Pro: Frank Adloff: Philosophy meets sociology oder wie man das richtige Leben im falschen findet
Eine Soziologin wird sich in der Regel nicht für zuständig erklären, wenn man sie fragt, ob es ein richtiges Leben im falschen gibt. Natürlich hat die kritische Theorie versucht, diese Frage zu beantworten (die Fragestellung dieses Blogeintrags ist ja auch Adorno geschuldet), doch folgen die meisten Soziologinnen und Soziologen heute Max Webers Empfehlung, kein Urteil darüber abzugeben, ob Lebensformen es wert sind, verwirklicht zu werden oder nicht. Dies hat zuletzt dazu geführt, nicht mehr eine kritische Soziologie, sondern eine Soziologie der Kritik (Boltanski) zu betreiben – also eine Soziologie, die gesellschaftliche Akteure dabei beobachtet, wie diese Institutionen, Sachverhalte, Verhaltensweisen usw. kritisieren.
Der praktischen Philosophie hingegen ist diese Sparsamkeit im Werturteil über Fragen des gerechten oder des guten Lebens fremd, sie betrachtet es als ihr ureigenes Geschäft, selbst und direkt zu normativen Fragen Stellung zu beziehen. Dies geschieht auf dem Wege der externen oder der internen Kritik. Man bezieht sich in der Kritik entweder auf die von der Philosophin selbst entwickelten ethischen und moralischen Urteile und misst gesellschaftliche Realitäten an ihnen, oder man bezieht sich auf die in der Gesellschaft vorhandenen Wertmaßstäbe und fragt intern, inwieweit man ihnen in der Praxis selbst folgt. Dabei lassen sich ethische Fragen des guten Lebens noch von universellen Gerechtigkeitsfragen unterscheiden. Ethische Fragen liegen gleichsam in der Mitte zwischen Geschmacksurteilen, über die sich nicht vernünftig streiten lässt, und allgemeinen moralischen Verboten und Geboten. Rahel Jaeggi (2014) hat jüngst vorgeschlagen, diesen mittleren ethischen Bereich danach kritisch zu befragen, ob ethische Lebensformen in der Lage sind, die Probleme zu lösen, die sich ihnen stellen. Lebensformen sollen also daran gemessen werden, ob ihre Problemlösungsstrategien rational in dem Sinne sind, dass sie in einem Lernprozess adäquat auf Probleme reagieren.
Nun verschiebt sich unter der Hand der Fokus. Die Frage lautet nun ja, welche Probleme sich Lebensformen stellen, wer Probleme als Probleme definiert, wie und wo man Problemlösungen beobachten kann, wie man soziale Lernprozesse theoretisch beschreiben und historisch beobachten kann. Das heißt, es stellen sich, wenn man nicht nur formal, sondern auch inhaltlich eine „Kritik von Lebensformen“ vornehmen will, genuin soziologische Fragen. Konkret: Dem globalen Norden stellt sich heute eine Vielzahl von Problemlagen (von denen des globalen Südens an dieser Stelle ganz zu schweigen): Die Folgen der „Finanzkrise“ 2008 sind alles andere als ausgestanden, der Finanzkapitalismus dominiert weiterhin weite Teile der Gesellschaft (die Politik eingeschlossen), soziale Ungleichheiten etwa in Form von Einkommens- und vor allem Vermögensungleichheiten haben massiv zugenommen, die Mittelschichten sehen sich unter enormem Statusdruck, die Politik hat postdemokratische Züge angenommen, Fragen kultureller Heterogenität und von Einwanderung werden als Probleme wahrgenommen – und dies findet alles vor dem geschrumpften Zukunftshorizont der globalen Erderwärmung statt, der uns laut vieler Prognosen massive soziale Umwälzungen bringt und eigentlich jetzt schon eine „große Transformation“ der Weltgesellschaft erfordert. Auf alle diese Probleme reagieren Funktionssysteme der westlichen Gesellschaften wie verschiedene Sozialmilieus unterschiedlich (oder auch gar nicht), es gibt unterschiedliche institutionelle und kulturelle Umgangsweisen mit ihnen, Problemanalysen und Situationsdefinitionen differieren usw. Niemand vermag zu sagen, welche Probleme „objektiv“ die dringlichsten und „realsten“ sind – außerhalb der gesellschaftlichen Konstruktion der Realität gibt es keinen Standpunkt, der gottgleich über diese Fragen entscheiden könnte. Auch die Wissenschaften können dies nicht und sind Teil der radikalen kulturellen Pluralität von Weltdeutungen moderner Gesellschaften. In Jaeggies formaler Beschreibung der möglichen Kritik von Lebensformen schleicht sich hingegen ein Glaube ein, das Lösen von Problemen objektiv beschreiben zu können, der an der Realität unterschiedlicher (auch wissenschaftlicher) Weltdeutungen scheitert. Natürlich gibt es in den Wissenschaften auch Lernprozesse und Konsensbildung, aber eben auch Dissens.
