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Pro und Contra: Mehr Organe für die Organtransplantation durch eine Widerspruchslösung – ist das ethisch vertretbar?

Veröffentlicht am 2. September 2013

pro: Gerhard Kruip

Nach dem Transplantationsgesetz von 1997 gilt derzeit, dass nur demjenigen nach dem Tod Organe entnommen werden dürfen, der vorher dazu seine Zustimmung gegeben hat (oder dessen Angehörige von einer solchen Zustimmung wissen oder sie mit guten Gründen vermuten). Nach der Änderung des Gesetzes am 1.11.2012 versenden die Krankenkassen inzwischen im Rahmen der sogenannten „Entscheidungsregelung“ Informationsbriefe mit Formularen für Organspendeausweise und fordern ihre Versicherten auf, sich für oder gegen eine Organspende zu entscheiden und dies auf dem Ausweis zu vermerken. Der Gesetzgeber verband damit die Erwartung, mehr Menschen als bisher zu einer Organspende zu motivieren. Angesichts der Tatsache, dass es in Deutschland weit weniger Spender-Organe gibt als Menschen, denen durch eine Organtransplantation geholfen werden könnte, hatte der Nationale Ethikrat in einer Stellungnahmen vom April 2007 dafür plädiert, eine „Widerspruchslösung“ einzuführen. Danach hätten all denen nach dem Tod Organe entnommen werden können, die nicht vorher dagegen Widerspruch eingelegt hätten bzw. bei denen kein Widerspruch von Angehörigen vorläge. In den letzten Jahren ist die Zahl der Organspenden nochmals deutlich zurückgegangen. Deshalb plädiere ich dafür, über die Entscheidungslösung hinauszugehen und tatsächlich eine Widerspruchslösung einzuführen.

Die wichtigsten Argumente dafür sind die folgenden: Generell sind wir anderen Menschen gegenüber, die sich in einer schweren Notlage befinden, zur Hilfe verpflichtet, sofern wir zu helfen in der Lage sind und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten und Kosten zumutbar sind. Im deutschen Recht gibt es deshalb sogar den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Nun ist unstreitig, dass sich Menschen, die auf ein Spenderorgan warten, weil sie anders nicht mehr gesund werden können und nicht mehr lange zu leben haben, in einer schweren Notlage befinden. Alle anderen Menschen, die helfen könnten, sind dann prinzipiell zur Hilfeleistung verpflichtet. Und helfen kann man eben, indem man zustimmt, dass die eigenen Organe nach dem Tod zum Zweck der Transplantation entnommen werden dürfen. Diese Hilfe ist auch zumutbar, denn für den Verstorbenen selbst sind damit keine Nachteile verbunden, sofern er nicht bestimmte weltanschauliche Vorbehalte hat und er das Vertrauen haben kann, dass die Organentnahme erst nach dem nicht revidierbaren Hirntod und in menschenwürdiger Weise erfolgt. Typischerweise ist aber in diesem Fall wie häufig bei positiven Rechten unklar, wer die korrespondierenden Pflichten zu tragen hat, weshalb zu wenige Personen konkret Hilfe leisten (Verantwortungsdiffusion). Deshalb sind wir gemeinsam über staatliche Institutionen verpflichtet, Regelungen zu schaffen, die diesen „Bystander-Effekt“ vermeiden. Das würde dafür sprechen, gesetzlich allen eine Pflicht zur Organspende nach dem Tod aufzuerlegen. Da man aber aus Rücksicht auf weltanschauliche oder andere persönliche Vorbehalte nicht generell alle einfach zur Organspende verpflichten kann, wäre die Widerspruchslösung eine sinnvolle Lösung, weil sie einen Kompromiss zwischen der grundsätzlichen allgemeinen Verpflichtung und der Berücksichtigung von individuellen Vorbehalten darstellt. Angesichts der vorhandenen Pflicht zur Hilfeleistung ist die damit verbundene Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod bei der Niederlegung eines solchen Widerspruchs zumutbar. Auch in anderen Zusammenhängen setzen wir uns mit dem Tod auseinander, z.B. beim Abschluss von Risikolebensversicherungen. Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland immer noch nur ca. 20 Prozent einen Spenderausweis haben, muss die derzeit geltende Regelung dringend überdacht werden.

