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Ökologisierung versus Globalisierung – Ein Diskussionsimpuls

Veröffentlicht am 17. April 2024

Von Jürgen Manemann

Impulsvortrag auf der Konferenz „Menschenwürdige Globalisierung“ am 13. September 2023 im Weltethos-Institut in Tübingen

I. Hinführung

Ich bin gebeten worden zum Thema „’Menschenwürdige Globalisierung‘ – im Spiegel der weltweiten ökologischen Krise: Was können, was sollen, was müssen wir tun?“ zu sprechen. Mein Impuls ist ein Appell. Und beginnen möchte ich diesen Appell mit einem Zitat der Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari:

Begriffe „müssen erfunden, hergestellt oder vielmehr erschaffen werden und wären nichts ohne die Signatur derer, die sie erschaffen haben. Nietzsche hat die Aufgabe der Philosophie bestimmt als er schrieb: Die Philosophen ‚müssen sich die Begriffe nicht mehr nur schenken lassen, sie nicht nur reinigen und aufhellen, sondern sie zuallererst machen, schaffen, hinstellen und zu ihnen überreden. Bisher vertraute man im ganzen seinen Begriffen, wie als einer wunderbaren Mitgift aus irgendwelcher Wunder-Welt‘, aber man muß das Vertrauen durch Mißtrauen ersetzen, und gerade den Begriffen muss der Philosoph am meisten mißtrauen, solange er sie nicht selbst erschaffen hat (…).“[1]

Begriffe sind eine „Mannigfaltigkeit“ (Deleuze/Guattari). Sie besitzen nicht nur eine Komponente, sondern mehrere. Mannigfaltig sind Begriffe nicht zuletzt deshalb, weil sie eine Geschichte haben. Das gilt im Besonderen für den Begriff der Globalisierung. Der Begriff „Globalisierung“ weist über seinen reinen Bedeutungsinhalt hinaus und geht mit einer Aufforderung einher. Über Globalisierung lässt sich also schwerlich nur reden. Im Reden über sie schwingt, wenn auch häufig unausgesprochen, der Wunsch nach Globalisierung mit. Globalisierung ist also auch ein Appellbegriff, ein Plädoyer für ein kosmopolitisches Bewusstsein, das sich – so die gängige Vorstellung – auf der Basis eines weltweiten wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und religiösen Austausches über Grenzen hinweg einstellen möge. Und er ist mehr als das: „Globalisierung“ – dieser Begriff besitzt eine Gestaltungsmacht.

II. Globalisierung

Unter dem Begriff „Globalisierung“ werden häufig Prozesse subsumiert, die als Produkte verschiedener Modernisierungspfade verstanden werden, welche zu einer Verbesserung materieller Produktionsbedingungen geführt und gleichzeitig interkulturelle Vernetzungen gefördert haben. Diese Prozesse werden nicht erst heute aus der Perspektive einer ökologischen Krise einer Kritik unterzogen. Bereits in den globalisierungskritischen Bewegungen wurde nicht nur, aber auch mit dem Hinweis auf Naturzerstörungen das hegemoniale Verständnis von Globalisierung radikal kritisiert und als Ausdruck eines hegemonialen kapitalistischen Modells abgelehnt.[2] Bei diesen Kritiken handelte es sich um externe Kritiken, die aus Lebensformen hervorgingen, die sich ausdrücklich als Gegenöffentlichkeiten verstanden.[3] Diese Bewegungen kämpften für eine andere, eine „menschenwürdige Globalisierung“ (so der Titel der heutigen Tagung). In diesem Kampf ging es v.a. darum, „Demokratie neu zu definieren, also Umfang und Tiefe des demokratischen Horizonts auszuweiten“[4]. Aus globalisierungskritischer Perspektive betrachtet, soll nicht von Globalisierung gesprochen werden, ohne dabei die Fragen zu beantworten: Wer spricht, wie, warum und mit welcher Absicht von „Globalisierung“?

