Arnd Pollmann
Je geringer die sozialen Ungleichheiten, desto sensibler wird das Volk für verbleibende Ungerechtigkeiten. Dieses Phänomen wird in der Soziologie „Tocqueville-Paradox“ genannt. Der Autor von Über die Demokratie in Amerika (1835) und Der alte Staat und die Revolution (1856) hatte bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine beunruhigende Tendenz des demokratischen Egalitarismus ausgemacht, so wie dieser sich seinerzeit nicht nur in Nordamerika, sondern bedingt auch im post-revolutionären Europa auszubreiten begann und sukzessive zu einer Nivellierung gesellschaftlicher Gegensätze beizutragen schien. Dieses Paradox besagt, dass die revolutionär erkämpfte oder aber durch Reformen bewirkte Angleichung sozialer Lebenslagen am Ende für weit mehr Frustrationen und auch Proteste sorgen könnte als die Reproduktion „alter“ und vergleichsweise eklatanter Ungleichheiten. Während nämlich diese alten und gravierenden Ungleichheiten vom Volk lange Zeit als „naturgegeben“ und damit unveränderlich hingenommen wurden, führt die Erfahrung einer revolutionären Veränderbarkeit bestehender Klassenunterschiede gerade nicht zu einer Befriedung des Volkes. Zwar nehmen die sozialen Ungleichheiten objektiv tatsächlich ab, so Tocqueville, doch führt dies paradoxerweise subjektiv zu einem wachsenden und verfeinerten Anspruchsniveau: Je deutlicher das Volk die wenigen verbleibenden Ungleichheiten als durch und durch „menschengemacht“ erkennen, desto empfindlicher wird es für eben diese Differenzen und umso mehr Empörung wird den Herrschenden entgegenschlagen.[1]
Das soziologische Problem hat, psychologisch betrachtet, zwei Seiten, die laut Tocqueville aber untrennbar zusammengehören: Die jeweils subjektive Enttäuschung über verbleibende Unterschiede, die sich besonders im direkten Vergleich mit Menschen derselben Statusklasse einstellt, wächst selbst bzw. besonders dann, wenn es der betreffenden Klasse insgesamt besser geht. Man kann sich die psychologische Wirkkraft dieses Paradoxons, das von seinem Urheber zunächst makrosoziologisch verstanden worden ist – im Sinn einer Dialektik von Reformen und Revolutionen – illustrativ vor Augen führen, wenn man es mikrosoziologisch wendet und damit in einer interpersonalen Erfahrungswelt verankert. Dazu einige Beispiele: Hat eine Familie nach jahrelangem Sparen endlich ein schmuckes Vorstadtgrundstück ergattert, so mag es die Familie sehr viel mehr ärgern, wenn das Nachbargrundstück ein paar Quadratmeter größer ist, als wenn sie das eigene Hab und Gut mit dem Anwesen eines Industriemagnaten vergleicht. Auch der neue Carport der Nachbarn wird weit mehr Neid wecken als ein vorbeirasender Ferrari, dem sogenannte kleine Leute oft eher anerkennend als neidisch hinterherschauen. Oder nehmen wir die Arbeitswelt: Lohnunterschiede an ein und demselben Arbeitsplatz werden für gewöhnlich als sehr viel ungerechter empfunden als die teilweise enormen Einkommensunterschiede zwischen einfachen Angestellten und Führungskräften aus dem Management. Letztere wiederum mögen darüber verzweifeln, dass ihr Jahresbonus ein Prozentpunkt unter dem eines verhassten Konkurrenten liegt, während es Ihnen völlig logisch erscheint, dass ein Vorstandsmitglied das Fünffache verdient. Auch hier zeigt sich, und zwar relativ unabhängig vom jeweils faktisch erreichten Lebensniveau: Verbleibende „feine“ Unterschiede schmerzen oft mehr als große, schier unüberbrückbare Differenzen.[2]
Feine Unterschiede
Auch wenn das Folgende auf den ersten Blick weit hergeholt erscheinen mag: Man kann das besagte Tocqueville-Paradox auch auf dezidiert bioethische Problemstellungen anwenden, und zwar insbesondere auf den Bereich biotechnologischen Enhancements. Dann nämlich hilft das Theorem, eine genuin gerechtigkeitstheoretische Dynamik solcher „Verbesserungen“ der menschlichen Natur aufzudecken, die häufig übersehen wird: Auch natürliche Ungleichheiten, z.B. des Körpers, können subjektiv als „natürliche Benachteiligungen“, als „ungerecht“ oder als handfeste „Wettbewerbsnachteile“ erfahren werden, auf deren Beseitigung man ein moralisches Anrecht verspürt. Zugleich aber kann biomedizinisches Enhancement dazu genutzt werden, sich entsprechende Wettbewerbsvorteile zu verschaffen und damit „Distinktionsgewinne“ zu erzielen, mit denen man sich aus der zunehmend auch ästhetisch nivellierten Masse heraushebt; man denke hier vor allem an den ökonomisch lukrativen und sich gegenwärtig massiv ausweitenden Bereich der Schönheitschirurgie, aber auch an den grassierenden Diät- und Gesundheitswahn sowie an den Kult um Fitness und Kraftsport. Es werden bei diesem vermeintlich ästhetischen Körperkult also nicht nur physische und mithin soziale Rückstände aufgeholt, sondern immer auch entsprechende Vorsprünge erarbeitet.
