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Pro und Contra: Ist der Mensch für seine Gesundheit verantwortlich?

Veröffentlicht am 21. April 2014

Foto Polednitschek

Pro: Thomas Polednitschek

Wir haben keine andere Wahl, als die Verantwortung für unsere Gesundheit selbst zu übernehmen. Denn die Verantwortung für die eigene Gesundheit gehört in einer reflexiv gewordenen Moderne zu der bewussten Lebensführung, zu der es keine Alternative gibt. Eben dies heißt aber auch: Unsere je eigene Gesundheit liegt nicht in der Verantwortung von anderen Personen (z.B. Ärzten) und Institutionen (z.B. Krankenhäusern). Diese sind nicht für unsere Gesundheit verantwortlich, sondern verpflichtet, mit unseren Erkrankungen verantwortlich umzugehen – weshalb es eigentlich nur ein Krankheitsversorgungssystem und kein Gesundheitssystem gibt.

Ein Psychotherapeut ist nicht für die seelische Gesundheit seiner Klienten verantwortlich, sondern dafür, mit den Möglichkeiten seiner Heilkunst der seelischen Erkrankung eines jeden von ihnen gerecht zu werden. Die Verantwortung für seine seelische Gesundheit nimmt der Klient wahr, indem er einen Psychotherapeuten aufsucht. So tat dies auch der junge Mann, der vor langen Jahren zu mir in die Praxis kam. Er wollte drei Menschen töten, von denen er sich in seiner Kindheit gedemütigt gefühlt hatte. Ich hatte als Psychotherapeut die Verantwortung, dass die seelischen Verletzungen „vernarben“ konnten, die seinen Hass ausgelöst hatten. Er übernahm dafür die Verantwortung, dass weder er noch seine Mitwelt Opfer seines Hasses wurden. Zukunftsfähig ist zukünftig diese Arbeitsteilung: Experten sind für unsere Krankheit, wir sind für unsere Gesundheit verantwortlich. Das verlangt bei Arzt und Patient ein Umdenken.

Selbst die Verantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen, heißt, etwas für unsere Gesundung zu tun oder einer Erkrankung vorzubeugen. Wir sind für unsere „geistige Altersvorsorge“ verantwortlich, ohne dass wir damit verhindern können, an Demenz zu erkranken. Wir haben die Verantwortung für unsere Gesundheit, aber wir haben nicht die Möglichkeit, kein Opfer einer Erkrankung zu werden. Wir sind z.B. dafür verantwortlich, das Risiko zu vermindern, an Lungenkrebs zu erkranken, indem wir keine Zigaretten rauchen, aber wir können an Lungenkrebs erkranken, ohne zu rauchen.

Die bewusste Lebensführung ist nicht nur eine Sache der Diätetik (ihr Thema ist die Frage, wie ein längeres Leben möglich ist). Sie ist seit Platon auch eine Frage der Selbstsorge (ihr Thema ist die Frage, wie ein gutes Leben möglich ist). Die volle Verantwortung für seine eigene Gesundheit übernimmt deshalb, wer sich nicht nur um seinen Körper, sondern auch um seine Seele sorgt. Dem trägt die Definition der Gesundheit durch die Weltgesundheitsorganisation Rechnung: „Völliges körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden“. Der „letzte Mensch“ Nietzsches „halbiert“ die bewusste Lebensführung: Er macht seinen Körper zu einem Götzen, aber seine Freiheit ist durch die Banalität bedroht. „Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht; aber man ehrt die Gesundheit“.

Thomas Polednitschek ist promovierter Theologe und arbeitet als Philosophischer Praktiker und Psychotherapeut in Münster.

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Contra: Marie Kajewski

Die Pflege der eigenen Gesundheit ist einer der zentralen Imperative unserer Gesellschaft. Allseits konfrontieren uns die Medien mit dem Bild des jungen, athletischen Menschen, das Vitalität bis ins hohe Alter verspricht, so wir denn unseren Körper entsprechend pflegen und trainieren. Da dies in unserem eigenen Interesse zu liegen hat, so obliegt es eben unserer eigenen Verantwortung, unsere geistige und körperliche Leistungsfähigkeit zu erhalten und zu fördern, wodurch wir auch unsere sozialen Rollen und Funktionen optimal ausüben können.