Gerhard Kruip ist Professor für Christliche Anthropologie und Sozialethik an der Universität Mainz.

 

contra: Andrea Dörries

Die Transplantation von Organen ist seit Beginn in den 1960er Jahren in weiten Teilen der Bevölkerung sehr umstritten gewesen. Dies hatte u.a. mit der neuen, der Organentnahme vorausgehenden Todesdefinition „Hirntod“ zu tun. Einzelnen Organen wurden aber über ihre physiologische Funktion hinaus weitergehende Bedeutungen zugemessen (z.B. das Herz als „Sitz der Seele“). Fragen wie „Ist der hirntote Mensch auch wirklich tot?“ oder „Wie geht es mir mit dem Herzen eines anderen Menschen?“ spielten dabei eine Rolle.

Erst nach mehreren Jahrzehnten der Erfahrung im Umgang mit Organtransplantationen wurde 1997 im Bundestag das Transplantationsgesetz verabschiedet. Ihm war eine äußerst kontroverse öffentliche Debatte um die Zustimmungslösung bzw. die Widerspruchslösung in ihrer engen oder erweiterten Form vorausgegangen. Der Bundestag entschied sich für die erweiterte Zustimmungslösung. Immer wieder wurde seitdem – insbesondere seitens der Transplantationsmedizin – auf die langen Wartelisten und die zu wenigen verfügbaren Organe

hingewiesen. Hier setzt die Stellungnahme des Nationalen Ethikrats mit dem Plädoyer für eine Widerspruchslösung an.

Dagegen möchte ich für den Beibehalt der erweiterten Zustimmungslösung plädieren:

Das Missverhältnis zwischen benötigten und vorhandenen Organen kann primär über den Abbau finanzieller und organisatorischer Hemmnisse vermindert werden. So spielen Abrechungsmodalitäten und Organisationsmängel nicht selten eine entscheidende Rolle bei der geringen Meldequote der Krankenhäuser. Zudem kann einer eher zurückhaltenden Haltung des Krankenhauspersonals gegenüber Explantationen mit Fortbildungen und unterstützender Begleitung begegnet werden.

In der Diskussion um den Organmangel wird kaum angesprochen, dass die transplantierten Patienten und Patientinnen dadurch zwar häufig eine deutliche Besserung ihrer Lebensqualität erfahren, aber nicht geheilt werden. Sie sind zeitlebens auf nebenwirkungsreiche Medikamente angewiesen und eine erneute Transplantation ist nach einigen Jahren bei einem hohen Anteil von ihnen wahrscheinlich. Deshalb ist zu fragen, wie weit die Verpflichtung zur Hilfeleistung für einen anderen Menschen geht, der nicht geheilt werden kann. Ist es zumutbar einen Widerspruch gegen eine Transplantation zu verlangen, oder muss eine Zustimmung vorliegen (oder zumindest gemutmaßt werden)? Könnte man eine Heilung erwarten, wäre dies sicher anders zu gewichten.

Auch heutzutage greift die postmortale Organtransplantation weiterhin tief in kulturelle und religiöse Traditionen ein: Wann ist der Mensch tot und was geschieht mit ihm anschließend? Warum sieht ein Hirntoter lebendig aus? Was passiert dem Menschen als Menschen, wenn die Organe entnommen worden sind? Auch Menschen in den Heilberufen stellen sich diese Fragen. Bei einer Widerspruchslösung ist davon auszugehen, dass nur ein kleiner Teil der Bevölkerung schriftlichen Widerspruch äußern wird. Mit dem Widerspruch bei einem eingetretenen Hirntod werden folglich die Angehörigen belastet: Entweder müssen sie sich explizit äußern oder die Explantation hinnehmen. In einem so sensiblen Bereich wie dem Verständnis von körperlicher Integrität sollte eine Entscheidung für eine Spende immer hoch respektiert und anerkannt, aber nicht gesellschaftlich erwartet werden.

