch seine konstante intellektuelle Aktivität aus, die aspektuell einerseits als Verinnerlichung eines Äußeren und andererseits als Veräußerlichung eines Inneren beschrieben werden kann, wobei die durch diese Aspekte unterschiedlich beschriebene Tätigkeit konstitutiv für ihren Gegenstand ist: Erlebtes, Widerfahrenes besitzt also einerseits, als Inneres, als für mich Seiendes, Bedeutung nur im Medium seiner Veräußerlichung: seinem Ausdruck in Sprache und Handlung. Andererseits kommt ihm als Äußerlichem Sinn nur im Medium seiner Verinnerlichung zu: seiner Reflexion durch Nachdenklichkeit und gespürte Resonanz. Das ‚Innere‘ und das ‚Äußere‘ treffen sich in der Erfahrung eines Sinnüberschusses am Bedeuteten. Eben dieser wenngleich implizit bleibende Sinnüberschuss macht die subjektive Bedeutsamkeit des Bedeuteten aus. Einerseits kennen wir die Erfahrung, wie Murdoch zu Recht bemerkt, dass „[a]t the border-lines of thought and language we can often ‚see‘ what we cannot say: and have to wait and attempt to formulate for ourselves and convey to others our experience of what is initially beyond and hidden.” (MGM, 283) Andererseits ist uns geläufig, wie sich die Augenscheinlichkeit des Alltäglichen ändert, wenn wir ihm reflektierend auf den Grund gehen: “[…] we can refine our experience, making it more and more specific, seeing more and more deeply into the sense which is before us.” (NP, 54) Zusammengefasst: „‘Inner‘ can co-exist or fuse with ‚outer‘ and not be lost. (What is inner, what is outer?) This is what thinking is like.” (MGM, 280).
Ein normativer Begriff ‚gelingender‘ Weltanschauungen
An diesem Grundgedanken hat auch Murdochs Verständnis von der total vision Anteil, die wir im Zuge des Lebens ausbilden. Sie ist nicht fix und fertig da, und ihr entspricht auch kein Weltbild in der Art eines Tafelbildes mit seiner festumrissenen Quadrierung des Rahmens. Sie ‚ist‘ überhaupt nur als eine bestimmte Weise der verinnerlichenden Reflexion und der veräußerlichenden Artikulation von gestalthaften Erfahrungen. Ihr Medium ist die innere oder äußere Zwiesprache. Dieses schöne deutsche Wort bildet in sich die schwer lösliche Einheit von Privatheit und Öffentlichkeit des Denkens ab, die Murdoch vorschwebt. Grimms Wörterbuch unterscheidet das „Gespräch zu Zweien“, „bei der oft im Beiwort das Heimliche, Intime, Vertrauliche der Aussprache betont [wird]“, vom „innere[n] Austausch eines Menschen mit sich selbst“. (Grimm 01/23, 32, 1183). Eine Weltanschauung im Sinne einer total vision bezeichnet die Ressourcen der inneren oder äußeren Zwiesprache, die unlöslich mit unserer Art Erfahrungen zu machen verknüpft sind. Die Bedeutung der Sprache wird dabei mit wachsendem Erfahrungsschatz immer idiosynkratischer werden, mehr und mehr Zeugnis jeweils dieses einen Menschen werden. In Murdochs Worten: „We do not simply, through being rational and knowing ordinary language, ‘know’ the meaning of all necessary moral words. We may have to learn the meaning; and since we are human historical individuals the movement of understanding is onward into increasing privacy, in the direction of an ideal limit, and not back towards a genesis in the rulings of an impersonal public language.” (IP, 322).
