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„Polizeigewalt gegen Klimaaktivist*innen“ – Nachgedanken zu einer Diskussion

Veröffentlicht am 1. Juli 2024

Von Jürgen Manemann

Die Diskussionsveranstaltung „Polizeigewalt gegen Klimaaktivist*innen“ fand am 25. Juni 2024 im Pavillon Hannover statt. Sie wurde veranstaltet vom Forschungsinstitut für Philosophie Hannover, Extinction Rebellion Hannover und dem Kulturzentrum Pavillon.

Gewalt verändert

Es gibt Gewalt, die zerstört. Und es gibt Gewalt, die schützt. Aber auch die Gewalt, die schützt, ist problematisch, weil jede Form von Gewaltanwendung gefährlich ist. Gewalt verändert. Darauf hat die Philosophin Hannah Arendt hingewiesen: Gewalt verändert diejenigen, die sie ausüben. Sie verändert, zerstört, ja löscht diejenigen vielleicht sogar aus, denen sie gilt. Gewalt verändert aber auch diejenigen, die ihr nur zusehen – und auch diejenigen, die sie nur vom sogenannten Hörensagen kennen.[1] Losgelöst von dem Wissen um diese Folgen sollten wir nicht über Gewalt sprechen, auch und insbesondere nicht über Polizeigewalt. 

Ordnungsmacht vs. Veränderungsmacht

Die Polizei ist staatliche Ordnungsmacht. Als solche sichert sie den „Normalzustand“ der Gesellschaft. Was aber für die einen – die Privilegierten – „Normalzustand“ heißt, das ist für andere ein täglicher „Ausnahmezustand“. Abweichungen von der „Normalität“ werden in der „Mehrheitsgesellschaft“[2] als Bedrohung empfunden und nicht selten mit Stigmatisierung und Exklusion bestraft.[3] Die Wahrnehmungsmuster der Polizei sind von diesen Mechanismen geprägt. Und so verwundert es nicht, dass die Polizei soziale Phänomene „in einer bestimmten Art und Weise thematisiert: als störende Abweichung, dramatische Gefahr oder auszumerzendes Übel; außerdem stets als eigenständiges Problem, nicht etwa als Symptom tiefer liegender Missstände“[4].Wenn die Polizei interveniert und sich dabei „tief in die zwischenmenschlichen Konflikte und gesellschaftlichen Fragmentierungen hinein[begibt], trägt [sie] durch ihre Intervention zugunsten der bestehenden Ordnung zur Zementierung dieser Situationen bei oder spitzt Spannungen sogar zu – ihren Ursachen steht sie jedoch weitgehend machtlos gegenüber“[5]. Die Polizei löst keine Probleme. Als Ordnungsmacht perpetuiert sie immer auch gesellschaftliche Ungerechtigkeiten. [6]

Klimaaktivist*innen besitzen für die Schattenseiten des „Normalzustandes“ ein feines Sensorium. Sie wissen, dass die Schatten immer größer werden, je stärker die Klimakatastrophe um sich greift, deshalb fordern sie die bestehende Ordnung heraus. Mit ihren Praktiken des zivilen Ungehorsams erheben sie Einspruch gegen eine Ordnung, die ihren eigenen – moralischen und rechtlichen – Ansprüchen zuwiderläuft. Und so kommt es zur Kollision zweier Mächte: der staatlichen Ordnungsmacht auf der einen und der zivilgesellschaftlichen Veränderungsmacht auf der anderen Seite. Die Polizei will die Ordnung erhalten. Die Klimaaktivist*innen wollen diese Ordnung produktiv destabilisieren.[7] Diese Kollision lässt sich nicht verhindern, aber zivilisieren. Das erste Gebot dieser Zivilisierung lautet: Gewaltlosigkeit – auf beiden Seiten.

