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Schwerpunktbeitrag: Politik und Liebe

Veröffentlicht am 22. Juli 2013

Ein Beitrag zur Präsentation und Diskussion von Jürgen Manemanns Buch „Wie wir gut zusammen leben. 11 Thesen für eine Rückkehr zur Politik“ (Patmos 2013) im Forschungsinstitut für Philosophie Hannover

Hans Asbeck

In seinem Buch „Wie wir gut zusammen leben. 11 Thesen für eine Rückkehr zur Politik“ bindet Jürgen Manemann Politik an unser „vorpolitisches“ Leben. Dies gipfelt darin, dass geradezu Liebe politisches Handeln begründen soll. Hier möchte ich ansetzen, wobei meine kritischen Bemerkungen vielleicht mehr als ein Einfordern von Vertiefung und Ergänzung zu verstehen sind.
Problematisch scheint mir, dass Manemann das Verhältnis von Liebe zu Politik so versteht, dass erstere gewissermaßen als Vorschule politisch umzusetzenden Mitleids erscheint (Hervorhebungen von mir):
Damit Politik nicht total wird, damit Machtpolitik nicht in Herrschaft umkippt, darf Politik nicht alles sein. […] Politik entsteht zwischen den Menschen, nicht im Menschen. Damit überhaupt Politik als ein Zwischen-den-Menschen entstehen kann, damit Menschen nicht nur vom Wert der Gerechtigkeit wissen, sondern Gerechtigkeit erfahren und spüren, bedarf es der Grundfähigkeit, sich vom Leid des Anderen verwunden zu lassen, mitfühlen und mitleiden zu können.“
Und wie erwerben wir diese Grundfähigkeit? Manemann fährt fort:
„Durch Liebe erfahren Menschen Anerkennung und können Selbstvertrauen ausbilden, welches die Voraussetzung eines Selbstwertgefühls ist. Liebesbeziehungen sind die Basis dafür, dass wir Abscheu vor Unmenschlichkeit empfinden, dass wir Glück wahrnehmen, das nicht aus dem Unglück anderer hervorgeht, kurz: dass wir in der Lage sind, mitzufühlen und zu verstehen.
Und so entsteht aus dieser Grundfähigkeit Politik:
„Liebe ist die Voraussetzung dafür, gegen Leid anzukämpfen und für Gerechtigkeit einzustehen. Liebe und Gerechtigkeit gehören zusammen, auch wenn Ersterer die Priorität zukommt. Gerechtigkeit ist in ihrem Kern politische Liebe. Sie gründet in dem Bedürfnis, ‚Leiden beredt werden zu lassen‘ (Theodor W. Adorno).“
Dem kann ich weitgehend zustimmen. Aber während andere das überzogen und unangemessen gefühlig finden werden, ist meine Frage, ob man nicht noch einen Schritt weitergehen muss.
Bei Manemann ist es so: Im privaten Leben habe ich als Wesen, das geliebt wurde und liebt, das verstanden wurde und versteht, das Mitgefühl erfuhr und austeilt, etwas gelernt, das ich im öffentlichen Raum in ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit umwandeln kann: In Akten gemeinsamer Verantwortung soll das Leid des Anderen – im Prinzip das eines jeden Anderen auf der ganzen Welt – zu Sprache und Abhilfe kommen.
Ich möchte noch etwas weiter gehen: Unsere Aufgabe als politische Wesen ist über das Streben nach Gerechtigkeit in diesem Sinne hinaus: dafür Sorge zu tragen, dass die Liebe selbst – und das ist mehr als Einfühlung, Mitleid und Gerechtigkeitsstreben – aus dem Miteinander der Menschen nicht verschwindet (was heute eine realistische Perspektive ist), sondern Platz in ihm greift und selber politisch wird. Worin besteht der Unterschied?
Ganz zugespitzt formuliert, funktioniert die Liebe bei Manemann als Lieferantin politischer Empathie, während sie für mich auch im Politischen Selbstzweck sein muss, ja den äußersten Horizont des Politischen selbst beschreibt. „Wie wir gut zusammen leben“ heißt das Buch, über das wir sprechen. Für mich bedeutet es, dass wir in einer Welt, die wenig von der Liebe weiß und eigentlich nichts von ihr wissen will, einander unter die Arme greifen, um sie erst sichtbarer und dann wirkmächtig zu machen.
„Jemandem unter die Arme greifen“ heißt, ihn bei etwas unter-stützen, was er selber vollbringen muss. In der Tat kann die Liebe nur von den einzelnen Menschen und durch kein Kollektiv hervorgebracht werden. Es wäre widersinnig, sie politisch erzeugen zu wollen: präpolitisch ist sie, vom Handeln-in-der-Öffentlichkeit durch einen Abgrund getrennt, da glaube ich mich mit Manemann einig. Es gilt sogar in einem noch prinzipielleren Sinn, als man zunächst annehmen möchte:
Liebe ist geradezu das Gegenteil von zweckgerichtetem Handeln überhaupt. Keinen Plan habe ich, wenn ich liebe, nichts verändern will ich, nichts herstellen. Im Gegenteil: Wen ich liebe, den entlasse ich aus allem, was ihn mir zur Verfügung stellt: aus meiner Macht über ihn, seiner Fixiertheit in Klischees, seiner Berechenbarkeit, seinem Definiertsein, aus jeder Beurteilung. Der Liebende entlässt sein Geliebtes sogar aus seiner Identität: Sei, der du werden kannst!, sagt die Liebe, nicht: Bleib, wie du bist!
Wenn wir lieben, lassen wir sein – aber in keiner Weise gleichgültig, wie auch Manemann unter Berufung auf Lévinas betont: Dieses Lassen ist ein Kommen-Lassen, ein Güte und Schutz anbietendes Umhauchen, ein Ermutigen: zum Freisein, Du-selbst-Werden, zum Sich-Halten in jener Fremdheit, die mir zwar weh tut, ohne die du aber nicht du wärst und dich nicht aus dir selber entfalten könntest.
Auf diese Weise bringen wir in der Liebe etwas „hervor“, mitsammen: als Subjekte, die sich zurücknehmen: in Ruhe lassend, aber anerkennend, der Eigenart des Anderen Raum gebend und dabei lockend-ermutigend-Beistand-versprechend. It happens, in einem Klima von Gesehenwerden und Güte. Es kommt etwas in Gang und gedeiht, die Grenzen des schon Seienden und dessen überschreitend, was in seinem Rahmen absehbar schien.