Abgesehen davon, dass uns dies später an eine unheilvolle Dynamik erinnern wird, die man vor allem auch aus dem Doping im Leistungssport kennt: Damit der besagte Körperkult tatsächlich eine subjektiv „gefühlte“ Gerechtigkeitsdimension aufweisen kann, müssen die hier auf dem Spiel stehenden körperlichen Ungleichheiten von den Beteiligten insofern als menschengemacht interpretiert werden, als entsprechende „Umbaumaßnahmen“ mit Hilfe moderner medizinischer Technik soziale Verteilungsfragen mit Blick auf knappe sozioökonomische Ressourcen aufwerfen. Das bedeutet: Wenn gesellschaftliche Wettbewerbsnachteile und ‑vorteile, die auf körperlicher Attraktivität beruhen, letztlich eine Frage des Geldes sind, dann wird aus individueller Schönheit eine Frage der Gerechtigkeit. So jedenfalls lautet die zugleich zeitdiagnostische wie gerechtigkeitstheoretische These, mit der ich die nun folgenden Überlegungen einleiten möchte. Tatsächlich belegen ja inzwischen zahlreiche empirische Studien der sogenannten Attraktivitätsforschung, dass es schöne Menschen im Leben leichter haben.[3] Die faktische Ungleichverteilung von körperlicher Attraktivität hat also ersichtlich etwas Ungerechtes an sich. Daher könnte die Gerechtigkeitstheorie ein politisches Projekt der „ästhetischen Demokratisierung“ imaginieren, und zwar als eine radikale Umverteilung plastischer Chirurgie-Maßnahmen, die es endlich allen ermöglichen würden, gleichermaßen schön zu sein. Wäre das nicht echte Egalität? Doch beginnen wir mit einer eher allgemeinen medizinischen Diagnose des spätmodernen Menschen.[4]
Spätmoderne Verweichlichung
Soll das zu Beginn skizzierte Tocqueville-Theorem tatsächlich auch im Bereich des gegenwärtigen Beautykults greifen, dann muss das subjektiv frustrierte Bewusstsein in Bezug auf körperliche Wettbewerbsnachteile paradoxerweise mit einer objektiven Nivellierung entsprechender Ungleichheiten und zudem mit einem insgesamt wachsenden Lebensniveau korrelieren. Auch wenn der empirische Nachweis an dieser Stelle nicht geleistet werden kann, so sprechen doch viele zeitdiagnostische Beobachtungen dafür, dass sowohl das Marketing der Beautyindustrie als auch die massenmedial transportierten Attraktivitätsideale nicht nur für einen insgesamt gewachsenen Wohlstand sprechen, sondern auch für eine gewisse Homogenisierung äußerer Erscheinungsbilder. Zwar lassen sich mit Blick auf jeden ästhetischen „Trend“ der sogenannten Kulturindustrie stets auch lukrative Gegentrends beobachten; z.B. das Verlangen, sich modisch von der Masse abzuheben und „individuell“, „schrill“ oder „crazy“ auszusehen. Aber diese kulturindustriellen Gegentrends funktionieren nur dann, wenn es zugleich auch einen uniformierenden Haupttrend gibt, von dem man sich – meist nur minimal – absetzt, um Distinktionsgewinne zu erzielen. Haupttrends und Gegentrends gehören zusammen, so wie Regeln durch Ausnahmen bestätigt werden. Und auch wenn vieles dafür spricht, dass es diese dialektische Konkurrenz zwischen der Erfüllung und der Verschiebung von Attraktivitätsstandards zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben hat, so bauen die nun folgenden Überlegungen doch auf einer hier nicht weiter hinterfragten Voraussetzung auf: Der teilweise massive Körperkult, mit dem wir es unter spätmodernen oder auch neoliberalen Vorzeichen zu tun haben, ist zumindest auch das Ergebnis wachsenden gesellschaftlichen Wohlstands; eines Wohlstands, der zwar keineswegs faktisch bei allen ankommt, der aber prinzipiell allen möglich erscheint, sofern sie sich „ranhalten“ und nicht zuletzt auch ihrem Körper ein strenges Regime abverlangen. Anders gesagt: Der heutige Beautykult um lukrative Distinktionsgewinne ist auf spezifische Weise ein gesellschaftliches Luxusproblem.
An dieser Stelle hilft eine märchenhafte Analogie weiter: Es war Odo Marquard, der den Geist des Tocqueville-Theorems auf dezidiert biomedizinische Zusammenhänge übertrug, indem er sich einem spätmodernen „Unbehagen an der Medizin“ zuwandte und diesbezüglich von einem „Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom“ sprach.[5] Echte Prinzessinnen, so heißt es im gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen, sind derart gut behütet, dass schon eine kleine, unter Decken und Matratzen verborgene Erbse dafür sorgt, dass sie nicht mehr schlafen können, sondern schrecklich leiden. Genau dadurch, so deutet Marquard das Märchen, sind sie als echte Prinzessinnen zu erkennen. Auf die biomedizinische Problematik übertragen: Nicht nur senkt die zunehmende Entlastung spätmoderner Menschen von Krankheit und Leiden deren physiologische Reizschwelle, so dass schon kleinere medizinische Übel hypochondrisch zu tödlichem Leiden überhöht werden. Zudem weckt der medizinische Fortschrittsglaube eine Hoffnung auf vollkommene Leidfreiheit, die aufgrund der menschlichen Endlichkeit unentwegt enttäuscht werden muss. Je besser also der spätmoderne Patient medizinisch versorgt wird, desto stärker leidet er an den wenigen Symptomen oder „Erbsen“, die übrig bleiben. Und der dabei entstehende, wehleidige Frust dieser spätmodernen Prinzessinnen wendet sich am Ende nicht nur gegen die leeren Versprechungen der Medizin, sondern vor allem auch gegen denjenigen, der sich bis auf weiteres widerständig, anfällig und leidend zeigt; gegen den eigenen Körper, den es deshalb nicht nur in „Form“ zu bringen und „verfügbar“ zu machen gilt, sondern auch zu traktieren, zu quälen und notfalls auch operativ zu sezieren.[6]
Spätkapitalistische Wettbewerbsbedingungen
Deutet man den gegenwärtigen Beautykult aus sozialphilosophischer Perspektive und damit modernitätskritisch als ein grassierendes Zeitphänomen, so ist Vorsicht geboten: Man würde es sich zu einfach machen, wollte man die körperliche Selbstausbeutung spätmoderner Menschen, deren vermeintliche Selbstoptimierung bisweilen zum monströsen Autoplastinat lebendiger Ken- und Barbie-Puppen reicht, als rein ökonomisch induzierte Entfremdungssymptome des Kapitalismus deuten. Man würde so nicht nur die biografischen und psychischen Entstehungsursachen ästhetischer Veränderungssehnsüchte oder gar pathogener Selbstverstümmelungstendenzen