Die rechtsetzende Gewalt

Statt jedoch die Kollision zu zivilisieren und produktiv zu politisieren, setzen Politiker*innen und Sicherheitsbehörden auf die Kriminalisierung der Aktivist*innen – ein letztlich demokratiezersetzendes Unterfangen. Gefordert wird ein hartes Ein- und Durchgreifen der Polizei. Die Polizei soll den „Ordnungszustand“ wiederherstellen. Wenn die Polizei eingreift, so handelt sie aber nicht nur rechtserhaltend, sondern auch – und darauf hat schon zu Zeiten der Weimarer Republik der Philosoph Walter Benjamin aufmerksam gemacht – rechtsetzend, ihr Recht setzend.[8] Entscheidungsträger*innen statten die Polizei dafür mit „grauen Schecks“ aus.[9] Diese Metapher verweist darauf, dass die Anweisungen an die Polizei bewusst so ungenau formuliert sind, dass jede Seite sich nach einem Einsatz aus der Affäre ziehen kann.[10] Was Recht heißt, das bestimmt in den Momenten ihres Handelns die Polizei – ein Einfallstor für willkürliche Gewalt. Und die Folgen?

Edmund Schultz aus Braunschweig schildert am 25. Juni 2024 während einer Diskussion zur Polizeigewalt im Kulturzentrum Pavillon in Hannover, „wie er bei einer Sitzblockade der Letzten Generation von einem Polizisten von hinten umgerannt und so brutal angerempelt wurde, dass er sich das Schlüsselbein brach und eine Gehirnerschütterung zuzog. Der Polizist behauptete später, er sei über den Bordstein gestolpert. Auf eine Anzeige verzichtete der Aktivist trotzdem: Man habe ihm davon abgeraten, sagt er. Weil man am Ende nur eine Gegenanzeige kassiert.“[11]

Was soll ein*e Aktivist*in über den Staat denken, nachdem sie*er von Bereitschaftspolizist*innen im staatlichen Gewand verkleidete individuelle Gewalt erfahren musste? Was geht in ihr*ihm vor, wenn sie*er erlebt, dass die Polizei nicht alles in ihrer Macht Stehende unternimmt, um diese Gewalt zu sanktionieren? Stellen sich Polizist*innen die Frage, was es für eine*n Aktivist*in bedeutet, im Namen des Staates einen Schlag ins Gesicht zu bekommen? Es könnte sein, dass dieser Person mit diesem einen Schlag plötzlich nicht nur das Vertrauen in den Rechtsstaat, sondern auch das sogenannte Urvertrauen abhandenkommt. Was passiert mit Aktivist*innen, die Polizeigewalt erleben? Was passiert mit ihnen, wenn sie nicht mehr auf die Legalität und Legitimität der staatlichen Schutzmacht vertrauen dürfen?[12]

Polizeikultur und Cop Culture

Es gibt Polizist*innen, die sich der Diskussion aussetzen, so etwa Markus Häckl von der Polizeidirektion Hannover. Wer mit ihm spricht, spürt, dass ihn das Thema angeht. In der Diskussion im Pavillon greifen aber auch bei ihm immer wieder apologetische Reflexe: „Einzelfälle“, „Polizeigewalt – ein allzu moralischer Begriff“, „Gewalt gegen Polizist*innen“ etc. Es gilt, diese Verdrängungsmechanismen aufzubrechen. Die Institution „Polizei“ sollte nicht länger Missbräuche leugnen, und sie sollte ein eigenes Interesse daran haben, sie klar und deutlich zu benennen. Aber dazu braucht es zunächst einmal die Fähigkeit, einen Missbrauch als solchen zu erkennen. „Ob Gewalt [im Amt] als legitim oder illegitim verstanden wird, ist (…) kontingent und hängt von der Definitionsmacht derjenigen ab, die eine Handlung als Gewalt beschreiben. Entscheidend ist somit nicht nur die Frage, ob und wie Gewalt ausgeübt wird, sondern wer unter welchen Bedingungen legitimerweise Gewalt anwenden kann.“[13] Dabei hängt die Antwort auf die Frage nach der Legitimität bzw. Illegitimität polizeilicher Gewaltanwendung nicht zuletzt von der Wahrnehmung der Bürger*innen ab. Je sensibler diese auf Gewaltanwendungen reagieren, desto umsichtiger wird von der Polizei Gewalt angewandt werden. Die Bürger*innen können bestimmten Gewaltanwendungen im Amt ihre Legitimität entziehen und dadurch die Gewaltanwendung der Polizei einhegen.

