Rainer Forst
Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.
Johann Wolfgang Goethe, Maximen und Reflexionen
Goethes Diktum ist paradigmatisch für eine gängige Kritik des Begriffs der Toleranz: Im Tolerieren, dem Dulden des Anderen, stecke eine Geringschätzung seiner; Toleranz sei eine strategische, herablassende (Kant spricht vom „hochmüthigen Namen der Toleranz“) oder gar (wie Marcuse meinte) repressive Haltung, in der der Andere nicht wirklich, nicht im eigentlichen Sinne anerkannt werde.
Dem steht eine andere, nicht minder gängige Verteidigung der Toleranz gegenüber, der zufolge sie ein besonderer Ausdruck des Respekts, ja gar der Wertschätzung des Anderen ist. Der Andere erscheint trotz aller Differenz als geachtete Person, zuweilen gar als jemand, den man (bzw. die Gemeinschaft, der er oder sie angehört) um seiner Besonderheit und Andersheit willen als Bereicherung ansieht im bunten Strauß der Werte und Lebensformen.
Damit ist bereits angezeigt, dass die Begriffe Anerkennung und Toleranz eine philosophische Aufgabe stellen, nämlich zu erklären, welche Form der Anerkennung in der Toleranz steckt: ob sie eine Haltung der Achtung oder eher der Missachtung des Anderen ist. Dazu will ich im Folgenden einige (sehr) kurze Bemerkungen machen.[1] Sie laufen auf die Thesen hinaus, dass (1) der Begriff der Toleranz die Akzeptanz ebenso wie die Ablehnung des Anderen impliziert, dass ferner (2) vier Konzeptionen der Toleranz zu unterscheiden sind, die unterschiedlichen Formen der Anerkennung entsprechen, und dass (3) weder der Begriff der Toleranz noch der der Anerkennung bei der Beantwortung der entscheidenden normativen Frage helfen, welche dieser Konzeptionen in einer multikulturellen Gesellschaft leitend sein sollte.
1. Der Begriff der Toleranz
Das allgemeine Konzept der Toleranz lässt sich durch eine Reihe von Punkten bestimmen, von denen ich hier die wichtigsten herausgreife.
Erstens ist es für den Begriff der Toleranz wesentlich, dass die tolerierten Praktiken oder Überzeugungen in einem normativen Sinne als falsch angesehen bzw. als schlecht verurteilt werden; man kann dies als Ablehnungs-Komponente bezeichnen. Wäre diese nicht vorhanden, hätte man es nicht mit Toleranz zu tun, sondern entweder mit Indifferenz oder mit vollständiger Bejahung – zwei Haltungen, die mit Toleranz unverträglich sind (obwohl sie häufig mit ihr verwechselt werden). Damit ein wirklicher Anlass zur Toleranz besteht, muss diese Ablehnung normativ gehaltvoll sein, was blinde Vorurteile ausschließt – weshalb man Rassisten etwa auch nicht auffordern sollte, sie mögen doch tolerant sein. Man sollte eher ihre Vorurteile bekämpfen.
Zweitens gehört zur Toleranz eine positive Akzeptanz-Komponente, der zufolge die tolerierten Praktiken oder Überzeugungen zwar als falsch oder schlecht, doch nicht als so vollkommen falsch oder schlecht beurteilt werden, dass ihre Tolerierung unmöglich wird. Die Gründe, die auf dieser Ebene für Toleranz sprechen, müssen folglich die Gründe, die zur Ablehnung bestimmter Praktiken führen, in der im entsprechenden Kontext relevanten Hinsicht übertrumpfen, nicht aber auflösen: Die Ablehnung muss erhalten bleiben.
Drittens ist ein Begriff der Toleranz nicht ohne eine Bestimmung der Grenzen der Toleranz zu verstehen. Dazu bedarf es einer weiteren Komponente: der Zurückweisungs-Komponente, d.h. einer dritten Art von Gründen, die für sich beanspruchen müssen, die Grenzziehung möglichst unparteilich vorzunehmen. Dabei ist das Motto „Keine Toleranz gegenüber der Intoleranz!“ allerdings nur begrenzt dienlich, denn allzu oft schleicht sich in diese Versuche der Grenzbestimmung selbst die Intoleranz ein.