Es dürfte nun deutlich sein, dass ich bemüht bin, an Murdochs Verwendung von Ausdrücken wie „total vision“ oder „moral vision“ zunächst eine rein formale Ebene auszuweisen. Aber natürlich gibt es in praxi keine rein formalen Weltanschauungen, sondern stets nur diese oder jene inhaltliche Auffassung davon, etwas lax formuliert, ‚wie es um uns steht‘. Und wenn ich Murdoch richtig verstehe, dann müsste nicht nur unser Sprachgebrauch, dann müssten auch diese Weltanschauungen sich immer weiter ‚idiosynkratisieren‘, also eine zunehmend individuelle Ausformung finden, weil sich in ihnen Menschen im Zuge ihrer Persönlichkeitsentwicklung individuieren. Es müsste dann auch für Weltanschauungen gelten, was Murdoch über die Allgemeinausdrücke unserer Sprache geschrieben hat: „My view might be put by saying: moral terms must be treated as concrete universals. And if someone at this point were to say, well, why stop at moral concepts, why not claim that all universals are concrete, I would reply, why not indeed? Why not consider red as an ideal endpoint, as a concept infinitely to be learned […]?” (IP, 322f)
Murdochs Kritik am Liberalismus als Weltanschauung
Das bringt mich zurück zu Murdochs Kritik am Liberalismus als Weltanschauung. Denn Murdochs moralpsychologische Liberalismuskritik wirft dem Liberalismus vor, dass er inhaltlich das negiert, was ihn formal als Weltanschauung auszeichnet. Er negiert die Bedeutsamkeit des inner life für unser Verständnis dessen, wer wir sind. Er sistiert die Persönlichkeitsentwicklung. Es gehört demnach zum Innenleben des Liberalisten, diese Dimension der Vergesellschaftung, nämlich Individuierung durch Bildung und Nuancierung des Selbstverhältnisses, als moralisches Projekt preiszugeben. Laut Murdoch gehört zur DNA des Liberalismus, die symbolischen Ressourcen, die für dieses moralische Projekt notwendig wären, man könnte mit Charles Taylor sagen: durch eine „reduktionistische, häufig soziobiologisch ausgerichtete Erklärung“ (Taylor 1989, 9) des Inneren zu entwerten. Denn der Liberalismus sucht sich laut Murdoch Schützenhilfe bei einer positivistischen Wissenschaftlichkeit, die einer ernsthaften moralischen Berücksichtigung von Innerlichkeit keinen Raum lässt. Ihre Invektiven gegen die analytische Ethik ihrer Zeit haben m.E. vor allem den Sinn, das Junktim zwischen wissenschaftlichem Positivismus und politischem Liberalismus nachzuweisen.
Wenn ich sie also auch hierin richtig verstehe, dann unterscheidet Murdoch formal zwischen zwei Typen von Weltanschauungen: zwischen dem Typus einer die personale Individuierung fördernden Weltanschauung und dem Typus einer die personale Individuierung eher erschwerenden Weltanschauung. Und wenn es sich bei diesen beiden Typen darüber hinaus um Typen einer politischen – oder zumindest politisch folgenreichen – Weltanschauung handelt, dann betrifft diese Unterscheidung zugleich Modi der Vergesellschaftung, nämlich einerseits den Modus der individuierungsförderlichen Vergesellschaftung und andererseits den Modus der individuierungshinderlichen Vergesellschaftung. Der Liberalismus ist für Murdoch ein Fall der letzteren Variante. Das ist gedanklich umso anregender als, wie ich anfangs unter Verweis auf die US-amerikanische declaration of independence hervorgehoben habe, der zentrale Wert des Liberalismus gerade die individuelle Selbstbestimmung ist. Individuierungshinderlich ist die liberale Auffassung der individuellen Selbstbestimmung Murdoch zufolge deshalb, weil sie diese unter Vermeidung von Begriffen der Innerlichkeit und des inneren Lebens verstehen will und sie daher in einem Selbst verankert, das „dünn wie eine Nadel“ (GG, 343) sei (den Hinweis verdanke ich Hannah Wendt – M.S.) und von Charles Taylor als “punktförmig“ bezeichnet worden ist (Taylor 1989, 171): als ausdehnungslose Faktizität einer Selbstbezüglichkeit. Hier, in politischen Gefilden, erscheint das Selbst entsprechend nur noch als Selbstbezüglichkeit eines Willes, der sich zum Maß der Selbstbestimmung macht und dessen Ausübung sich anschließend nur noch nach den Konformitätskriterien gesellschaftlichen Regelwissens zu richten hat.