Leider befassen sich aber bislang zu wenig Bürger*innen mit dem Problem der Polizeigewalt. Aus diesem Grund fehlt immer noch der gesellschaftspolitische Druck, der nötig wäre, um eine Auseinandersetzung mit Missbräuchen innerhalb der Polizei zu erwirken. Viele Bürger*innen sehen Polizeigewalt nicht als ein wichtiges Thema an, weil sie in ihrem Alltag wenig bis gar keinen Kontakt zur Polizei haben. Polizei wird von ihnen als „Schutzpolizei“ wahrgenommen, die ein hohes gesellschaftliches Ansehen genießt.[14] Dass die Polizei eine Institution ist, die aus zwei Kulturen besteht, einer Polizeikultur und einer Cop Culture, ist den meisten nicht bekannt. „Während Polizeikultur identisch ist mit dem, wie das Management die Polizei sieht und nach außen vertritt, ist Cop Culture eine nach innen gerichtete Alltagskultur derjenigen Polizist*innen, die unmittelbaren Kontakt mit dem Publikum haben oder kurz: Cop Culture repräsentiert die ‚Regeln der Straße, Polizeikultur die der Politik‘.“[15] Cop Culture ist u.a. geprägt durch toxische Männlichkeit, Dominanzverhalten, Freund-Feind-Denken, Korpsgeist.[16] Beide Kulturen stehen in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander. Die Priorität kommt der Cop Culture zu: „‘Vergiss mal, was du an der Hochschule gelernt hast, wir zeigen dir jetzt, wie das hier läuft.‘ Diesen oder ähnliche Sätze hören viele neue Polizist:innen in ihrer Anfangszeit. Oft kommen sie aus dem Mund der „Bärenführer“, wie erfahrenere Kolleg:innen bezeichnet werden, die die Anfänger:innen in den ersten Wochen und Monaten auf der Straße an die Hand nehmen sollen. Wenn man so will, ein weiterer, eher informeller Teil der Ausbildung, in dem Erfahrungen geteilt und Wissen, Einstellungen und Praxiskenntnisse weitergegeben werden – wichtige und wertvolle ebenso wie problematische. Während in der Ausbildung die Polizeikultur im Vordergrund steht, wird hier vor allem die Cop Culture der Basis vermittelt. Dabei lernen Polizist:innen von Polizist:innen, die von Polizist:innen gelernt haben.​“[17]

Von der Unverhältnismäßigkeit polizeilicher Gewaltanwendung

Wenn die Polizei ihre Rede von Polizeikultur ernst nähme, müsste sie zeigen, dass sie ihr Handeln nachweislich auf Gewaltminimierung ausrichtet. Wenn ein*e gute*r Ärzt*in ein*e Ärzt*in ist, die*der sich nie an den Tod der Patient*innen wird gewöhnen können, dann ist ein*e gute*r Polizist*in ein*e Polizist*in, die*der zwar in der Lage ist, Gewalt als Mittel zu gebrauchen, die*der sich aber nicht an die Anwendung von Gewalt gewöhnen kann. Konkret hieße das, auf die Anwendung von Schmerzgriffen gegenüber Klimaaktivist*innen zu verzichten. Die Anwendung ist unverhältnismäßig, weil der Polizei andere Methoden zur erfolgreichen Durchsetzung ihrer Ziele zur Verfügung stehen. Generell gilt, dass „Nervendrucktechniken (…) eine unzulässige Maßnahme der  Polizei dar[stellen] und (…) gegen Menschenrechte verstoßen“ können.[18] Die Rechtswissenschaftlerin Dorothee Mooser betont in ihrer Untersuchung zu Schmerzgriffen: „Der Staat darf Schmerz als Mittel grundsätzlich nicht verwenden. Zur  Durchsetzung staatlichen Handelns können Schmerzzufügung oder die Angst vor Schmerzen nicht genutzt werden, auch wenn der Staat das Gewaltmonopol innehat. Zur Ausübung der Staatsgewalt stehen dem Bund und den Ländern zahlreiche Mittel zur Verfügung. Das Nutzen von Schmerzen erinnert an Polizeistaaten und Monarchien und hat in einer Demokratie – mit einem Werteverständnis, wie es Deutschland hat – keine Berechtigung. Der Schmerz als Maßnahme kann dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht entsprechen.“[19] Und sie folgert: „Gerade darin, dass der Betroffene die Anwendung der Nervendrucktechniken und den extremen Schmerz nicht erforderlich macht, liegt dann die Verletzung der Würde des Menschen im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG.455.“[20]