Es gibt aber auch eine interne Kritik im Diskurs über Globalisierung, die sich v.a. der Wahrnehmung der Klimakatastrophe verdankt. So formulieren Vertreter*innen der Vorstellung einer „Weltrisikogesellschaft“ eine immanente Kritik, durch die die bisher zugrunde gelegten Modernisierungsvorstellungen Risse bekommen, die nicht mehr zugedeckt werden können.[5] Modernisierung, so die Erkenntnis, sei in ihrem Kern reflexiv, und das heiße, nicht mehr steuerbar. Modernisierung wirke nämlich schon längst auf Modernisierung zurück, indem sie unbeabsichtigte Nebenfolgen hervorbringe, auf die nationale und globale Akteure nun ständig reagieren müssen.[6] Die Vorstellung von der Linearität der Modernisierungspfade war – aus dieser reflexiv-modernisierungstheoretischen Perspektive betrachtet – nicht länger haltbar. Und so avancierte die Idee der globalen Gesellschaft zur Vorstellung einer kosmopolitischen „Weltrisikogesellschaft“. Grundprinzip dieser Weltrisikogesellschaft

„sind von Menschen hergestellte, antizipierte Gefahren, welche sich weder räumlich noch zeitlich, noch sozial eingrenzen lassen. Auf diese Weise werden die Rahmenbedingungen und Basisinstitutionen der Ersten, industriellen Moderne – Klassengegensatz, Nationalstaatlichkeit sowie Vorstellungen eines linearen, technisch-ökonomischen Fortschritts – aufgehoben.“[7]

Dabei werden zwei Akteure unterschieden: zum einen Akteure einer „Globalisierung von oben (z.B. durch internationale Verträge und Institutionen), zum anderen [Akteure einer] Globalisierung von unten (z.B. durch neue transnationale Akteure jenseits des politisch-parlamentarischen Systems, die die etablierten Organisationen und Interessengruppen in Frage stellen)“[8]. Staaten werden im Konzept der Weltrisikogesellschaft als „Gefahrengemeinschaften“ wahrgenommen. Ausgangspunkt dieses Diskurses sind Risiken. Merkmale globaler Risiken sind: Delokalisation, Unkalkulierbarkeit und Nicht-Kompensierbarkeit.[9] Dabei werden Risiken von Katastrophen unterschieden, geht es doch beim Risiko um die Antizipation der Katastrophe als „umstrittene Wirklichkeit der Möglichkeit“[10]. In diesem Zusammenhang wird die Klimakatastrophe als drohende, aber noch nicht reale Katastrophe aufgefasst.[11]

Meine These ist nun, dass es angesichts der bereits realen ökologischen und klimatischen Katastrophe eines Paradigmenwechsels bedarf. Meines Erachtens sollte das Paradigma der Globalisierung durch das Paradigma der Ökologisierung ersetzt werden. Anders als „Globalisierung“ steht „Ökologisierung“ für einen nach-anthropozentrischen Diskurs, in dessen Zentrum nicht mehr Modernisierungspfade stehen, sondern verschiedene „Wohnpfade“.

III. Ökologisierung

3 bis 3,6 Milliarden Menschen leben in Umständen, die durch die ökologische und klimatische Krise „hochgradig gefährdet“ sind, so nachzulesen im Bericht des Weltklimarates. Jeden Tag sterben bis zu 150 Tier- und Pflanzenarten aus. Die ökologische und klimatische Katastrophe ist nicht etwas, das noch aussteht. Angesichts dieser Katastrophe heißt von Ökologisierung zu sprechen – und hier beziehe ich mich auf Bruno Latour und Nikolaj Schultz –, nicht in erster Linie von Produktions-, sondern von „Bewohnbarkeitsbedingungen“[12] zu sprechen.