Mit dieser Kritik steht Murdoch aktuellen Theoretikern nahe wie – um nur einen besonders hervorzuheben – Raymond Geuss, der seine Empfehlung, nicht wie ein Liberaler zu denken, nicht nur mit theoretischen Argumenten gegen das punktförmige Selbst im Gefolge Lockes und Humes verbindet, sondern seine Liberalismuskritik dem Leser auch formal-stilistisch durch die Verschränkung seiner Argumente mit dem Narrativ der eigenen, persönlichen Bildungsgeschichte ansinnt (Geuss 2022). Geuss ruft sozusagen sein inner life zum Zeugen gegen den Liberalismus auf.
Auf der Suche nach einem anderen Liberalismus
Abschließend möchte ich noch eine Frage aufwerfen. Wenn es denn so sein sollte, dass der Liberalismus laut Murdoch einen Typus von Weltanschauung verkörpert, der die Individuierung des Einzelnen erschwert, weil er seine Vergesellschaftung in die Richtung der Assoziation punktförmiger Selbste lenkt, was verkörpert dann den anderen Typus, denjenigen, der der vertikalen Dimension der Vergesellschaftung eher gerecht wird? Es soll jedenfalls keine antiliberale oder illiberale Weltanschauung sein, denn Murdoch bekennt sich unmissverständlich zur individuellen Freiheit und ihrem Schutz sowie zur politischen Freiheit der partizipativen Demokratie (vgl. MP). Ich glaube, dass sich Iris Murdoch einer Antwort selbst nicht so sicher gewesen ist. Folgen wir ihr, so müssen wir sie jedenfalls in jenem Ausschnitt unserer kulturellen Traditionen suchen, die der Selbstbezüglichkeit des punktförmigen Selbst eine Absage erteilen, die uns zur Arbeit an der Innerlichkeit anhalten, die uns dafür Kriterien bereit stellen, wie man diese Arbeit besser oder schlechter macht, und die uns Exercitien an die Hand geben, um sie einzuüben – die uns also, mit einem letzten Wort – ein Handlungswissen vermitteln, das es uns ermöglicht, an unseren Erfahrungen zu wachsen, aber eben auch: in unsere Erfahrungen hineinzuwachsen, ihnen immer besser gerecht zu werden, immer empfänglicher zu werden für das, was wir aus ihnen lernen können.
© Magnus Schlette
Siglen
GG Iris Murdoch, “On ‘God’ and ‘Good’”, in: dies., Existentialists and Mystics, New York 1999, 337 – 362.
IP Iris Murdoch, „The Idea of Perfection”, in: dies. Existentialists and Mystics, New York 1999, 299 – 336.
ME Iris Murdoch, “Metaphysics and Ethics”, in: dies., Existentialists and Mystics, New York 1999, 59 – 75.
MGM Iris Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, New York 1993.
NP Iris Murdoch, “Nostalgia for the Particular”, in: dies., Existentialists and Mystics, New York 1999, 43 – 58.
VCM Iris Murdoch, “Vision and Choice in Morality”, in: dies., Existentialists and Mystics, New York 1999, 76 – 98.
Sonstige Literatur
- Patrick J. Deneen, Regime Change. Towards a Postliberal Future, New York 2023.
- Raymond Geuss, Not Thinking like a Liberal, Havard University Press: Cambridge/London 2022.
- Charles Taylor, Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Havard University Press, Cambridge 1989.
- Dieter Thomä, „Selbstbestimmung, Selbsterhaltung und Glück. Über den Utilitarismus, Nietzsche, Max Weber, Heidegger und die Nachlässigkeit der Demokratie“, in: ders., Vom Glück in der Moderne, Frankfurt (Main) 2003, 131 – 269.
- Michael Walzer, „The Communitarian Critique of Liberalism”, in: Political Theory, vo. 18, 1990 (1), 6 – 23.
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