Missbräuche benennen!

Polizist*innen wissen sehr wohl von den Missbräuchen in ihrer Institution. Dort gibt es dafür eigene Begriffe: „Widerstandsbeamter“, „Respektschelle“ etc. Der Journalist Aiko Kempen berichtet von folgender Begebenheit:

„Mehrmals fällt an diesem Nachmittag in Berlin ein Begriff, den vermutlich jeder Mensch in der Polizei kennt: ‚Widerstandsbeamter‘. Nahezu jeder einzelne Gesprächspartner für dieses Buch verwendete ihn; meist ungefragt. So allgegenwärtig scheint das Phänomen. ‚In jeder Einheit gibt es mindestens einen, bei dem weißt du genau, was passiert ist, wenn er eine Anzeige wegen Widerstand schreibt‘, erklärt einer der Berliner Polizisten. Es sei ein etabliertes Muster, sagt er: Den eigenen gewaltsamen Übergriff deuten Polizisten nachträglich zur Reaktion auf eine angebliche Widerstandshandlung um. Für das Opfer folgt ein Ermittlungsverfahren wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Anwesende Kollegen stützen die Aussage des Beamten oder schweigen. Diese Praxis hat eine lange Tradition in der deutschen Polizei. ‚Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Unschuldige ich verurteilt habe, nur weil Beamte Anzeige erstattet haben, um eigene Übergriffe zu vertuschen‘, erklärt eine Richterin am Amtsgericht München nach dem Urteil gegen fünf Polizeibeamte im Juli 2000.“[21]

Aggressives Machtverhalten von Polizist*innen offenbart sich auch in der Praxis der sogenannten „Respektschelle, (…) eine Ohrfeige, um in einer nicht akut bedrohlichen Situation Dominanz zu beweisen. Ein solcher Gewalteinsatz ist in der Regel gesetzeswidrig, gilt aber einigen Beamt:innen gleichwohl als zielführend.“[22]

Der Fotojournalist Stefan Müller schildert während der Veranstaltung im Pavillon, wie die Gewalt zunächst von einzelnen Polizist*innen ausgeht: „Bei der Berliner Polizei beispielsweise gebe es diesen einen Typen – ‚so ein Rothaariger‘ – wenn der kommt, fangen die Aktivisten schon an zu rufen: ‚Presse, Presse, bitte hierher!‘ Weil er bekannt dafür ist, Schmerzgriffe anzuwenden, möglichst hart hinzulangen – selbst bei friedlichen Sitzblockaden, wo man die Leute auch einfach wegtragen könnte.“[23]Wie schützt die Polizei ihre Polizist*innen vor Sadist*innen in den eigenen Reihen? Was macht all das mit den Polizist*innen, die in der Zivilisierung des Konflikts ihre Aufgabe sehen und nicht in dessen Eskalation? Vergessen wir nicht: „(…) die zwangsläufige Normalisierung von Gewalt hinterlässt bei allen Beamt:innen Spuren. Der ständige Anspruch, Durchsetzungskraft und Dominanz zu zeigen, droht das Bewusstsein dafür zu verdrängen, dass Gewalt – auch wenn sie durch die Polizei eingesetzt wird – grundsätzlich problematisch und folgenschwer ist.“[24] An dieser Stelle wäre genauer zu fragen, wie sich Polizeigewalt aus der Sicht von Polizist*innen darstellt. Damit hat sich die „werkgruppe 2“ befasst und mit einer szenischen Lesung aus ihrem Stück „Hier spricht die Polizei“ während der Veranstaltung den Blick geweitet.[25]