Eine solche Sicht offenbart bei genauerer Betrachtung zwei problematische Aspekte. Zu nennen wäre zuerst der geradezu zynische Machbarkeitswahn, der die umfassende Verfügung über das Gut der eigenen Gesundheit suggeriert. Wer unter Gelenkverschleiß leidet, der hat sich nicht genug bewegt; der Übergewichtige ist wahlweise zu undiszipliniert oder zu antriebsschwach, und den Kampf gegen den Krebs zu verlieren bedeutet, nicht genug positive Selbstheilungskräfte mobilisiert zu haben. Auf diese Weise aber wird der Kranke als leistungsscheu gebrandmarkt – ‚nicht können‘ wird als ‚nicht wollen‘ interpretiert. Damit entbirgt sich im Weiteren auch die kapitalistische Logik hinter dem Gesundheitsimperativ. Gesundheit bedeutet Leistungsfähigkeit und die grundlegendste Leistung ist die Selbsterhaltung – schließlich benötigt die Arbeitswelt gesunde Arbeitnehmer. Das Ziel wird so ins Gegenteil verkehrt: War Arbeit ursprünglich das Mittel zum Zweck der Lebenserhaltung, so ist sie nun Ziel an sich, dem alles andere und so eben auch die Gesundheit untergeordnet wird.

Gesundheit aber ist weder eine Leistung noch ein absolutes Gut. Wollen wir die Verantwortlichkeit menschlicher Existenz nicht äußerlich von den Anforderungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems her bestimmen, sondern vom Inneren des Menschen aus, so bietet sich ein Rückgriff auf die Tradition des humanistischen Liberalismus an. Dieser spricht dem Menschen die Verantwortung dafür zu, seine individuellen Kräfte proportionierlich zu einem Ganzen zu vervollkommnen. Gesundheit ist dabei nur eine von mehreren Kräften und unterliegt dem Ausgleich, der persönlichen Abwägung. So kann beispielsweise eine Raucherin bewusst die Schädigung ihrer Lunge in Kauf nehmen, um ihre Lebensqualität zu steigern, und ein Musiker kann sich entscheiden, seine bipolare Störung gerade deshalb nicht zu therapieren, weil sie der Motor seiner Kreativität ist.

Diese Abwägung des Gutes der eigenen Gesundheit mit anderen Gütern und Zielen kann im äußersten Fall sogar die Preisgabe des eigenen Lebens bedeuten, nämlich dann, wenn das Vertreten eines Wertes oder Standpunktes für wichtiger als das eigene Überleben gehalten wird. Zu denken wäre hier etwa an Hungerstreiks, in denen die Streikenden für ein Mehr an Humanität und Würde eintreten. Das oftmals repressive Auftreten der Staatsmacht gegen diese Form des Protests zeigt dabei deutlich, wie leicht die vermeintlich individuelle Entscheidung für einen bestimmten Umgang mit der eigenen Gesundheit mit politischen Interessen konfligiert und diesen untergeordnet wird. Hier wird schlussendlich der biopolitische Zwang zur Förderung der eigenen Gesundheit offenkundig. Diesem ist, genau wie der Leistungslogik, durch eine eigenverantwortliche, ganzheitliche Abwägung zu begegnen.

Marie Kajewski ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Geschäftsführerin des Diözesanrates der Katholiken im Bistum Hildesheim.

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1 Kommentar

  1. Es könnte scheinen, dass Frau Kajewskis Meinung derjenigen Herrn Polednitscheks nicht widerspricht, eher im Gegenteil. -Gibt es wirklich eine Alternative zur (ganzheitlichen, leider auch“ materiellen“) Gesundheit, gerade wenn man, wie es bei Frau Kajewski scheint, den plausiblen Kampf für ein besseres Zusammenleben, z. T. gegen die „repressive Staatsmacht“ (z.B. für die gefolterte Tierwelt) im Auge hat ? Die Beispiele etwa der unter Drogen gute, auch gesellschaftskritische Kunst schaffenden Künstler etc. scheinen dabei zahlenmäßig am Rande zu liegen. Und die Instrumentalisierung des Gesunden durch zu verbessernden Verhältnisse/(Un-)Ordnungen scheint nicht gegen die Notwendigkeit der Gesundheit an sich zu sprechen. Um so weniger vielleicht in jenem von Frau Kajeweski angesprochenen sozial konfliktiven Zusammenhang, der scheinbar in Herrn Polednitscheks Argumentation ungenannt und „zwischen den Zeilen“ vorausgesetzt wird.

Beitragsthemen: Ethik | Medizin

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