ignorieren, die ja gelegentlich in frühen familiären Fehlkonstellationen und Kränkungen oder gar in traumatischen Gewalterfahrungen zu verorten sind. Vor allem würde man übersehen, dass sich der Kapitalismus selbst in entscheidenden Hinsichten verändert hat, wodurch gänzlich neue Formen einer den Körper betreffenden Alltagsmoral entstanden sind. Noch im 19. Jahrhundert und zu Beginn des industriellen Großkapitalismus hatte der Arbeitnehmer, wie einst Karl Marx so treffend bemerkt hat, keinen anderen Besitz zu veräußern als „die Ware Arbeitskraft“. Daher war der Arbeiter gezwungen, seine „eigene Haut“ zu Markte tragen. Beim Eintritt in die Produktionssphäre, so Marx, „verwandelt sich, so scheint es, schon in etwas die Physiognomie unsrer dramatis personae. Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigene Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei“.[7]
Spätestens im Übergang zum 21. Jahrhundert jedoch nimmt diese dermatologische Selbstvermarktung eine gänzlich neue Qualität an.[8] Im heutigen Arbeits- und Produktionsprozess, für den die Marktmetapher kaum mehr taugt, weil es gar kein Außerhalb des Marktplatzes mehr zu geben scheint und sich stattdessen ein weitverzweigtes „Netz“ von prekären und temporären „Projekten“ über nahezu sämtliche Lebensbereiche legt, wird das spätmoderne Selbst in viel stärkerem Maße, als es je denkbar erschien, zum „Unternehmer in eigener Sache“. Da das lebenslange Anstellungsverhältnis passé scheint und somit alle unentwegt nach neuen Beschäftigungsverhältnissen Ausschau halten, wird heute nicht mehr nur die „Haut“, sondern zunehmend auch die sich dahinter verbergende Persönlichkeit zu Markte getragen: „Insofern jeder sein eigener Produzent ist, übernimmt er für seinen Körper, sein Image, seinen Erfolg und sein Schicksal selbst die Verantwortung.“[9]
Der für das biotechnologische Enhancement entscheidende Unterschied ist folgender: Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts hat die Trennung von Privat- und Berufssphäre, Freizeit und Arbeitszeit vollzogen und zementiert. Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts hebt diese Trennung vollends auf. Heute geht es darum, nicht nur in der eigentlichen Arbeitswelt, sondern unentwegt Aktivität, Flexibilität, Netzwerktauglichkeit und vor allem Schmerztoleranz zu demonstrieren. Und der sichtbare Umbau des eigenen Körpers, z.B. durch Schönheitsoperationen, Fitness oder Diäten, soll diese ständige Aktionsbereitschaft und Schmerztoleranz bereits aus sicherer Entfernung erkennbar werden lassen. Gefragt sind heute körperbezogene Eigenschaften wie Beweglichkeit, Belastbarkeit, Jugendlichkeit und Attraktivität, deren Erwerb und Erhalt normalerweise Torturen darstellen, denen man aber auch medizinisch nachhelfen kann. Wer hingegen nicht bereit ist, Hand an sich zu legen, der offenbart bloß fehlende Integrationsbereitschaft. Diese gesellschaftlichen Ansprüche werden im Körperkult, und zwar nicht zuletzt durch Enhancement, „inkorporiert“, d.h. sie gehen den heute lebenden Individuen buchstäblich in Fleisch und Blut über.