Zudem wäre über die Bilder zu sprechen, die in den Köpfen von Polizist*innen generiert werden, wenn sie das Wort „Klimaaktivist*in“ hören. Es gibt Polizist*innen, die Klimaaktivist*innen nicht nur als bloße Straftäter*innen, sondern sogar als Gewalttäer*innen betrachten. Dieser Frage ist Herr Häckl während der Veranstaltung ausgewichen. Und weiter wäre zu fragen: Wissen Polizist*innen, was „ziviler Ungehorsam“ bedeutet?

Wider die Gedankenlosigkeit

Die Rechtswissenschaftlerin und Politikwissenschaftlerin Hannah Espín Grau zitierte auf der Veranstaltung folgende Aussage der Staatsanwaltschaft:

„Also aus meiner Erfahrung heraus ist das meiste, was an Gewalt eingesetzt wird, nicht unangemessen. Man kann in manchen Situationen darüber streiten, ob es auch andere Möglichkeiten gegeben hätte. Aber in der Konfliktsituation von dem Polizisten zu verlangen, dass er also erstmal ein ganzes Programm abfährt, bevor er also erstmal überhaupt körperlichen Zwang einsetzen kann, wäre erstens extrem gefährlich und zweitens in den meisten Situationen dazu führend, dass das, was er erreichen will, nicht mehr erreichbar wird. Und das kann es nicht sein. […] (Staatsanwaltschaft/B3.3: 44).“

In diesem Zitat zeigt sich eine Verschränkung mit der Sichtweise der Polizei, die Espín Grau wie folgt kommentiert:

„Indem der interviewte Staatsanwalt hier postuliert, dass nicht erwartbar sei, dass der Polizeibeamte ‚erstmal ein ganzes Programm abfährt‘, bevor er eine Maßnahme mit Gewalt durchsetze – wie es der rechtliche Maßstab in Form des ultima-ratio-Prinzips vorsieht – macht er sich Erwägungen des polizeilichen Maßstabs zu eigen. Dies wird auch im Rekurs auf das Gefahrennarrativ deutlich, dass Gegenteiliges ‚extrem gefährlich‘ sei und die Erreichung des polizeilichen Ziels beeinträchtigen könne. Effizienzkriterien und der Eigensicherung des beschriebenen (fiktiven) Polizeibeamten wird in der Abwägung also systematisch der Vorrang vor dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des*der Betroffenen eingeräumt. Außerdem wird problematisiert, dass Bürger*innen kein Verständnis für die Gefährlichkeit des Polizeiberufes und die Notwendigkeiten der Eigensicherung hätten. Damit wird das auch von Polizeigewerkschaften immer wieder genutzte Bild einer unverstandenen, von der Gesellschaft isolierten Polizei evoziert.“ [26]

Schutz vor Gewaltexzess: Haltung

Ohne Haltung verliert der Mensch sein Selbst, streicht er sich selbst durch. Wenn das System „Polizei“ Haltung bedroht, wird es bei Polizist*innen psychische Instabilitäten auslösen, die bis zum Kontrollverlust über das eigene Selbst führen können. Kritische Reflexion auf polizeiliches Handeln schwächt nicht, sie stärkt, da sie die Denktätigkeit fördert, die es braucht, um „eine Haltung zur Moral zu etablieren“[27]. Dabei ist der sokratische Rat hilfreich, eher Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun.[28] Alles Böse beginnt mit tödlicher Abgeschlossenheit. Systeme, die keine Möglichkeit bieten, der Macht und den Regeln des Systems zu entkommen, sind gefährlich. In ihnen kann keine Haltung erworben werden, des Weiteren zerstören sie bereits bestehende Haltungen. Genau diese Gefahr lauert im System „Polizei“.[29]

Die Frage nach der Polizeigewalt ist eine der zentralen politischen Fragen. Wer von Demokratie spricht, sollte darüber nicht schweigen.


