Pro: Anna Schriefl
Die Sophisten genießen kein hohes Ansehen. Dem gängigen Bild zufolge unterrichteten sie politisch ehrgeizige junge Männer gegen hohe Bezahlung, vertraten einen ethischen Relativismus oder Amoralismus, entwickelten Scheinargumente und waren eher an Publikumserfolg als an echter Erkenntnis interessiert. Der Vorwurf, ein Argument sei sophistisch, bedeutet noch heute, es basiere auf rhetorischen Tricks. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es vermehrt Versuche, die Sophisten zu rehabilitieren. Für ihren schlechten Ruf, so heißt es seit Hegel, sei vor allem Platon verantwortlich. Er habe sie als fragwürdige Geschäftsleute mit unsympathischen Positionen und windigen Argumenten dargestellt, weil sie seine stärkste Konkurrenz waren. Tatsächlich hätten sie jedoch eine wichtige intellektuelle Bewegung begründet, ohne die Platons Philosophie nicht hätte entstehen können.
Ist Platons Kritik an den Sophisten also verfehlt? Klar ist, dass die Sophisten, die Platon in seinen Dialogen auftreten lässt, stark schematisiert sind; einige hat er vielleicht sogar erfunden. Selbst das markanteste Merkmal, das er ihnen zuschreibt, ist eine Stilisierung: nämlich, dass sie vor allem am Geld ihrer Schüler interessiert waren. Diese Stilisierung hat das Bild der Sophisten so nachhaltig geprägt, dass sich die Meinung hartnäckig hält, die historischen Sophisten hätten sich von den Philosophen durch ihre Honorarforderungen unterschieden. Offenbar will Platon jedoch durch seine Darstellung des kommerziellen Unterrichts vor allem seine Sichtweise verdeutlichen, der zufolge kommerzielles Interesse mit Wahrheitssuche und Tugenderwerb konfligiert. Platons Darstellung sagt also weniger über die historischen Sophisten als über ihn selbst. Dasselbe gilt für viele Theorien, die Platon ihnen in den Mund legt: Sie zeigen, was er für die wichtigste Gegenposition zu seiner eigenen Theorie hält, und geben nicht unbedingt Aufschluss über die Lehren der Sophistik.
Doch gelingt es Platon, diese Gegenpositionen zu entkräften? In der Politeia etwa vertritt der Sophist Thrasymachos die Ansicht, das glücklichste Leben sei das eines Tyrannen, der alle Begierden ungehemmt und aufgrund seiner Machtposition ungestraft befriedigen kann. Platon argumentiert dagegen, am glücklichsten lebten die idealen Philosophinnen und Philosophen, die ihre physischen Bedürfnisse gerade nicht ins Zentrum ihres Lebens stellen. Daher könnten sie genuine Erkenntnis erlangen, während der Tyrann seine Vernunft nur nutzte, um zu überlegen, wie er noch mehr Sex, Reichtum etc. haben kann. Zudem lebten die Philosophen harmonisch mit anderen, während der Tyrann ständig Intrigen befürchten müsse. Ist das plausibel?
Zweifellos macht Platon die Schwierigkeiten deutlich, die sich ergeben, wenn man wie Thrasymachos das glückliche Leben mit der Befriedigung von Bedürfnissen gleichsetzt. Dies degradiert die menschliche Vernunft zu einem Instrument und bietet keinen dauerhaften seelischen Frieden. Andererseits wirkt das Leben der Philosophen, das Platon als das glücklichste preist, ebenso unattraktiv. Es marginalisiert die physische und bedürftige Seite der menschlichen Natur, die zwar Anlass zu vielen Sorgen, aber auch Ursache wertvoller Erlebnisse und intimer Verbundenheit sein kann. Jedenfalls würden sicherlich mehr Menschen den Tyrannen für die Möglichkeit beneiden, sämtliche seiner Wünsche zu befriedigen, als die Philosophen dafür, ununterbrochen reflektieren zu können. Platon ist zugute zuhalten, dass er das zumindest weiß: Er lässt Thrasymachos darauf verweisen, dass die meisten Menschen den Tyrannen für glücklich halten. Als er dagegen das Leben der idealen Philosophen beschreibt, wenden die Gesprächspartner sogleich ein, dieses Leben sei unglücklich.
Zum Schluss ein wichtiger Hinweis: Platon ist kein Freund der Sophisten, aber er verbrüdert sich nirgendwo mit dem Hass, den einige seiner Zeitgenossen gegen sie hegten und der im bekannten Vorwurf mündete, sie würden die Jugend verderben. In der Politeia betont er, nicht die Sophisten verdürben die Jugend, sondern jene, die ihnen diesen Vorwurf machten (Rep. VI 492a-493a). Es gibt es nur eine Passage, wo die Vermutung anklingt, der Umgang mit Sophisten sei bedenklich (Prot. 313c-314a). Und tatsächlich sind es nicht die Sophisten, die im Jahr 399 die Todesstrafe für Sokrates fordern, sondern ihre erklärten Feinde.