Es ist das Gegenteil von Politikmachen und doch alles andere als unpolitisch. Denn erstens musste mit dem Lieben ja begonnen werden, und dieser Akt der Freiheit ist ein Aussteigen, Sich-dem-Politischen-und-Sozialen-Entziehen, ja er zeigt mitunter dem Leben selbst die kalte Schulter, wie jeder weiß, der „Tristan und Isolde“, „Romeo und Julia“, „Anna Karenina“ gelesen, „Im Reich der Sinne“ gesehen hat. Zu lieben ist ein Skandal, im Wortsinne a-sozial und in nicht zu beherrschender Weise riskant.
Zweitens aber hat auch das Liebesereignis selbst eine vor- oder protopolitische Dimension:
In der Liebe erscheint das Gegenüber immer im Hofe des Ganzen, ganz entsprechend der Entdeckung Kants, dass wir gar nicht anders können als mit dem Bedingten auch das Unbedingte zu denken und mit dem Endlichen uns das Unendliche vorzustellen. Mit unserem Kind lieben wir alle Kinder, so wie wir, als wir klein waren, durch unsere Mutter hindurch in der Welt eingenistet waren, so wie uns die gesellschaftlichen Grundübel und die Zerstörung der Natur umso mehr zu Ärgernis und Appell zum Engagement werden, je heftiger wir verliebt sind.
Und dann gilt es die Liebeserfahrung auf Dauer zu stellen und in einer von ganz anderen Prinzipien regierten Welt zu verankern, wenn das ekstatische Ausnahmeereignis vorüber ist: Das geht nur als wirklichkeitsverändernde Praxis, die zwar privat beginnen mag – als Gründung einer auf Liebe gestellten Familie oder Bau eines „Hauses“ (worunter vielerlei zu verstehen ist), als freies Bündnis wie das von Beauvoir und Sartre – , aber voller politischer Implikationen steckt: Man muss den Diskurs mit anderen und ihre Unterstützung suchen und auf Politik sinnen, Veränderung der Verhältnisse in gemeinsamer Praxis, wenn die Liebe am Leben bleiben soll.
Im Liebesereignis übernahmen wir ja, wie auch Manemann hervorhebt, eine ungemessene Verantwortung für das Geliebte, und wie soll die eingelöst werden, wenn nicht durch politische Veränderung eines sozialen Ganzen, dem Tendenzen zur Abschleifung des Individuellen und Fremdbleibenden zuinnerst eingraviert sind, zum „Mord“ am Anderen also, um es zuzuspitzen und noch einmal mit Lévinas zu sagen, der es wissen muss? (als einziger Überlebender des Holocaust in seiner Familie; und der Holocaust fällt nicht aus dem Rahmen von menschlicher Natur und Geschichte!)
So motiviert also die Liebe von sich aus zu politischem Handeln, und wenn uns ein solches – ein solchermaßen liebemotiviertes – auch zunächst eher im persönlichen Umfeld, im Kinderladen, im Hospiz, in einer Bürgerinitiative für Randständige, in einer Veranstaltung des Gedenkens begegnen wird, so führt es doch auch zu politischer Betätigung im engeren Sinne. Welche Aufgaben stellen sich einer Politik-aus-Liebe?
Man muss da nicht nur an die große, an die Weltpolitik denken. Zwar liegt auf der Hand, dass ein dezidiert liebemotivierter Politiker größere und menschennähere Perspektiven haben muss, wahre Utopien, als ein Pragmatiker: Ihm ist bewusst und hintergründig präsent, dass konsequente Umverteilung der begrenzten Ressourcen, Egalität und so etwas wie Urchristenkommunismus Fernziel des Politischen sein muss – „Gerechtigkeit“, auf der Linie Manemanns radikalisiert zu „Einem-jeden-gerecht-Werden“ –, doch fehlen die Handlungsspielräume, bislang jedenfalls: Nicht einmal den Finanzkapitalismus könnte man von heute auf morgen abschaffen, ohne ungekannte Hungersnöte auszulösen, und so wird sich die Politik des auf Liebe Gestellten vorerst nur in Nuancen von der des Pragmatikers unterscheiden und leicht genug zu den noch schlechteren Resultaten führen (wenn die Professionalität fehlt).
Fürs erste mag man an Felder wie die der Sozial-, der Kultur-, der Arbeits-, der Entwicklungspolitik denken. Die Menschen – alle Menschen – müssen, von Geburt und Schule an und durchgreifend bis in die Gestaltung des Arbeitslebens, der medialen Öffentlichkeit, der politischen Partizipation und der privaten Lebensformen hinein, instand gesetzt werden zu lieben, die Liebe zu erfahren und bei der Verwandlung der Welt in eine des wohlwollend-zurückhaltenden Einander-Förderns, Ermutigens, Werden-Lassens zusammenzuwirken; die etwas ganz anderes wäre als die einer (verwertbaren) Ausspähung und Befriedigung von (manipulierbaren) Bedürfnissen.
Grundlage muss eine Gerechtigkeit sein, wie sie Manemann vorschwebt: eine auf Empathie, Anerkennung und Respekt vor individueller Besonderheit gegründete. Aber das muss über die Abschaffung Hunger und Armut, des gröbsten Unrechts und der empörendsten Ungleichheit, hinausgehen und auf mehr als Mitleid gegründet sein.
Gerechtigkeit im öffentlichen Raum als Politik gewordene Liebe zu verstehen ist ein wunderbar humaner Gedanke; aber ihm folgend dürften wir uns nicht nur einfühlen in die Menschen der Welt und verständnisvoll mit ihnen leiden, um als Konsequenz daraus sie von ihrer Not zu befreien, sondern müssten wir jedem einzelnen von ihnen auch unsere Freude, ja ein Recht auf das Glück zudenken, das geliebt zu werden und lieben zu dürfen bedeutet, und da dieses Glück nicht nur der Befreiung von Not und Unterdrückung, sondern auch der Muße, der eigenen Handlungsspielräume und eines inneren wie äußeren Reichtums bedarf, fordert es neue Dimensionen des Beistandes und des Teilens, ja eine neue Qualität des menschlichen Miteinanders weltweit.

