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Pro und Contra: Gehören Freiheit und Wohlstand zusammen?

Veröffentlicht am 2. Juni 2014

Pro: Steffen Hentrich

Foto Hentrich

Wohlstand ist das Resultat der schöpferischen Nutzung natürlicher Ressourcen. Wohlstand bedeutet aber auch Wohlbefinden, Sicherheit, Unabhängigkeit und die Chance auf gesellschaftliche Teilhabe. Er umfasst nicht nur den Zugang zu materiellen Gütern und Dienstleistungen, sondern schließt auch die Freiheit des Menschen ein. Technologischer und gesellschaftlicher Fortschritt sind ohne menschliche Kreativität und freiwilligen Austausch undenkbar. Seit der industriellen Revolution und der sich beschleunigenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Globalisierung hat der Wohlstand der Menschheit einen ungekannten Wachstumsschub erlebt, begleitet von einer Demokratisierung der menschlichen Gesellschaft. Der Zusammenbruch des Kommunismus hat diese Entwicklung noch einmal beschleunigt. Inzwischen sind laut Freedom House Index 63 Prozent aller Länder parlamentarische Demokratien, 1989 waren es gerade einmal 41 Prozent. Im selben Zeitraum hat sich das globale Pro-Kopf-Einkommen fast verdreifacht, und viele andere Wohlstandsindikatoren haben laut World Development Report eine erfreuliche Verbesserung erfahren. Dennoch besteht weltweit noch ein Nebeneinander von Wohlstand und bitterer Armut, freiheitlichen Demokratien und repressiven Diktaturen.

Kreativität und freiwilliger, gegenseitig vorteilhafter Austausch erfordern individuelle Handlungsfreiheit sowie stabile Institutionen, die den Menschen Rechtssicherheit bieten und ihr Eigentum schützen, Kooperation erleichtern, aber auch zulassen, in wirtschaftlichen Wettbewerb zu treten. Hieraus ziehen Menschen den Anreiz, produktiv tätig zu werden. Seit fast zwei Jahrzehnten werden im Economic Freedom of the World Report Indikatoren wirtschaftlicher Freiheit erfasst, was die Beurteilung ihres Einflusses auf die Wohlstandsentwicklung erlaubt. Wirtschaftlich freie Länder lassen bei allen wichtigen Wohlstandsmaßen wirtschaftlich unfreie Ländern hinter sich, sei es beim Pro-Kopf-Einkommen, der durchschnittlichen Lebenserwartung oder den Erfolgen bei der Bekämpfung von Armut. Geordnet nach Quartilen der wirtschaftlichen Freiheit haben die Menschen in den freiesten Ländern ein acht mal höheres Einkommen als in den am wenigsten freien Ländern, werden im Durchschnitt knapp 20 Jahre älter, und selbst die Ärmsten verfügen über das zehnfache Einkommen. Aber auch bei den Bildungserfolgen, im Umweltschutz oder bei der Chancengerechtigkeit der Geschlechter schneiden wirtschaftlich freie Länder besser ab als Staaten, die ihre Bürger mit der Finanzierung riesiger öffentlicher Budgets belasten, ihre Rechtssicherheit nicht garantieren, den Schutz des Eigentums vernachlässigen, internationalen Handel unterbinden und Unternehmen mit einem dichten Geflecht von Regulierungen überziehen. Wirtschaftliche Freiheit, daran lässt die internationale Forschung kaum Zweifel, ist für den Wohlstand von größerer Bedeutung als die Demokratie. In vielen Fällen waren wirtschaftliche Freiheiten nach Reformen der Zündfunke zur Demokratisierung.

Häufig gelten politische Freiheiten als wichtigste Impulsgeber der Wohlstandsentwicklung. Tatsächlich können freie und faire Wahlen, von gewählten Volksvertretern ausgeübte politische Macht, Parteienwettbewerb und die Repräsentation von Minderheitsinteressen die Menschen wirksam vor politischer Gewalt und wirtschaftlicher Machtkonzentration schützen und damit Hemmnisse für gesellschaftlichen Wandel und technologischen Fortschritt beseitigen. Demokratische Mehrheitsentscheidungen neigen aber auch zu kurzsichtiger Politik, in der sich flüchtige Vorteile für die Mehrheit der Wähler zu Lasten von Minderheiten und zukünftigen Generationen durchsetzen. Oft leiden Demokratien mit einem schwachen Schutz bürgerlicher Grundrechte unter hohen und wachsenden Schulden und machen ihren Bürgern Wohlstandsversprechungen, deren Realisierbarkeit fraglich ist. Politische Freiheiten allein bieten in einem parlamentarischen System keinen Schutz davor, dass Privilegien gegen die finanzielle und ideelle Unterstützung im Kampf um Wählerstimmen getauscht werden. Ein derartiger Handel führt zur Verschwendung realer Ressourcen und lässt sich nur unter Einschränkung der individuellen Handlungsspielräume aller Bürger durchsetzen. Der politische Prozess wird vom Garanten der Freiheit zu einer Gefahr, wenn seine verfassungsrechtlichen Schranken erodieren. Politische Partizipation und demokratische Entscheidungen sind daher zwar eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung für Wohlstand und den Schutz der Freiheit jedes einzelnen.