Viertens ist zu betonen, dass die Ausübung von Toleranz nicht erzwungen sein darf. Denn in diesem Fall würde man eher von einem „Erdulden“ oder „Ertragen“ von Praktiken und Überzeugungen reden, gegen die man nichts unternehmen kann. Hieraus jedoch zu schließen, dass die tolerierende Partei sich in einer Machtposition befinden muss, von der aus sie die betreffenden Praktiken effektiv unterbinden könnte, ist nicht angebracht; auch eine nicht mit solcher Macht ausgestattete Minderheit kann eine Haltung der Toleranz einnehmen.
Fünftens schließlich ist zu beachten, dass Toleranz sowohl eine Praxis als auch eine Haltung bezeichnen kann, so einerseits die rechtlich-politische Praxis innerhalb eines Staates, in dem Minderheiten bestimmte Freiräume gewährt werden, und andererseits die persönliche Haltung oder Tugend, die darin besteht, Praktiken, mit denen man nicht übereinstimmt, zu tolerieren. Ersteres kann durchaus ohne Letzteres vorkommen; Letzteres allerdings ist der grundlegende Begriff.
2. Konzeptionen der Toleranz
Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Charakterisierung des Konzepts der Toleranz stelle ich im folgenden vier Konzeptionen skizzenartig vor, die sich alle auf den politischen Kontext beziehen, in dem es innerhalb eines Staates um die Toleranz zwischen Gruppen geht, die normativ bedeutungsvolle und tiefgreifende Differenzen politischer, kultureller oder religiöser Art aufweisen. Diese Konzeptionen finden sich in vielen historischen Epochen und Konstellationen, und sie bestimmen bis heute unser Toleranzverständnis – und führen zum Streit darüber, was Toleranz „eigentlich“ heißt.
(a) Der ersten Auffassung zufolge, die ich die Erlaubnis-Konzeption nenne, bezeichnet Toleranz die Beziehung zwischen einer Autorität oder einer Mehrheit und einer von deren Wertvorstellungen abweichenden Minderheit. Toleranz besteht darin, dass die Autorität der Minderheit die Erlaubnis gibt, ihren Überzeugungen gemäß zu leben, solange sie – und das ist die entscheidende Bedingung – die Vorherrschaft der Autorität nicht in Frage stellt. Sofern das Anderssein der Minderheit sich in Grenzen hält und sozusagen eine „Privatsache“ bleibt, so dass kein gleichberechtigter öffentlicher und politischer Status gefordert wird, kann sie aus primär pragmatischen, aber gegebenenfalls auch prinzipiellen Gründen toleriert werden. Die mit Macht ausgestattete Seite „duldet“ die Differenz der anderen und verzichtet auf ein Einschreiten, während die Minderheit gezwungen ist, diese Machtverhältnisse hinzunehmen. Die Toleranzsituation ist somit nicht-reziprok: Die eine Seite erlaubt der anderen gewisse Abweichungen, solange die politisch dominante Stellung der erlaubnisgebenden Seite nicht angetastet wird. Toleranz wird hierbei als permissio negativa mali verstanden, als das Dulden einer weder als wertvoll noch als gleichberechtigt angesehenen Überzeugung oder Praxis, die jedoch nicht die „Grenzen des Erträglichen“ überschreitet. Es ist diese Auffassung, die Goethe oder Kant in ihrer Kritik der Toleranz vor Augen hatten – und die bis heute dem Begriff der Toleranz seinen negativen Beigeschmack gibt.