Im Zentrum des Diskurses über die Weltrisikogesellschaft steht das Nichtwissen. Im Zentrum des Diskurses über die Ökologisierung steht das Nicht-Verstehen. Sind wir in der Lage, das Wissen, das wir über die ökologische und klimatische Katastrophe besitzen, wirklich zu verstehen? Wenn nicht, können wir es dann überhaupt wissen? Der Diskurs über die Ökologisierung rückt das Verstehen in den Fokus des Erkennens, weil Verstehen ein aktiver Vorgang ist, der sowohl kognitive als auch emotionale Gehalte beinhaltet. Nun übersteigt aber die Situation, in der wir uns befinden, unseren Verstehenshorizont. Wie soll ich mir vergegenwärtigen, dass jeden Tag bis zu 150 Tier- und Pflanzenarten aussterben? Allein die Dimensionen überfordern mein Fassungsvermögen. Gleichzeitig weiß ich nicht einmal, was für einen Verlust ich beklagen soll, da ich diese vielen Tiere und Pflanzen ja gar nicht kenne. Dennoch muss ich versuchen, zu verstehen, was um mich herum geschieht. Ich muss versuchen, das Nichtfassbare imaginativ zu repräsentieren.

Wie soll ich aber zum Wissen um den Verlust der Insekten in ein empathisches Verhältnis treten, das mich zum Handeln motiviert, wenn ich in eine Zivilisation hineinsozialisiert wurde, in der beispielsweise Insekten zu einer amorphen Verfügungsmasse, zu „Biomasse“ degradiert wurden? Ganz zu schweigen von den Milliarden Menschenleben, die bedroht sind? Um diese Dimensionen zu verstehen, müssten die Statistiken in Narrative transformiert werden – eine Unmöglichkeit. Und so droht die Gefahr, dass die Bedrohung bloße Statistik bleibt. Der Technikphilosoph Günther Anders hat schon vor vielen Jahren – angesichts von Hiroshima und Nagasaki – die Frage gestellt, ob wir nicht mittlerweile in einer Welt leben, die nicht mehr die unsrige ist, die nicht für uns gebaut ist, obwohl sie von uns erbaut ist, die nicht für uns produziert, aber von uns produziert ist.[13] Unser Vorstellungsvermögen hält nicht mehr Schritt mit unserem Herstellungsvermögen. Wir sind in der Lage, mit unseren Techniken Tausende zu töten, zu beweinen und betrauern vermögen wir aber immer nur einzelne.[14] Um den Graben zwischen dem Vorstellen und Herstellen nicht zu vertiefen, kommt es deshalb darauf an, die strikte Trennung von Wissen und Sinnlichkeit aufzubrechen.[15]

Aus diesem Grund wurzelt der Diskurs der Ökologisierung in einer Empfindlichkeit für das, was uns umgibt. Vor meinem Fenster, auf meinem Balkon, in meinem Garten sehe ich, dass es immer weniger Insekten und Vögel gibt. Ich spüre die trockene Erde. Ohne eine solche Sensibilität kann die Krise und das Paradigma der Ökologisierung nicht verstanden werden.

Schwindet sinnliche Erfahrung, dann schwindet Wirklichkeitsbewusstsein.[16] Dann entstehen Entfremdungserscheinungen. Entfremdung ist, so die Philosophin Rahel Jaeggi, eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“. Diese Beziehung zernichtet resonante Weltbeziehungsverhältnisse, ohne die keine Bewohnbarkeitsbedingungen gerettet, geschweige denn neue geschaffen werden können. Ist (sinnliche) Erfahrung zerstört, so hat es Ronald D. Laing dargelegt, wird Verhalten zerstörerisch.[17] Sinnliche Erfahrungen schützen uns vor Gleichgültigkeit. Sie erschließen Welt vom Besonderen her. Ohne sie, darauf hat der Philosoph Michael Hauskeller hingewiesen, trocknen unsere moralischen Grundsätze aus, denn sinnliche Erfahrungen sind die Quelle unserer Moralität.[18] Hauskeller betont zu Recht, dass „abstraktes Wissen (…) immer Wissen des Allgemeinen [ist], niemals des Besonderen. Wirklich aber ist nur das Besondere, nicht das Allgemeine“[19]. Und er warnt, dass allgemeines, abstraktes Wissen uns nicht davor schützt, andere Menschen und nicht-menschliche Lebewesen zu verletzen.[20]