Man hat sich diese Entwicklung aber nicht bloß als einen durchweg erzwungenen Anpassungsprozess vorzustellen, sondern als eine neue Variante kapitalistischer Ethik: Aus dem „flexiblen Menschen“ (Richard Sennett) des späten 20. Jahrhunderts wird der autoplastische „Prothesengott“ (Sigmund Freud) des 21. Jahrhunderts, der keine Grenzen der Anpassung mehr kennt und sich schon jetzt als humantechnologische Schnittstelle für weitere Umbaumaßnahmen anbietet; man denke etwa an zukünftige Möglichkeiten von transhumanen Mensch-Maschine-Hybriden.[10] Doch sollte man es auch hier vermeiden, allzu einfache Ableitungen vorzunehmen oder allzu klare Verantwortlichkeiten zuweisen zu wollen. Kapitalistische Tauschzusammenhänge verursachen nicht schon kausal die Selbstausbeutung des Individuums im Körperkult. Diese Selbstausbeutung kommt dem Kapitalismus lediglich mit großen Schritten entgegen. Nach Art einer „Wahlverwandtschaft“ gehen diese teilweise massiven und bisweilen direkt pathogenen Körperselbstdisziplinierungen eine „wechselseitig parasitäre Symbiose“ mit den heutigen Produktions- und Konsumtionsverhältnissen ein: Deren jeweilige Entstehungsursachen mögen woanders zu verorten sein, sie haben sich keineswegs kausal oder wechselseitig hervorgebracht, doch heute fügen sie sich umstandslos in ein insgesamt eher schädliches Verhältnis der gegenseitigen Begünstigung und Beförderung ein. [11]
Tyrannei der Schönheit
Sofern es um dem Umbau des eigenen Körpers im Dienste distinktiver Attraktivitätsvorsprünge geht, so zeigt ein Blick in den grandiosen Foto-Band „Schönheitschirurgie“[12], wohin die Reise geht: So wie Tocqueville einst vor einer durch historische Prozesse egalitärer Demokratisierung bewirkten „Tyrannei der Mehrheit“ warnte[13], so ist schon jetzt eine ästhetische Demokratisierung der Attraktivität zu diagnostizieren, die in einen schmerzhaften Beauty-Despotismus auszuarten droht. Von einer „Demokratisierung“ lässt sich hier freilich nur in dem eher spöttischen Sinn sprechen, dass schönheitschirurgische Maßnahmen überall verfügbar, selbstverständlicher und auch erschwinglicher werden. Dies führt zum einen dazu, dass immer mehr Menschen die jeweils eigenen „Makel“, die auf dem Markt der physischen Attraktionen als nachteilig empfunden werden, operativ beseitigen lassen, um gegenüber denen, die bereits als schön genug empfunden werden, „aufzuholen“. Zum anderen schreitet damit eine ästhetische Egalisierung bzw. eine körperliche Normierung voran, die auf Seiten jener, die diese Norm bereits erfüllen, gesteigerte Sehnsüchte nach schönheitschirurgischen Distinktionsvorsprüngen wecken mag.
Diese ästhetische Dialektik von Egalisierung und Abweichung wirft, wie weiter oben bereits angedeutet, zugleich auch moralische Probleme auf, die an das Doping im Leistungssport erinnern: Doping ist vor allem deshalb „unsportlich“, weil der Dopingsünder ein unmoralischer „Trittbrettfahrer“ im gesellschaftlichen Kampf um Aufmerksamkeit, Einfluss und Einkommen ist. Sein möglicher Erfolg zehrt direkt vom Misserfolg jener, die nicht medizinisch nachhelfen wollen. Dabei kommt es vor allem aber auf den schmutzigen Sog an, in den auch der „saubere“ Konkurrent alsbald hineingezogen wird, will dieser nicht den Anschluss an das Teilnehmerfeld verlieren. So geraten bald schon alle auf einen slippery slope: Entweder man selbst rutscht auch mit – oder man kann gleich zuhause bleiben. Überdies zwingt der Dopingsünder sich und andere auf einen recht ungewissen und potenziell endlosen Weg vermeintlicher Selbstperfektionierung. Der künstlich verbesserte Mensch täuscht sich und andere nicht bloß über die eigene Leistungsfähigkeit hinweg, sondern auch über schädliche Nebenwirkungen seines Tuns. Darüber hinaus lässt die medizinische Manipulierbarkeit von „natürlichen“ Problemzonen des Körpers diese mehr und mehr als Sorgen mit medizinischem Krankheitswert erscheinen. Umso dringender ist es, sie loszuwerden, um leistungsfähig zu bleiben.