[1] Hannah Arendt hat auf diese unterschiedlichen Gefahrenpotentiale der Anwendung von Gewalt hingewiesen: H. Arendt, Macht und Gewalt, München 182008, 80. Siehe auch: J. Manemann, Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer, Bielefeld 2021, 127.
[2] Lexikon: Mehrheitsgesellschaft: https://www.belltower.news/lexikon/mehrheitsgesellschaft/ (abgerufen am 30.06.24).
[3] Vgl. E. Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a.M. 1967, 7.
[4] D. Benjamin/T. Singelnstein, Die Polizei. Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Organisation, Berlin 2023, 54-55.
[5] Ebd., 326.
[6] Ebd., 327.
[7] Vgl. J. Manemann, Rettende Umweltphilosophie. Von der Notwendigkeit einer aktivistischen Philosophie, Bielefeld 2023, 111f.
[8] W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt 1965, 43.
[9] Vgl. D. Fassin, Die Politik des Ermessensspielraums. Der „graue Scheck“ und der Polizeistaat, in: D. Loick (Hg.), Kritik der Polizei, Frankfurt 2018 (E-Book), Pos. 2447-2984.
[10] Ebd., Pos. 2469-2477.
[11] Vgl. N. Conti, Im Schmerzgriff der Polizei, in: taz v. 27.06.24.
[12] Dieser Abschnitt stammt aus: J. Manemann, Revolutionäres Christentum, 128.
[13] L. Abdul-Rahman/H. Espín Grau/L. Klaus/T. Singelnstein, Gewalt im Amt. Übermäßige polizeiliche Gewaltanwendung und ihre Aufarbeitung, Frankfurt/New York 2023, 17.
[14] D. Benjamin/T. Singelnstein, Die Polizei, 59-63.
[15] R. Behr, „Die Polizei muss … an Robustheit deutlich zulegen“. Zur Renaissance aggressiver Maskulinität in der Polizei, in: D. Loick (Hg.), Kritik der Polizei, Frankfurt a.M. 2018 (E-Book), Pos. 3024.
[16] D. Benjamin/T. Singelnstein, Die Polizei, 124-135.
[17] Ebd.,100.
[18] D. Mooser, Nervendrucktechniken im Polizeieinsatz. Unzulässiges Zwangsmittel und Verstoß gegen die Menschenrechte, Regensburg 2022, 210.
[19] Ebd., 213.
[20] Ebd., 214.
[21] A. Kempen, Auf dem rechten Weg? Rassisten und Neonazis in der deutschen Polizei, München 2012, 122.
[22] D. Benjamin/T. Singelnstein, Die Polizei, 154.
[23] Zit. n.: N. Conti, Im Schmerzgriff der Polizei, in. taz v. 27.06.24.
[24] D. Benjamin/T. Singelnstein, Die Polizei, 155.
[25] Vgl. „Hier spricht die Polizei“, in: https://www.werkgruppe2.de/portfolio/polizei/ (01.07.24).
[26] Zitat und Kommentar: L. Abdul-Rahman/H. Espín Grau/L. Klaus/T. Singelnstein, 215.
[27] B. Stangneth, Böses Denken, Reinbek 2016, 115.
[28] Zur Bedeutung dieses Satzes: H. Arendt,  Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 122017.
[29] Dieser Abschnitt findet sich in: J. Manemann, Das Böse – und die Polizei. Kritische Anfragen aus philosophischer Perspektive, in: https://philosophie-indebate.de/indepth-shortread-das-boese-und-die-polizei/ (abgerufen am 01.07.24).

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