Deshalb benötigen wir eine sinnliche Erkenntnis. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie aufgrund der Nähe, die sie zu den Menschen, den Tieren, den Pflanzen und zu allem, was sie wahrnimmt, besitzt, nicht nur ein Wissen hat, sondern auch eine Erfahrung. Durch sinnliche Erkenntnis werden Menschen in die Lage versetzt, wahrzunehmen, dass dieser Mensch nicht ein Alter Ego ist, sondern einen Eigennamen besitzt, mithin ein Anderer ist, dass dieses Tier nicht bloß Vieh ist, dass diese Pflanze nicht bloß Gewächs ist, sondern dass dieser Mensch, dass dieses Tier, dass diese Pflanze etwas ist, das jeweils sein bzw. ihr Leben leben will.[21]

Das Paradigma der Ökologisierung setzt bei solchen Singularisierungen an. Diese können zur Erfahrung von Erschließungsereignissen avancieren: zu tiefgründigen Erfahrungen, welche sich wiederum handlungsmotivierend auswirken. Es sind solche Erfahrungen, durch die Menschen geradezu genötigt werden, anders zu leben, damit Andere und Anderes überhaupt überleben können.[22]

Albert Schweitzer widerfuhr ein solches Erschließungsereignis 1915 während einer Flussfahrt zur Station N‘Gômô:

„Monatelang lebte ich in einer stetigen inneren Aufregung dahin. Ohne jeglichen Erfolg ließ ich mein Denken in einer Konzentration (…). Ich irrte in einem Dickicht umher, in dem kein Weg zu finden war. Ich stemmte mich gegen eine eiserne Tür, die nicht nachgab. (…) Schon war ich erschöpft und mutlos. Wohl sah ich die Erkenntnis, um die es sich handelt, vor mir. Aber ich konnte sie nicht fassen und aussprechen. In diesem Zustande mußte ich eine längere Fahrt auf dem Fluß unternehmen. (…) Geistesabwesend saß ich auf dem Deck des Schleppkahnes, um den elementaren und universellen Begriff des Ethischen ringend, den ich in keiner Philosophie gefunden hatte. (…) Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das Wort ›Ehrfurcht vor dem Leben‹ vor mir. Das eiserne Tor hatte nachgegeben: der Pfad im Dickicht war sichtbar geworden.“[23]

Schweitzer beschreibt den eigenen Körperzustand als müde, seine Gemütslage als verzagt, mutlos – ein geschwächtes Ich. In der Situation dieser Ich-Schwäche steht ihm plötzlich diese Maxime vor Augen,[24] gleichzeitig weiß er sie jedoch auch empirisch widerlegt, kenne doch die Natur, so Schweitzer, eine solche Ehrfurcht nicht: „Sie bringt tausendfach Leben hervor in der sinnvollsten Weise und zerstört es tausendfach in der sinnlosesten Weise.“[25] Nur der distanzierte Blick, der aufs Ganze zielt, vermag darin einen Sinn zu erkennen, weil er das einzelne Leid im Leben der Art aufgehoben weiß.[26] Nicht so Schweitzer: Er nimmt die Wucht des Leidens der einzelnen Existenz und die Sinnlosigkeit wahr, ohne dabei die Gültigkeit der „Widerlegung“ der Maxime zu bestreiten.