Bleibt also nur, gesellschaftliche Praktiken und Diskurse soziologisch zu beobachten? Ich denke: nein. Soziologinnen und Soziologen sind nicht nur Beobachter, sondern immer auch Teil der Lebenswelt, die sie beobachten, es ist auch ihre Lebenswelt. Und sie halten manche Werte und Lebensformen für besser als andere. Sie schätzen die Werte, die sie für besser als andere halten. Sich zu diesen Werten bekennen, bedeutet nicht zwangsläufig, das Postulat der Wertfreiheit einfach aufzugeben. Aber es bedeutet, sich in seinen soziologischen Fragestellungen an solchen Werten zu orientieren. Das mag ein partikularer Maßstab sein, weil jede Lebensform partikulare Wertorientierungen realisiert. Aber man kann die eigenen Wertmaßstäbe ausweisen. Aufgabe der Soziologie (oder zumindest einiger Soziologen und Soziologinnen) müsste es nach meinem Dafürhalten sein, sich zu eigenen normativen Sandpunkten zu bekennen und permanent zwischen diesen und den Gesellschaftsbeobachtungen zweiter Ordnung hin und her zu switchen. So gesehen lässt sich nämlich danach fahnden, welche gesellschaftlichen Akteure auf die oben genannten Gefährdungen radikal lernbereit reagieren.
Immer mehr Menschen sind bspw. der Ansicht, dass materieller Wohlstand und die Vorstellung vom guten Leben zu entkoppeln sind. Wir steuern im Westen ohnehin auf Postwachstumsgesellschaften zu und die degrowth-Bewegung fordert eine radikale Abkehr vom Wachstumsmodell. Dies kommt einer ethischen Revolte gleich, da es um die Entwicklung radikal neuer Sinnbezüge geht. Diese Sinnbezüge werden jedoch nicht von außen durch philosophische oder soziologische Theoretiker an die Gesellschaften herangetragen; sie existieren schon allenthalben. Praktisch wird diese neue Form von Konvivialität in einer Vielzahl von sozialen Konstellationen gelebt: in hunderttausenden von assoziativen Projekten der Zivilgesellschaft weltweit, im freiwilligen Engagement, in der solidarischen Ökonomie, in Kommunen, Kooperativen und Genossenschaften, im moralischen Konsum, in NGOs, in peer to peer-Netzwerken, Wikipedia, sozialen Bewegungen, Fair Trade und vielem mehr. Die assoziative, zivilgesellschaftliche Selbstorganisation von Menschen ist m.E. (hier also mein normativer Standpunkt) entscheidend für eine neue Theorie und Praxis der Konvivialität (siehe auch das 2014 auf Deutsch erschienene konvivialistische Manifest). Der unentgeltliche freie Austausch unter den Menschen kann als Basis einer konvivialen sozialen Ordnung gelten, die sich abgrenzt von einer materiell und quantitativ-monetär definierten Version von Wohlstand und gutem Leben.