Andrea Dörries ist Leiterin des Zentrums für Gesundheitsethik in Hannover.

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4 Kommentare

  1. Tatsächlich ein sehr kontroverses Thema. Weil die Argumente auf beiden Seiten sehr stark sind, fällt es mir schwer, sich zu entscheiden…

  2. Liebe Diskutanten,

    mir scheint Andrea Dörries`mit Ihren Vorbehalten überzeugend,zumal, wie gesehen bei den neuerlichen Skandalen, sehr viel Geld als Korruption im „Spiele“ ist. Die Zustimmung zur „Widerspruchsregelung“ scheint mit angesichts dessen naiv.

    • Über die Einwände von Frau Dörries hinaus gibt es weitere schwerwiegende Ablehnungsgründe zur Widerspruchslösung:
      1. Die inzwischen streitige Hirntoddefinition. Bei der Entscheidungslösung kann sich ein Mensch für die Selbsttötung entscheiden; denn beim Hirntod handelt es sich um die Tötung von noch nicht zu Ende gestorbene Sterbende.
      2. Die Erklärungen zum Widerspruch können leicht übersehen oder absichtlich ignoriert werden. Dazu gibt es zahlreiche Fälle aus Ländern, welche die Widerspruchslösung als Gesetz geregelt haben.
      3. In Kriegsgebieten (Beispiel: Kosowo, Syrien) in denen die Widerspruchslösung gilt, kann leichtfertig „geerntet“ werden; es gibt ja zu viele bzw. genügend Hirnverletzte.
      4. Die große und steigende Nachfrage nach Organen ist mind. zu 30 % von Retransplantaten, also widerholter Zweit- oder Dritt-Transplantation verursacht.
      5. Die Widerspruchslösung führt zu noch größeren Unsterblichkeitsphantasien und behindert deshalb, dass Menschen sich als sterblich akzeptieren und deshalb den Umgang mit schwerer Krankheit einüben.
      6. Die Widerspruchslösung verhindert die selbstwert-bezogene Auswahl transplantabler Organe bzw. deren Widerspruch (also: alle Organe außer Herz, Augen, Gehirn etc.)
      7. Da versucht wird, auch Hirnsubstanzen transplantabel zu machen (Behandlung von Parkinson, Schizophrenie etc.), gefährdet die Widerspruchslösung besonders die Herz-Kreislauf-Geschädigten, also die noch funktionstüchtige Hirnsubstanzen besitzenden Sterbenden. Z.Zt. wird bekanntlich darüber diskutiert, die irreversibel Herz-Kreislauf-Geschädigten in die Todesdefinition aufzunehmen.
      8. Die Trauer der Angehörigen ist unter dem Einfluss der Zustimmungslösung ist schon schwierig genug; um wieviel schwieriger wird das Trauern bei einem ohne Zustimmung total explantierten Angehörigen.
      Das sind nur einige ergänzende Gegenargumente gegen die Widerspruchslösung; es gibt noch erheblich mehr…..

      • Es gibt einen einfachen Punkt , der hier nicht gesehen wird! Ein Arzt ist ein Mensch mit allen Blödheiten und moralischen Verfehlungen, etwa nicht? Wie kommt man eigentlich darauf, das er gewissenhaft beurteilt, ob jemand tot ist? Die arbeiten ja sonst auch nicht gewissenhaft ( wenn man Kassenpatient ist). Man weiß, dass viele Schmus machen, die Kassen betrügen. Vielleicht die Mehrheit.
        Dass Organtransplantation eine gute Sache ist, darüber braucht man sich unter intelligenten Menschen nicht zu unterhalten.
        Trotzdem: Es wäre dumm, seine Organe per „Ausweis“ zur Verfügung zu stellen, denn dann werden sie sicher entnommen. Und wenn der Arzt glaubt, er hat keinen einflussreichen Menschen vor sich, dann wird der Tod ein kleines bisschen leichtfertiger festgestellt, wetten?

Beitragsthemen: Ethik | Medizin | Recht

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