Ein solches Erschließungsereignis, das zur Anerkenntnis der Ehrfurcht vor dem Leben führt, kann sich nur innerhalb einer „lebendigen Beziehung zu lebendigem Leben“[27] einstellen. Es ist diese Beziehung, in der „die unmittelbarste und umfassendste Tatsache des Bewusstseins“ erfahrbar wird, die in Schweitzers Worten lautet: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“[28] Das ist für Schweitzer kein „ausgeklügelter Satz“. Er schreibt:

„Tag für Tag, Stunde für Stunde wandle ich in ihm. In jedem Augenblick der Besinnung steht er neu vor mir. Wie aus nie verdorrender Wurzel schlägt fort und fort lebendige, auf alle Tatsachen des Seins eingehende Welt- und Lebensanschauung aus ihm aus.“[29]

Diese Erkenntnis lässt sich weder abstrakt deduzieren noch normativ zwingend einfordern.[30] Sie gründet in „Erschließungsereignissen“[31]. Solche Ereignisse sind nicht spezifischen Menschen vorbehalten, sondern werden auf unterschiedliche Art und Weise von allen Menschen gemacht. Die Erinnerung an sie wird jedoch immer wieder verdrängt, ja sogar neutralisiert, um sie vergessen zu machen,[32] ist sie doch eine ständige Provokation für eine Zivilisation, die auf Extraktivismus gründet.

Die Ehrfurcht vor dem Leben ist „tatsächlich denknotwendig, nämlich für das Denken notwendig – aber nicht etwas, was wir notwendigerweise denken müssen“[33]. Das Widerfahrnis der Ehrfurcht vor dem Leben entspringt einer Moralität, die nötigt. Dazu führt Schweitzer aus:

„Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgendetwas Lebendigem Schaden zu tun.“[34]

Das Paradigma der Ökologisierung basiert auf der Ehrfurcht vor dem Leben. Da es sich um einen Paradigmenwechsel handelt, ist es wichtig, dass die Prozesse der Ökologisierung nicht durch die der Globalisierung definiert werden. Wie sollte es auch anders sein, beinhaltet doch der Prozess der Ökologisierung eine nach-anthropozentrische Perspektive. Ich möchte aber an dieser Stelle betonen, dass diese nachanthropozentrische Perspektive nicht posthuman ist.[35] Es geht hier um die Dezentrierung des Menschen, nicht um seine Abschaffung.

Ökologisierung bezeichnet eine „artübergreifende politisch-ethische Praxis“[36] im Sinne einer „Sympoiesis“ (Donna Haraway). Sympoiesis steht für die Anerkenntnis, dass jedes Leben immer Leben von, durch und für andere ist.[37] Demgemäß gibt es kein Werden, sondern nur „Mit-Werden“[38]. Ökologisierung steht für eine alteritätsbasierte „Ethik des Sich-verwandt-Machens“[39], die die engen Grenzen familialer Netze aufbricht und das Verständnis von Konvivialität weitet. Die damit einhergehende radikale Verantwortung als Eintreten für Andere und Anderes zielt auf ein „Mit-Werden in Responsabilität“[40]. Das heißt: Es geht immer auch um eine Verantwortung als Fähigkeit, in einer konkreten Situation mit konkreten anderen Gefährt*innen zu antworten („Response-Ability“ /// Responsability). Zu antworten bedeutet nach Haraway, die vielfältigen Verflechtungen der verschiedensten Körper mit- und ineinander situativ wahrzunehmen und in und aus diesen heraus zu handeln. Dabei ist „eine Vielzahl von Auseinandersetzungen“ anzuerkennen, die keineswegs alle friedfertig verlaufen.[41] Natur eint nicht nur, sie trennt auch.[42] Diese sehr knappen Aussagen sollen andeuten: Ökologisierung steht für einen Bewusstseinswandel, denn die Akteur*innen müssen lernen, aus diesem „Mit-Werden“ heraus zu handeln.

Aber wer sind diese Akteur*innen? Es sind alle, die zum (Zusammen-)Leben beitragen: Menschen, Tiere, Pflanzen, Arten, Berge, Flüsse, Ökosysteme und die Erde. Alle sind Teil der Moralgemeinschaft. Für Menschen bedeutet das, sich als Akteur*innen zu verstehen, die auf der „Suche nach „Bindungen [sind], die befreien“[43]. Hier wird bereits deutlich: „Ökologisierung“ steht für die „Verpflichtung, die Welt, von der man lebt, mit der zusammenzubringen, in der man lebt“[44].