(b) Die zweite Konzeption der Toleranz, die Koexistenz-Konzeption, gleicht der ersten darin, dass ihr zufolge Toleranz als geeignetes Mittel zur Konfliktvermeidung und zur Verfolgung eigener Ziele gilt und nicht selbst einen Wert darstellt oder auf starken Werten beruht. Was sich jedoch verändert, ist die Konstellation zwischen den Toleranzsubjekten bzw. -objekten. Denn nun stehen sich nicht Autorität bzw. Mehrheit und Minderheit gegenüber, sondern ungefähr gleich starke Gruppen, die einsehen, dass sie um des sozialen Friedens und ihrer eigenen Interessen willen Toleranz ausüben sollten. Sie ziehen die friedliche Koexistenz dem Konflikt vor und willigen in Form eines wechselseitigen Kompromisses in die Regeln eines Modus vivendi ein. Die Toleranzrelation ist somit nicht mehr, wie in der Erlaubnis-Konzeption, vertikal, sondern horizontal: die Tolerierenden sind zugleich auch Tolerierte. Die Einsicht in die Vorzugswürdigkeit eines Zustands der Toleranz hat hier freilich keinen normativen Charakter, sie ist eine Einsicht in praktische Notwendigkeiten. Somit führt sie nicht zu einem stabilen sozialen Zustand, denn verändert sich das gesellschaftliche Machtverhältnis zugunsten der einen oder anderen Gruppe, fällt für diese der wesentliche Grund für Toleranz weg. Gleichwohl ist nicht ausgeschlossen, dass sich hieraus stabilere Formen der Kooperation ergeben, sofern sich ein entsprechendes gegenseitiges Vertrauen bildet.
(c) Im Unterschied hierzu geht die Respekt-Konzeption der Toleranz von einer moralisch begründeten Form der wechselseitigen Achtung der sich tolerierenden Individuen bzw. Gruppen aus. Die Toleranzparteien respektieren einander als autonome moralische Personen und als gleichberechtigte Mitglieder einer rechtsstaatlich verfassten politischen Gemeinschaft. Obwohl sich ihre ethischen Überzeugungen des guten und wertvollen Lebens und ihre kulturellen Praktiken stark voneinander unterscheiden und in wichtigen Hinsichten inkompatibel sind, anerkennen sie einander als moralisch-rechtliche Gleiche in dem Sinne, dass ihnen zufolge die allen gemeinsame Grundstruktur des politisch-sozialen Lebens – die Grundfragen der Zuerkennung von Rechten und der Verteilung sozialer Ressourcen betreffend – von Normen geleitet werden sollte, die alle gleichermaßen akzeptieren können und die nicht eine „ethische Gemeinschaft“ bevorteilen. Die sich tolerierenden Parteien müssen die Konzeptionen des Guten der anderen nicht als ebenfalls (oder teilweise) wahr und ethisch gut betrachten und schätzen, sondern sie als nicht unmoralisch bzw. ungerecht ansehen und in diesem Sinne akzeptieren können.
Es lassen sich zwei Modelle der Respekt-Konzeption unterscheiden, das Modell formaler Gleichheit und das qualitativer Gleichheit. Ersteres geht von einer strikten Trennung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum aus, der zufolge ethische Differenzen zwischen Bürger(inne)n auf den privaten Bereich beschränkt bleiben sollten und nicht zu Konflikten in der öffentlich-politischen Sphäre führen dürfen. Als Bürger(innen) sind alle gleich, und als Gleiche stehen sie quasi „neben“ oder „über“ ihren privaten Überzeugungen. Das Modell qualitativer Gleichheit hingegen reagiert darauf, dass bestimmte strikte Regelungen formaler Gleichheit – man denke an den jüngsten „Kopftuchstreit“ – Gefahr laufen, ethisch-kulturelle Lebensformen zu bevorzugen, deren Überzeugungen und Praktiken leichter mit einer solchen Trennung von „privat“ und „öffentlich“ vereinbar sind bzw. dem bisherigen Verständnis dieser Trennung entsprechen. Das Modell formaler Gleichheit ist somit intolerant und diskriminierend gegenüber Lebensformen, die eine Art öffentlicher Präsenz beanspruchen, welche der üblichen Praxis und konventionellen Institutionen widerspricht. Nach dem alternativen Modell respektieren sich Personen als solche, die rechtlich-politisch gleich sind und doch unterschiedliche, politisch relevante ethisch-kulturelle Identitäten haben, welche auf besondere Weise geachtet und toleriert werden müssen. Dieser Respekt fordert schließlich bestimmte Ausnahmen oder Änderungen von hergebrachten Regeln und Strukturen. Wechselseitige Toleranz impliziert diesem Verständnis nach, den Anspruch Anderer auf vollwertige Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft anzuerkennen, ohne zu verlangen, dass sie dazu ihre ethisch-kulturelle Identität in einem reziprok nicht forderbaren Maße aufgeben müssen.
