Pro: Thomas Potthast
Insofern Philosophie es zentral mit der Reflexion auf Begriffe zu tun hat, sollten eingebürgerte Termini nicht einfach verwandt werden, nur weil sie etabliert sind. Ethik ist als Teil der praktischen Philosophie stets auf Handlungen orientiert. Die Rede von einer „angewandten“ Ethik legt nahe, dass eine gar nicht angewandte „reine“ Ethik sozusagen sekundär „angewandt“ wird. Es erscheint aber nicht plausibel, völlig außerhalb menschlicher Handlungs-Praxis nach dem Guten oder dem Gerechten zu fragen, sei es metaethisch-analytisch oder normativ-begründend. Mit der Ethik verhält es sich insofern anders als mit der Mathematik oder der Physik, in der die Unterscheidung von „rein“ bzw. „theoretisch“ einerseits und „angewandt“ andererseits vielleicht sinnvoll sein mag.
„Angewandt“ signalisiert, dass eine außerhalb der Handlungs-Praxis stehende Theorie wie eine mathematische Formel oder ein Naturgesetz auf jeden Einzelfall in gleicher Weise bezogen werden könnte. In der Ethik ist jedoch der Kontextbezug sehr viel bedeutsamer, und vor allem ist stets moralische Urteilskraft nötig, welche über eine bloße „Anwendung“ weit hinaus geht.
Immer wieder hat es seit Baruch de Spinoza Versuche gegeben, eine Ethik „more geometrico“ zu entwerfen – in heutiger Redeweise: Algorithmen zu entwickeln, durch die aus eingegebenen Daten und Normen gleichsam mechanisch ein-eindeutige Ergebnisse – hier: moralische Urteile – generiert werden könnten. Um diesen Anschein zu vermeiden, sei vorgeschlagen, von „anwendungsbezogener“ Ethik zu sprechen.
Dazu gehört noch ein zweites wichtiges Argument: Es ist eben nicht die Ethik, die „angewandt“ wird, sondern in speziellen gesellschaftlichen Praxisfeldern (Technik, Medizin, Wirtschaft und in diesen Bereichen noch einmal in bestimmten Anwendungskontexten) sind moralische Fragen zu erörtern. Dabei geht das Allgemeine (in) der Ethik keinesfalls verloren: es wird mit Blick auf Anwendungszusammenhänge reflektiert und konkretisiert, aber eben selbst nicht „angewandt“.
Prof. Dr. Thomas Potthast ist Mitglied des Vorstands und Wissenschaftlicher Koordinator des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen.
Contra: Roland Kipke
„Angewandte Ethik“ ist der gängige Begriff. Sollte man ihn ändern? Nein. Denn es geht genau darum: Ethische Reflexion auf konkrete Probleme anzuwenden. Gegen den Begriff wird vorgebracht, dass man allgemeine ethische Theorien nicht eins zu eins auf konkrete Probleme anwenden könne. Das ist richtig. Doch solch ein simples Umsetzungsverhältnis würde die Rede von „angewandter Ethik“ nur nahelegen, wenn man unter „Ethik“ ausschließlich abgeschlossene ethische Theorien verstünde. Primär aber ist Ethik eine Tätigkeit, nämlich die Reflexion über die moralische Dimension menschlichen Handelns. Diese Reflexion kann und soll auf konkrete Fragen angewandt werden. Aber natürlich geht es auch darum, Konzepte und Theorien, die aus dieser Tätigkeit hervorgehen, auf konkrete Fragen anzuwenden. Wenn das gar nicht ginge, wenn also die Ergebnisse allgemeiner Ethik für die Praxis völlig ungeeignet wären, könnte man auf sie verzichten.
Selbst wenn es Sachgründe für die Abkehr von „angewandter Ethik“ gäbe, sprechen starke pragmatische Argumente dagegen: Wir haben viele Begriffe, deren eigentliche Wortbedeutung fragwürdig ist. Dennoch kommen wir hervorragend mit ihnen zurecht. Wir „hören“ die ursprüngliche Bedeutung nicht mehr. Für die Etablierung neuer Begriffe gibt es immer nur ein schmales Zeitfenster. Dies ist in Sachen „angewandte Ethik“ schon lange geschlossen. „Angewandte Ethik“ bzw. „applied ethics“ ist heute der übliche Begriff. Über dieses Zeitfenster hinaus auf begrifflichen Alternativen zu beharren, ist nicht nur in den meisten Fällen chancenlos, sondern unnötig irritierend und umständlich. Einen etablierten Begriff sollte man nur dann hartnäckig zu ändern versuchen, wenn er moralisch problematisch, also z.B. diskriminierend ist. Davon kann bei „angewandte Ethik“ keine Rede sein.
Zudem bieten Alternativen wie „anwendungsbezogene Ethik“ keinerlei Vorteil – auch an den Maßstäben ihrer Befürworter gemessen. Denn auch dabei bleibt es bei einem Anwendungsprozess, jetzt aber verunklart durch eine „Bezogenheit“.
Dr. Roland Kipke ist Philosoph und Wissenschaftlicher Koordinator des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen.
Erstveröffentlichung in: Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften: Jahresbericht 2013, S. 8/9.
0 Kommentare