Wenn man in diesen Feldern wegweisende Ideen und wertvolle soziale Experimentierfelder erblickt, dann nur, weil man mit der Problembeschreibung dieser Initiativen übereinstimmt und selbst den Standpunkt der Wertneutralität partiell verlassen hat. Soziologen, die sich an der Suche nach dem richtigen Leben (z.B. Konvivialität) im falschen (etwa „Wachstumsreligion“, verallgemeinerter Utilitarismus und Kapitalismus) beteiligen wollen, müssen wohl oder übel normativ Farbe bekennen und sich auf die Seite der Lebensformen stellen, die ihrer Meinung nach das größte Problemlösungspotential haben. Ob sie es tatsächlich haben, wird sich erst in der Zukunft (im Futur II) erwiesen haben. Oder anders formuliert, man sollte denen zu mehr Gehör verhelfen, die die Dinge schon jetzt so „betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“ (Adorno 1994: 333).
Theodor W. Adorno (1994): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Les Convivialistes (2014): Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens. Hg. von Frank Adloff & Claus Leggewie. Bielefeld: Transcript. Download unter www.diekonvivialisten.de
Rahel Jaeggi (2014): Kritik von Lebensformen. Berlin: Suhrkamp.
Prof. Dr. Frank Adloff ist Professor für Soziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Contra: Günther Mensching
Der Satz Adornos ist erstaunlicherweise zur Spruchweisheit verkommen. Seinen Gehalt in zweitausend Schriftzeichen auszuloten, ist schlechthin unmöglich. Das inzwischen übliche Verständnis überschreitet zumeist die Grenze der Albernheit, der gegenüber ein ernsthafter Kommentar gar nicht wahrgenommen würde. Daher hier nur einige Anmerkungen, die auf einen bisher kaum wahrgenommenen Aspekt hinweisen sollen. Der scheinbar grenzenlose Pessimismus, der aus dem Satz zu sprechen scheint, ist nicht dessen wahrer Gehalt, sondern nur die Projektion seiner Interpreten: Das Leben überhaupt ist falsch, das teilt sich jedem Leben mit, also gibt es womöglich gar kein lebenswertes Leben. Dazu im Gegensatz heißt der Satz zunächst einmal, dass wer hier über Wahr und Falsch reden will, eine Idee des Richtigen haben muss, an der das tatsächliche Leben gemessen wird. Darüber hinaus erhält der Satz seine Bedeutung aus dem Kontext des Adornoschen Denkens. Die historische Erfahrung der administrativ geplanten Menschenvernichtung entspringt einer prinzipiellen Negativität der Gesellschaft insgesamt, die ein nahezu unentrinnbares System darstellt, in dem sich auch die scheinbar verschonten Inseln noch als vom Gesetz des Ganzen bestimmt erweisen und in dem man sich bei entfaltetem Bewusstsein nicht rundum gemütlich einrichten kann. Dennoch liegt hierin keine fatalistische Botschaft, die keine Freiheit zulässt und jeden Gedanken als interessendeterminierte Ideologie verwirft. Vielmehr wird gesagt, dass solange des Denkens fähige Wesen leben, das Bewusstsein von Unfreiheit stets, wenn auch nur um ein Geringes, über den Zwangszusammenhang der Realität hinaus ist. Das Wissen um die Unfreiheit ist nicht deren Produkt. Diese Differenz des Denkens zur determinierten Wirklichkeit, von der jeder Mensch gleichwohl umfangen ist, kann indessen nicht wiederum aus irgendeiner empirischen Realität hergeleitet werden. Die Differenz meint zugleich die des Wahren und des Falschen. Dieses Bewusstsein entstammt der theologischen Sphäre, der Adorno näher stand als allgemein angenommen. Dennoch folgt hieraus keine praktikable Heilslehre. Eben hier beginnen die Probleme, deren Reflexion den hier gegebenen Rahmen bei weiten sprengen würde.
Günther Mensching ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Hannover.
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