IV. „Revolution für das Leben“ (E. v. Redecker)

Ökologisierung ist auch ein Appellbegriff, aber ein Appell ohne Gestaltungsmacht. Im Fokus steht weniger der Modus des Herstellens als der des Sich-Einstellens. Ökologisierung zielt – um mit Bruno Latour und Pierre Charbonnier zu sprechen – darauf ab, dass sich eine „ökologische Klasse“ bildet, die dadurch bestimmt ist, „dass sie die Welt, in der man lebt, und die Welt, von der man lebt, in ein und demselben Raum miteinander verbindet“[45]. Diese Klasse ist der Treiber einer „Revolution für das Leben“, wie die Philosophin Eva von Redecker sie angedacht hat, welche ihren Ausgang nimmt „von einer Mobilisierung für akut bedrohte Leben“ und die „für die Aussicht auf geteiltes, gemeinsam gewahrtes und solidarisch organisiertes Leben“[46] kämpft.

Anders als die Revolutionen, die wir aus der Geschichte kennen, zielt die „Revolution für das Leben“ auf einen „allgegenwärtige[n] Umbau des Alltags“, um sich der „Zerstörungswut der kapitalistischen Gesellschaft in den Weg“ zu stellen.[47] Es geht nicht um eine Revolution, die zerstört, sondern um eine Revolution, die rettet, und zwar dadurch, dass sie sich, wie von Redecker fordert, „der in sachlicher Sachherrschaft verlorengegangenen Welt an[nimmt]“[48]. Sie wendet sich gegen Rücksichtslosigkeit, gegen die Maxime unendlicher Steigerung. Sie will nichts niederreißen, sondern das Bewusstsein für menschliche und planetare Limitationen und Suffizienz schaffen. Dabei geht es nicht darum, für diese Revolution zu sterben, sondern – wie von Redecker im Anschluss an Frances Beal schreibt – für diese Revolution zu leben, d.h., „die schwierigere Aufgabe zu übernehmen, unsere alltäglichen Lebensmuster zu ändern“[49]. Diese Revolution denkt vom Alltag her das Ganze neu. Wenn wir mit unserer Alltagssituation beginnen, dann ändert sich auch der Blick auf das Ganze. Immer noch beherrschen Effizienz und Wachstum die klimapolitischen Debatten. Der Blick vom Alltag her bricht diese Verengung auf, sind doch die alltäglichen Herausforderungen mit der ökologischen und klimatischen Krise weniger durch Effizienz als durch Suffizienz gekennzeichnet.[50]

Diese Revolution hat in unterschiedlichen Feldern bereits begonnen. Sie gründet in der Erkenntnis, dass die Erde „kein Eigentum ist, sondern Leben“[51], dass das Land, auf dem wir leben, nicht „Besitzobjekt“ ist, sondern ein Territorium, das „immer schon geteilt [ist], und zwar mit allem, was darauf und davon lebt“[52]. So nimmt sich die „ökologische Klasse (…) der Frage der Bewohnbarkeit an (…).“ Denn: „Daraus erwächst ihr Konflikt mit den alten Klassen, die nicht in der Lage waren, die realen Voraussetzungen ihres Projekts zu erfassen.“[53] Von hier aus wäre auch der Freiheitsdiskurs neu zu justieren. Auch das hat von Redecker angedacht. Anders als in liberalen Vorstellungen ist Freiheit dann nämlich nicht primär räumlich, sondern zeitlich zu denken:[54] „Nicht: Wie viel Raum darf ich nehmen? Sondern: Wie viel Zeit ist mir vergönnt?“[55] Es geht also nicht in erster Linie um Bewegungsfreiheit, sondern um „Bleibefreiheit“: „Die Freiheit, zu bleiben.“[56] So lauten auch die Slogans in der Klimagerechtigkeitsbewegung: „Danni bleibt“, „Moni bliebt“, „Fechi bleibt“.[57] Besetzungen erscheinen aus dieser Perspektive nicht „als Extrempunkt im bekannten Feld, sondern als Vorschein eines neuen“[58]. Das Bleiben-Können „erfordert die Wahrung einer bewohnbaren Welt“[59]. Zeitlich verstandene Freiheit ist „eine Fülle an Zeit und Gezeiten“[60]. Ökologisierung steht nicht für Grenzenlosigkeit: Zeit ist begrenzt – so von Redecker –, während das räumliche Universum unendlich scheint.[61]