Anna Schriefl ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Antike und Praktische Philosophie an der Universität Bonn und arbeitet dort an ihrem Habilitationsprojekt.
Contra: Barbara Zehnpfennig
Zunächst einmal: Wer hat die Sophisten so ernst genommen wie Platon? Sein eigenes Denken bedurfte als Vorlauf nicht nur der Naturphilosophie und der Eleatik, sondern mindestens ebenso sehr der Sophistik. Er – bzw. sein Lehrer Sokrates, in dessen Geist er spricht – musste erst die Aporien im Denken der Vorgänger erkennen, um zu seinem eigenen Weg zu finden. Insofern war Platons Haltung gegenüber der Sophistik nicht einfach die der Kritik. Sie war ein geistiges Ringen, das dem intellektuellen Gegner den größten Raum gewährte. Die Sophisten waren ihm offenbar wichtiger als alle Philosophen vor ihnen. So wissen wir auch das meiste, was wir von den Sophisten wissen, aus dem Werk Platons. Von daher ist das verbreitete Urteil, Platon habe die Sophisten aus seiner Ablehnung heraus einseitig dargestellt, verwunderlich. Woraus will man das schließen? Auf welche Quellen bezieht man sich?
Wenn man über eine historisch nicht ganz getreue Darstellung in den Dialogen spekulieren möchte, dann könnte man sie eventuell in der gedanklichen Geschlossenheit der sophistischen Positionen vermuten. Denn das ist in der Tat das spezifisch Sokratisch-Platonische: die Dinge radikal zu Ende zu denken. Ob den Sophisten das selbst so gelang, ist die Frage. Aber dann hätte der sokratische Dialog sie auf- und nicht abgewertet.
Warum waren die Sophisten Platon nun so wichtig, und was war das Falsche in ihrem Denken? Sie reagierten auf die Mängel der Philosophie vor ihnen und schienen damit die bestehenden Desiderate zu beheben. Der Objektivismus der Naturphilosophie übersah das erkennende Subjekt; der Rationalismus der Eleatik verlor seinen Bezug zum Gegenstand. Die Sophistik schien beides auszugleichen, verfiel aber in das Gegenextrem. Ihr Subjektivismus löste alles in Beliebigkeit auf, ihr Empirismus ignorierte den rationalen Anteil des Erkennens. Weder Objektivismus noch Subjektivismus, weder Rationalismus noch Empirismus, so die sokratisch-platonische Einsicht, konnten genügen. Dass die Lösung auf einer ganz anderen Ebene gesucht werden muss, als bisher gedacht wurde, zu dieser Einsicht wäre Platon ohne die Sophistik wohl nie gekommen.
Sie musste als Stufe überschritten werden. Das erforderte aber äußerste rationale Durchdringung. Die argumentativen oder logischen Fehler, die Platon dabei angeblich machte, weise man erst einmal nach! Oder man beweise positiv: dass der Rhetor von seinem Gegenstand nichts verstehen muss (Gorgias); dass der Stärkere aufgrund seiner Stärke auch im Recht ist (Thrasymachos); dass Erkenntnis Wahrnehmung ist (Protagoras); dass das Recht nur eine Funktion des Überlebens ist (ebenfalls Protagoras) usw.
Was an den Beispielen sichtbar wird, ist die Nähe des sophistischen Denkens zu unseren Alltagsmeinungen, aber auch zu deren philosophischer Überhöhung. Mit Protagoras kann man gut behaupten, dass alles relativ ist, bzw. man vertritt philosophisch den Konstruktivismus. Mit Protagoras lässt sich ebenfalls die Meinung vertreten, den Staat brauche man nur, weil man sich sonst wechselseitig den Schädel einschlagen würde; in der philosophischen Fassung wäre das der Kontraktualismus. So ließe sich noch Vieles finden, was uns ganz nahe ist, obwohl es aus der Antike kommt.
Ist diese Nähe der Grund, weshalb wir Platons Widerlegung der Sophistik immer wieder unter Verdacht stellen – den Verdacht, hier gehe es nicht mit rechten Dingen zu? Möglicherweise wollen wir selbst ja nicht von Platon widerlegt werden. Wenn er aber darin recht hat, dass die Befreiung vom Irrtum die größte Wohltat ist, die man einem Menschen erweisen kann, sollten wir uns die Widerlegung vielleicht doch gefallen lassen.
Barbara Zehnpfennig ist Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau.
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