Lässt man sich für einen Moment auf diese Parallelen von Doping und Beautykult ein, so begibt man sich mit beiden physischen „Verbesserungen“ auf einen riskanten Weg der schleichenden Selbstzerstörung. Zunehmend begreifen sich Menschen nicht länger als das, was sie nun einmal sind: imperfekte, verletzliche Wesen. Sie degenieren vielmehr zu medizinisch-technisch manipulierten und bald wohl auch genetisch optimierten Objekten der tyrannischen Leistungsgesellschaft. Und am Ende wird sich zeigen, dass dieses Treiben nicht nur gesundheitlich riskant, sondern zudem auch völlig irrational ist, wie man anhand von Kants Kategorischem Imperativ zeigen kann: Die Maxime „Wenn ich körperlich ins Hintertreffen gerate oder im Vorteil sein will, muss ich pharmakologisch oder schönheitschirurgisch nachhelfen“ würde sich, wenn man sie zu einem „allgemeinen Gesetz“ machte, selbst durchkreuzen. Denn wenn jeder Mensch dopen oder zum Schönheitschirurgen rennen würde, würde dieses Enhancement rasch sinnlos werden, da ein Vorsprung, den alle haben, gar kein Vorsprung mehr ist. Eher noch dürfte, wie nun abschließend an einer eher literarischen Überlegung gezeigt werden soll, das Gegenteil der Fall sein.
Dialektik der Makellosigkeit
Es war der Schriftsteller Boris Vian, den die Pariser Existenzialisten den „Prinzen von St. Germain“ nannten[14], der diesen egalitätskritischen Impuls in seinen körperästhetischen Dimensionen ausgelotet hat. In seinem surrealen Kriminalroman „Wir werden alle Fiesen killen“[15] landen zwei junge Männer auf einer Insel, die von einem bizarren Mediziner beherrscht wird, der dort eine sektenartige Beauty-Farm unterhält: Er züchtet makellos schöne, sexuell sehr aufgeschlossene Menschen, die umstandslos Selbstmord begehen, falls sie an ihrem Körper dann doch irgendeinen Produktions- bzw. Schönheitsfehler entdecken. Den beiden gestrandeten Neuankömmlingen wird rasch klar, nachdem der erste orgiastische Rausch verflogen ist: Auf dieser Insel ist nichts zu holen. Langeweile pur. Denn das dort vorfindliche Ausmaß an egalitärer Perfektion macht übersatt, bietet überhaupt gar keine Angriffsfläche, an denen sich eine irgendwie besondere Libido anheften könnte. Gäbe es hier auf dieser Insel doch nur einen einzigen wirklich hässlichen Menschen! Das ist das eigentlich Schöne an der egalitären Beauty-Farm, auf die auch unsere Gesellschaft zuzusteuern scheint: Langfristig darf man auf den Sieg der Hässlichkeit hoffen, weil diese – rar wie sie dann sein wird – zunehmend in echte Attraktivität umschlagen muss. „Die werden sich um die Fiesen raufen, lassen Sie sich das von mir gesagt sein“, heißt es bei Vian. Und da die beiden gestrandeten Hauptpersonen eher „normale“ Menschen sind, die fern von dieser bizarren Beauty-Farm gezeugt wurden, so erweisen sie sich auf der besagten Insel dann auch als überaus heiß begehrt.
[1] Dazu besonders: Alexis de Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution, München: dtv 1978, 169ff.
[2] Dies ist einer der Leitgedanken der Soziologie von Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M: Suhrkamp 1982.
[3] Für einen ersten Überblick: Cornelia Koppetsch (Hg.): Körper und Status. Zur Soziologie der Attraktivität, Konstanz: UVK 2000.
[4] Im Folgenden übernehme ich einige Thesen aus meinem Aufsatz „Hart an der Grenze“, in: Johann Ach/Arnd Pollmann (Hg.): no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper, Bielefeld: transcript 2006.
[5] Odo Marquard: Skepsis und Zustimmung, Stuttgart: Reclam 1994, S. 99-109.
[6] Siehe Fußnote 4.
[7] Karl Marx: Das Kapital, Band 1, Marx-Engels-Werke 23, Berlin: Dietz 1962, S. 191.
[8] Für das Folgende vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK 2003.
[9] Ebd., S. 208.
[10] Dazu die Beiträge in: Christoph Hubig/Peter Koslowski (Hg.): Maschinen, die unsere Brüder werden, München: Fink 2008.
[11] Zu dieser an Max Weber orientierten Methode der Zeitkritik siehe Arnd Pollmann, Integrität. Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie, Bielefeld: transcript 2005, Kap. 6.
[12] Angelika Taschen (Hg.): Schönheitschirurgie, Köln u.a.: Taschen 2008.
[13] Dies ist eine der zentralen Thesen in: Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart: Reclam 1994. Wer diese These vorschnell für reaktionär hält, möge sich einmal für einige Zeit in den Kommentar-Foren des Internets zu politischen Themen oder auch Talkshows umsehen.