Steffen Hentrich ist Referent für Energie, Umwelt und Wissenschaft, Liberales Institut – Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Berlin.

Contra: Ekaterina Poliakova

Ekaterina_Porträt

Begriffen wie ‚Freiheit‘, ‚Demokratie‘, ‚Gerechtigkeit‘ eine Definition zu geben, ist eine undankbare Aufgabe. Ich würde darauf gerne verzichten. Es geht mir nicht darum, was die Freiheit ist und ob sie ist, sondern nur darum, was diejenigen meinen, die von ihr sprechen, um sie kämpfen, sie verteidigen. Auch dies kann natürlich sehr mehrdeutig sein. Schließlich, um ein Wort Wittgensteins in Erinnerung zu rufen, nicht nur die Zuhörer können den Sprechenden nur durch seine Zeichen verstehen, sondern auch ihm selber stehen nur seine Zeichen zur Verfügung, um zu beurteilen, was er „wirklich“ meint.

Es gibt verhängnisvolle Momente im Leben der Völker, in denen Menschen so etwas wie Atemnot spüren: Es fehlt die Luft der Freiheit. So war es in Russland während des Augustputsches 1991, als viele Menschen sagten: „Wir wollen nicht zurück! Wir wollen nicht mehr unfrei sein!“ Diesem Gefühl hat der erste Präsident Russlands, Boris Jelzin, mit aller Entschiedenheit eine Stimme gegeben. Der Putsch ist deshalb gescheitert. Doch nur ein paar Jahre später verlor Jelzin selbst die Popularität und die Unterstützung der Bevölkerung, acht Jahre später wird er in seiner letzten Rede an die Nation um Vergebung bitten – dafür, dass nicht alles verwirklicht worden ist, was man erträumt hat, nämlich bald in einem „reichen, zivilisierten Land“ zu leben. Er wird dabei u.a. über eigene Naivität sprechen und über die unerwartete Komplexität der Aufgabe, die nicht mit einem Sprung zu bewältigen war. Dies ist kein Wunder. Enttäuschung ist die unablässige Folge jeder Freiheitsbewegung. Manchmal, im Falle der Revolution, endet sie sogar noch mit viel schlimmerer Unfreiheit als zuvor. Das krasseste Beispiel dafür ist wiederum Russland am Anfang des 20. Jh.

Warum ist die Freiheit so trügerisch? Warum bringt der Kampf um sie im besten Fall Enttäuschung, im schlimmsten Fall Despotie? Ich fürchte, die Antwort ist: Weil Menschen, die um die Freiheit kämpfen, ganz unterschiedliche Dinge meinen, z.B. den Wohlstand, das gesicherte Leben, die Gerechtigkeit im Sinne der Gleichheit und der Befriedigung der elementaren Bedürfnisse, in manchen Fällen die politische Unabhängigkeit, was andere wiederum als Separatismus tadeln. Dies ist übrigens das überzeugendste Beispiel dafür, dass es, wie Nietzsche einmal sagte, nur perspektivisches Sehen gibt: Von der Perspektive des Sprechenden hängt es ganz und gar ab, ob er von der nationalen Selbstbestimmung und Freiheit spricht oder von einem separatistisch-nationalistischen Verstoß gegen Völkerrechte.

Heute ist es die Westukraine, die von der politischen Freiheit träumt. Die Revolution hat gesiegt, weil man „europäisch“ leben will. Doch was heißt hier „europäisch“? Ist es im Sinne Europas, das Gesetz, das 40 Prozent der Bevölkerung die Benutzung der russischen Sprache garantierte, aufzuheben? Ist es europäisch, diese 40 Prozent überhaupt nicht in Betracht zu ziehen und sie bloß des Separatismus zu beschuldigen, anstatt ihre Rechte zu sichern? Man sagt „europäisch“, meint aber „wohlhabend“, „sozialversichert“. In der Krim und in der Ostukraine sagt man „russisch“, meint aber „gute Löhne“, „keine Arbeitslosigkeit“, „staatliche Investitionen“. Es geht in den beiden Fällen nicht um die Freiheit.