(d) In den Diskussionen über das Verhältnis von Multikulturalismus und Toleranz findet sich zuweilen eine vierte Konzeption, die Wertschätzungs-Konzeption genannt werden kann. Sie enthält eine anspruchsvollere Form wechselseitiger Anerkennung als die Respekt-Konzeption, denn ihr zufolge bedeutet Toleranz nicht nur, die Mitglieder anderer kultureller oder religiöser Gemeinschaften als rechtlich-politisch Gleiche zu respektieren, sondern auch, ihre Überzeugungen und Praktiken als ethisch wertvoll zu schätzen. Damit dies allerdings überhaupt noch eine Konzeption der Toleranz ist und die eingangs erwähnte Ablehnungs-Komponente nicht verlorengeht, muss diese Wertschätzung eine beschränkte bzw. „reservierte“ sein, bei der die andere Lebensform nicht – zumindest nicht in den entscheidenden Hinsichten – als ebenso gut oder gar besser als die eigene gilt. Man schätzt bestimmte Seiten dieser Lebensform, während man andere ablehnt; doch der Bereich des Tolerierbaren wird durch die Werte bestimmt, die man in einem ethischen Sinne bejaht.
3. Konklusion
Die zentrale Frage nun besteht darin, wie man angesichts dieser vier Konzeptionen der Toleranz beurteilen kann, welche von ihnen für den – jeweils näher zu bestimmenden – Kontext einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft die angemessene oder „richtige“ ist. Ersichtlicherweise führen diese Konzeptionen in konkreten Fällen zu sehr verschiedenen Vorstellungen dessen, was es heißt, Minderheiten zu tolerieren, denkt man etwa an Fälle wie das Kruzifix, die eingetragene Lebenspartnerschaft, das Kopftuch einer Lehramtsanwärterin etc. Und ebenso deutlich wird, dass der Begriff der Toleranz selbst zur Beantwortung dieser Frage nicht sehr viel beitragen kann, denn alle diese Konzeptionen treten legitimerweise als Auffassungen der Toleranz auf. Toleranz ist folglich das, was ich einen normativ abhängigen Begriff nenne: Um ihr Gestalt zu verleihen und die Komponenten von Ablehnung, Akzeptanz und Zurückweisung mit Inhalt zu füllen, bedarf es anderer normativer Ressourcen.
Im Begriff der Anerkennung allein können diese Ressourcen ebenfalls nicht gefunden werden, denn all diesen Konzeptionen entspricht eine bestimmte Form der „Anerkennung“: des duldenden, paternalistischen oder strategischen „Gewährenlassens“; des Hinnehmens (vielleicht auch des Respektierens) des Anderen als Gegner, den man (zur Zeit) nicht besiegen kann; der Achtung der Anderen als moralisch und rechtlich gleichberechtigte Bürger(innen) trotz tiefgreifender ethischer Unterschiede; und der (reservierten) Wertschätzung der Anderen. Auch hier bedarf es somit weitergehender normativer Erwägungen, welche Form der Anerkennung vorzuziehen ist.
An dieser Stelle müsste die normative Arbeit erst beginnen, hier aber endet dieser knappe Problemaufriss – mit dem Hinweis, dass es meiner Auffassung nach eines Begriffs des moralischen Respekts des Anderen als Person mit einem nicht hintergehbaren Recht auf Rechtfertigung bedarf, um zu rekonstruieren, was es in dem politischen Kontext, in dem sich die Frage der Toleranz stellt, hieße, Anderen, mit denen man ethisch nicht übereinstimmt, gute Gründe für Normen zu liefern, die für alle gleichermaßen gelten sollen. In diesem Zusammenhang erscheint die Toleranz als eine Tugend der Gerechtigkeit und eine Forderung der praktischen Vernunft. Dann stellt sich die Respekt-Konzeption in der Form qualitativer Gleichheit als die angemessene, wenn auch anspruchsvolle, Konzeption heraus.
Prof. Dr. Rainer Forst lehrt Philosophie in Frankfurt am Main
Erstveröffentlichung des Beitrags in: fiph-Journal 3 (Februar 2004), S. 1, 3-4.
© Rainer Forst
[1] Umfassend ausgeführt findet sich meine Analyse der Toleranz in der Studie Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2003).
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