Ich breche hier meine Gedankensplitter ab.

V. Was können wir tun? Was sollen wir tun? Was müssen wir tun?

Von mir wurde gewünscht, auf die Fragen zu antworten: „Was können wir tun? Was sollen wir tun? Was müssen wir tun?“

Nun, was können wir tun? Nicht an Können fehlt es uns, um mit Günther Anders zu sprechen, sondern an Nicht-Können. Wir müssen das Nicht-Können lernen, uns von der Dominanz des Modus des Herstellens befreien.

Was sollen wir tun? Angesichts der Ungleichgewichtigkeit zwischen Globalisierung und Ökologisierung fällt es mir schwer, aufkommende Ohnmachtsgefühle zu unterdrücken. Dabei hilft mir ein Rat von Adorno: „Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“ Sich nicht dumm machen zu lassen heißt, die Ursachen und die damit einhergehenden Machtverhältnisse offenzulegen und gleichzeitig das bislang Ohnmächtige und Andere in den Brüchen hervortreten zu lassen.

Was müssen wir jetzt tun? Das Schlimmste verhindern, Ökozide bekämpfen.

© Jürgen Manemann


[1] G. Deleuze/F. Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt 2003, 10.
[2] Vgl. O. Marchart/R. Weinzierl (Hg.), Stand der Bewegung? Protest, Globalisierung, Demokratie – eine Bestandsaufnahme, Münster 2006.
[3] Zu Gegenöffentlichkeiten: U. Brand, Gegen-Hegemonie als strategische Perspektive. Ambivalenzen und Strategien der aktuellen Globalen Sozialen Bewegungen, in: O. Marchart/R. Weinzierl (Hg.), Stand der Bewegung?, 35-44, und S. Riedmann, Lasset uns beten …! MayDay-Mobilisierung zwischen Kultur und Politik, in: O. Marchart/R. Weinzierl (Hg.), Stand der Bewegung?, 45-60.
[4] O. Marchart/R. Weinzierl, Radikale Demokratie und Neue Protestformen, in: dies. (Hg.), Stand der Bewegung?, 7-13, 9.
[5] Vgl. U. Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt 2007.
[6] Vgl. ders., Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt 1993, 96-98.
[7] Ders., Weltrisikogesellschaft, 153.
[8] Ebd., 175.
[9] Vgl. ebd., 103.
[10] Ebd., 29.
[11] Vgl. ebd., 161.
[12] B. Latour/N. Schultz, Zur Entstehung einer ökologischen Klasse: Ein Memorandum. Wie gelingt politisches Handeln in Zeiten des Klimawandels?, Berlin 2022, 34.
[13] Vgl. L. Lütkehaus, Philosophieren nach Hiroshima. Über Günther Anders, Frankfurt 1992, 21.
[14] Vgl. G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 71988, 17. 267.
[15] Vgl. dazu: M. Hauskeller, Auf der Suche nach dem Guten. Wege und Abwege der Ethik, Zug 1999, 116.
[16] Vgl. ebd., 117.
[17] Vgl. R. D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung, Frankfurt 111981, 17.
[18] Vgl. M. Hauskeller, Auf der Suche nach dem Guten, 144.
[19] Ebd., 122.
[20] Vgl. ebd. 121f. Hauskeller verweist in diesem Zusammenhang auf den Piloten, der eine Bombe über einem Wohngebiet abwirft.
[21] Vgl. ebd., 117.