Aber geht es Westeuropa um die Freiheit, zumindest um die in den anderen Ländern? Wenn es so wäre, sollte man diese vielleicht dann unterstützen, wenn die Menschen danach streben, nicht wenn sie sich von ihr abwenden. Russland hat in den 1990er Jahren, als es in der schweren ökonomischen Situation die ersten Schritte auf dem Weg der Demokratie gemacht hat, keine Unterstützung bekommen. Die Freiheit hat sich damals in den Augen der Bevölkerung, die auf den Wohlstand hoffte, völlig diskreditiert, die Demokratie wurde zu einem Schimpfwort. Der russische Weg zum Wohlstand führte ab dem Jahr 2000 weg von der Demokratie. Wenn die europäischen Politiker heute von ihrem Besorgen um die Lage in Russland sprechen, heucheln sie also doppelt: Sie waren nicht besorgt, als man tatsächlich die Unterstützung brauchte, und sie sind es auch jetzt nicht, denn ihre Sorgen sind anderer Art. Das Gleiche, denke ich, betrifft die Ukraine. Man ist besorgt, aber nur weil man keinen NATO-Stützpunkt in der Ukraine einrichten kann, nicht weil alle Hoffnung auf Demokratisierung des Landes bald begraben wird.

Was ist mit dem demokratischen Europa selbst? Die gefährliche Illusion, dass die Freiheit und der Wohlstand zusammengehören, kann auch Europa eines Tages teuer zu stehen kommen. Dann nämlich, wenn man zwischen beiden wählen muss. Ich erinnere mich an eine öffentliche Podiumsdiskussion deutscher Rechtwissenschaftler, ob man Folter in besonderen Fällen der Terrorismusgefahr nicht zulassen sollte. Die Position, die dies befürwortete, hatte die vorwiegende Unterstützung der Zuhörer. Man war bereit zuzulassen, dass einer des Terrorismus Verdächtiger (sic!) gefoltert wird, um mehrere Leben zu retten. Man hat offensichtlich vergessen, was das Ziel des Terrorismus ist: Nicht ein paar hundert Menschen zu töten, sondern dem „Westen“ zu zeigen, dass die sogenannten westlichen Werte dem Westen selbst nichts bedeuten, dass es reine Heuchelei ist. Wenn wir schon beim Schatten der Gefahr bereit sind, Menschenrechte zu missachten, dann wollen wir keine Freiheit, keine Demokratie, keine Gerechtigkeit, sondern nur Sicherheit und Wohlstand, dann haben alle Gegner des Westens schon gewonnen.

Ekaterina Poliakova ist Privatdozentin für Philosophie an der Universität Greifswald.

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1 Kommentar

  1. Hr. Henrich definiert im ersten Absatz, was er unter „Wohlstand“ versteht, und im zweiten, was unter „Freiheit“ zu verstehen ist. Danach überlegt er kurz, wie der Zusammenhang für den gesunden Menschenverstand aussehen könnte und prüft dann, ob die Antwort mit der empirischen Faktenlage übereinstimmt, was sie offenbar auch tut.
    Fr. Poliakova erklärt gleich am Anfang, daß sie die Begriffe, über die sie schreiben wolle, nicht definieren würde. Entsprechend tut sie sich schwer, ein nachvollziehbares Gedankengebäude zu entwickeln, sondern schreibt lieber über etwas völlig anderes, nämlich, warum die teilweise Übernahme westlicher Gepflogenheiten in der ehemaligen Sowjetunion nicht ganz das erhoffte Ergebnis hatte. Da sie „Freiheit“ nicht definiert hat, fällt ihr nicht auf, daß das, was Russland aus Europa importiert hat, nicht notwendigerweise „Freiheit“ war. Und selbst wenn ihre Schlussfolgerungen gültig wären, hätte sie bloß gezeigt daß es zwei Fälle gibt (Russland und Ukraine), wo Freiheit und Wohlstand nicht streng zusammenfallen. Es könnte aber genauso gut sein, daß Freiheit und Wohlstand zwar korrelieren, aber nicht zu 100% zusammenhängen, oder Freiheit zwar eine notwändige, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung für Wohlstand ist, oder eventuell sogar umgekehrt.
    Wenn man also mehr Wert auf eine nachvollziehbare Argumentation als auf wohltönende Worte und emotionale Appelle legt, kann die Entscheidung eigentlich nur für Hr. Hentrich ausfallen.

Beitragsthemen: Demokratie | Freiheit | Ökonomie

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