Dr. Hans Asbeck, Lehrer an Hochschule, Gymnasium, Gesamtschule: Philosophie, Literatur, Geschichte, Politik. Heute freier Autor in Hannover und dort für das Festival der Philosophie sowie in einem langfristigen eigenen Buchprojekt „Philosophie der Liebe“ engagiert. Zu erreichen unter hans.asbeck@web.de.

(c) Hans Asbeck

1 Kommentar

  1. Auch ich habe Bedenken, Politik als Ausweitung der Liebe zu verstehen. Liebe, wenn man darunter nicht christliche „Nächstenliebe“ versteht, ist und bleibt eine private Angelegenheit, die sich auf den Nahbereich bezieht. Hier funktioniert die Empathie, die auch bei Tieren zu beobachten ist. Die Politik dagegen hat es mit Menschen im Fernbereich zu tun, es geht um Vertretung von Interessen großer Gruppen oder Staaten. Hier greift die Kategorie der Liebe nicht mehr, sondern die Folgenabschätzung. Auch Rawls Begriff von Gerechtigkeit als Fairness übersteigt die emotionale Kommunikation der Liebenden. Das Verhältnis von Liebe und Politik ist m. E. nur dialektisch zu erfassen. Liebe betrachte ich als die Quelle des Selbst, das sich nicht von den Emotionen der Betroffenen abhalten lässt, Macht auszuüben. Die Grundfähigkeit des Politikers besteht darin, von seine Emotionen zu abstrahieren. Nur dadurch kann er Rahmenbedingungen für ein gutes Leben möglichst vieler Menschen schaffen. Manemanns Vision vom empathischen Zusammenleben ist zu schön, um wahr zu sein. Wir Menschen sind eben keine Bononbos. Darüber ist sich selbst Frans de Waal im Klaren.

Beitragsthemen: Emotionen | Politik

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