[22] Zu den folgenden Abschnitt zu Albert Schweitzer und Donna Haraway: J. Manemann, Rettende Umweltphilosophie. Von der Notwendigkeit einer aktivistischen Philosophie, Bielefeld 2023, 27-30; 84-86.
[23] A. Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, Hamburg 22020, 135–136.
[24] Es erschien ihm wie eine Offenbarung, obwohl er den Begriff bereits in einer Vorlesung 1912 benutzt hatte (vgl. C. Günzler, Art.: Albert Schweitzer, in: Handbuch Umweltethik, 80–85, 80).
[25] A. Schweitzer, Was sollen wir tun? 12 Predigten über ethische Probleme, Heidelberg 1986, 30f.
[26] Vgl. H. W. Ingensiep, Natur und Leben bei Albert Schweitzer – theoretisch betrachtet, in: M. Hauskeller (Hg.), Ethik des Lebens. Albert Schweitzer als Philosoph, Zug 2006, 52–72, 59.
[27] A. Schweitzer, Kultur und Ethik, in: ders., Kulturphilosophie, München 1996, Pos. 5169.
[28] Ebd., Pos. 5259.
[29] Ebd.
[30] Vgl. W. Theobald, Gibt es einen rationalen Kern der Lebensphilosophie Albert Schweitzers?, in: M. Hauskeller (Hg.), Ethik des Lebens, 173-188, 177.
[31] Ebd.
[32] Vgl. dazu: M. Hauskeller, Verantwortung für das Leben? Schweitzers Dilemma, in: ders. (Hg.), Ethik des Lebens, 210-236, 213.
[33] C. Ilies, Ehrfurcht statt Begründung? Albert Schweitzers Versuch einer Grundlegung der Ethik, in: M. Hauskeller (Hg.), Ethik des Lebens, 189-209, 206.
[34] A. Schweitzer, Kultur und Ethik, Pos. 5266-5279.
[35] J. Manemann, Rettende Umweltphilosophie, 82f.
[36] B. Sitter-Liver, „Ehrfurcht vor dem Leben“ heißt sich auf die Welt im Ganzen zu beziehen, in: M. Hauskeller (Hg.), Ethik des Lebens, 237-258, 247.
[37] Ebd.
[38] D. Haraway, Making Kin in the Chthulucene: Reproductive Multispecies Justice, in: A. E. Clarke/dies. (Hg.), Making Kin not Population, Chicago 2018, 67–99, 68 (zit. n. K. Hoppe, Donna Haraway zur Einführung, Hamburg 2022, 176).
[39] Vgl. dies., Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt/New York 2018.
[40] Ebd., 172.
[41] Vgl. ebd.
[42] Das ist kritisch gegen Latour und Schultz formuliert: „Die Natur ein nicht, sie trennt.“ (B. Latour/N. Schultz, Ökologische Klasse, 10-11).
[43] Ebd., 41.
[44] Ebd., 47.
[45] Ebd., 29.
[46] E. v. Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt 2020, 9. Zu den folgenden Abschnitten: J. Manemann, Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer, Bielefeld, 2021, 83-84.
[47] Ebd., 147.
[48] Ebd., 194.
[49] Ebd., 147f.
[50] Vgl. zu diesem Abschnitt: J. Manemann, Revolutionäres Christentum, 72-73.
[51] E. v. Redecker, Revolution für das Leben, 274.
[52] Ebd., 271.
[53] B. Latour/N. Schultz, Ökologische Klasse, 31.
[54] E. v. Redecker, Bleibefreiheit, Frankfurt 2023, 13.
[55] Ebd.,14.
[56] Ebd., 8.
[57] Vgl. ebd., 10.
[58] Ebd., 12.
[59] Ebd., 17.
[60] Ebd., 22.
[61] Vgl. ebd., 30.

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