[14] Der „König“ war natürlich Jean-Paul Sartre.
[15] Boris Vian: Die Krimis, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2009.
© Arnd Pollmann
PD Dr. Arnd Pollmann ist Privatdozent am Institut für Philosophie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.
Wiederabdruck aus fiph-Journal Nr. 25 (April 2015), S. 22-25.
Sehr geehrter Herr Dr. Pollmann,
Ihre Anwendung des Tocqueville-Paradoxons auf den bioethischen Bereich der Körperästhetik und in weiter reichender Form auf das Feld der Schönheitschirurgie ist sehr erhellend und erscheint mir in ihren analytischen Aspekten plausibel.
Lediglich dem alarmistisch anmutenden Grundton Ihrer moralischen Bewertung der von Ihnen dargestellten Dynamik möchte ich jedoch zumindest in Teilen widersprechen. Bevor ich hierzu auf Ihre Konklusion eingehe, möchte ich zunächst eine Aussage von Ihnen aufgreifen (aufgrund des Zeichenlimits beschränke ich mich auf die meiner Meinung nach repräsentativste):
„Zunehmend begreifen sich Menschen nicht länger als das, was sie nun einmal sind: imperfekte, verletzliche Wesen. Sie degenieren vielmehr zu medizinisch-technisch manipulierten und bald wohl auch genetisch optimierten Objekten der tyrannischen Leistungsgesellschaft.“
Diese Aussage ist meinem Verständnis nach bereits recht nahe am naturalistischen Fehlschluss angesiedelt. Kaum noch implizit stellen Sie ein „natürliches“ Verständnis des Menschen als durch Mängel definiertes Wesen einer „degenerierten“ Form gegenüber, deren medizinische wie technische Optimierungen als moralischer Affront dargestellt werden. Ich möchte dem entgegenhalten, dass eben diese Optimierungen die vielleicht wichtigste Konstante unserer Spezies darstellen und das menschliche Wesen somit besser repräsentieren als die evolutionär bedingten körperlichen Mängel, deren Kompensation schon immer die Triebfeder zivilisatorischen Fortschritts war. Demzufolge wäre die Anwendung dieser technischen Innovationen auf den menschlichen Körper selbst nur eine logische Konsequenz seiner eigenen „Natur“.
Zu Ihrer Konklusion: Ihrer Analyse zufolge bedingen sich der Angleichungsdrang der zunächst Benachteiligten und der Distinktionsdrang der zunächst Bevorteilten gegenseitig. Erstere wollen den Abstand aufholen, letztere denselben ausbauen, wobei dem genannten Paradox zufolge eine Nivellierung der objektiven Unterschiede eine Verschärfung der subjektiv wahrgenommenen bewirkt. Demzufolge wäre das egalitäre Equilibrium, sozusagen ein ästhetischer Wärmetod, den Sie mit Ihrer Insel-Metapher beschreiben, kaum zu verwirklichen. Das prinzipiell unendliche ästhetische Verlangen wäre der – selbst mit sämtlichen medizinisch-technischen Optimierungen – prinzipiell endlichen Körperlichkeit immer voraus.
Ich danke Ihnen für diesen äußerst interessanten Denkanstoß!
Mit freundlichen Grüßen,
Felix Jäger
Lieber Herr Jäger, herzlichen Dank für Ihre Einlassung! Ihren Vorschlag, von einem „ästhetischen Wärmetod“ zu sprechen, finde ich sehr treffend. Auch teile ich einige Ihrer empirischen Bedenken, daher zwei Hinweise. Zunächst zum sozialphilosophischen bzw. zeitdiagnostischen Genre meines Textes: Hier würde ich selbst lieber von „Hyperbolik“ statt von „Alarmismus“ reden. Und zweitens: Das Verb „degenerieren“ bezieht sich an besagter Stelle auf die „Objekte der tyrannischen Leistungsgesellschaft“. Im Gegensatz zur menschlichen Fähigkeit der Perfektionierung, die Sie meinen, erscheint mir die willfährige Anpassung an den kapitalistischen Wettbewerb nicht unbedingt „natürlich“.