Albrecht Koschorke
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Die Ehrung*, die mir heute abend zuteil wird, hat mich umso mehr gefreut, als sie ganz unerwartet kam. Auch wenn das im Rahmen dieser Feier anders klingen mag, ist meine Studie Hegel und wir nämlich auf keine große Resonanz gestoßen. Und das kann ich leider gut verstehen. Denn vor allem mit dem zweiten Teil des Buches, dem Teil über ‚uns‘ in Europa, habe ich bis zum letzten Tag der Manuskriptabgabe gehadert. Ein Grund dafür liegt in zeitlichen Umständen. Das Buch ist unter dem Eindruck der sich verschärfenden Krise Europas, vor allem im Hinblick auf den drohenden Staatsbankrott Griechenlands und die damit verbundenen Diskussionen entstanden. In die Wochen der Schlussredaktion fiel der Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo am 7. Januar 2015. Als das Buch im Juni 2015 erschien, beherrschte der massenhafte Zustrom von Migranten über die Balkanroute die Gemüter. Seither gab es, in immer dichterer Folge, verheerende Terroranschläge auch auf europäische Ziele. Die politische Eskalation innerhalb der nationalen Öffentlichkeiten, die durch diese zeitliche Koinzidenz von Massenmigration und Terror begünstigt wurde, steht uns allen lebhaft vor Augen. Nicht erst der Ausgang des britischen Referendums im Juni 2016 macht es unabweisbar, dass die Nachkriegsordnung unseres Kontinents in ihren Grundfesten erschüttert ist.
Sich in einer solchen Lage gegen den Ruf der politisch Verantwortlichen auszusprechen, das europäische Projekt durch eine ‚neue Erzählung‘ zu befeuern, erscheint leicht als defätistisch. Man könnte ja erwarten, dass sich ein Literaturwissenschaftler die Gunst der Stunde zunutze macht, wenn einer seiner Schlüsselbegriffe – eben ‚Narrativ‘ – ins politische Tagesgeschäft Eingang findet. Ich habe sogar Anlass zu glauben, dass ich mir durch meine Skepsis eine Karriere als Politikberater verbaut habe. Bei einer Hochzeit vor drei Jahren kam ich nämlich gegenüber dem SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach zu sitzen (auch bei diesem privaten Anlass leicht an seiner Fliege zu erkennen). Wir sprachen über unsere jeweiligen Interessen, also Gesundheitspolitik und Erzähltheorie, bis wir uns irgendwo in der Mitte trafen, nämlich bei der Klage über den Zustand der EU. Von dort war es nicht weit bis zu der damals allenthalben diskutierten Frage nach dem europäischen Narrativ. Herr Lauterbach ging so weit, mir einen Gesprächstermin mit der gesamten Bundestagsfraktion der SPD zu versprechen, falls ich mit einer für die Bewältigung der Griechenlandkrise förderlichen Europa-Erzählung aufwarten könnte.
Konnte ich aber nicht. Und kann ich auch heute nicht. In meinen Adorno-Vorlesungen, aus denen dann Hegel und wir hervorgegangen ist, gehe ich noch weiter und behaupte, dass Europa a) aus strukturellen und historischen Gründen über keine Große Erzählung verfügt, eine solche b) als eine dem Nationalismus mit seinen politischen Mythen entwachsene Staatengemeinschaft auch nicht haben sollte und zudem c) als ein weniger durch kollektive Identität als durch technische, administrative und wirtschaftliche Integration zusammengehaltenes Gebilde nicht zwingend braucht. Aber selbst wenn diese Annahmen zutreffen sollten – und ich werde sie gleich noch näher erläutern –: Ist das angesichts von Flüchtlingen, Terror, nationalpopulistischer Radikalisierung, Brexit nicht ein sehr hilfloser und zu intellektueller Passivität verurteilender Bescheid?
Die potentiellen Vorteile einer starken Europa-Erzählung liegen ja auf der Hand. Sie könnte, wie das alle ordentlichen politischen Mythen tun, den Abstand zwischen der breiten Bevölkerung und den Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft verringern; sie könnte den nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts errungenen Frieden stärken, gemeinsames Handeln über den einzelstaatlichen Referenzrahmen hinaus erleichtern, die Solidarität zwischen Nachbarvölkern vertiefen, nationalpopulistischen Bewegungen entgegenwirken etc. Im Zusammenhang der Griechenland-Rettung und der anderen europäischen Krisenherde bestünde ihre Funktion, nüchtern ausgedrückt, in der Senkung der Transaktionskosten einer in vielen Bereichen unvermeidlich staatenübergreifenden Politik.
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Was spricht also dagegen? Und warum sollte die Literaturwissenschaft, ein in politischer Hinsicht an chronischer Irrelevanz leidendes Fach, nicht die Chance ergreifen, sich mit ihrer Expertise an Stelle einer immer nur nachlaufenden Erzählkritik an dem großen Vorhaben der Produktion eines politischen Mythos zu beteiligen? (Schließlich haben das die Philologien des 19. Jahrhunderts unter nationalen Vorzeichen ja auch getan, allen voran die deutsche Germanistik.)
Worauf stützen sich mögliche Gegengründe? Ich muss Sie, um diese Frage zu beantworten, kurz mit der etwas gewundenen Argumentation meines Buches vertraut machen. Sie nimmt ihren Ausgang von der These, dass sich die Situation in Preußen nach der militärischen Katastrophe durch Napoleon und dem Zusammenbruch des Alten Reiches 1806 mit der Lage Europas nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichen lässt. In beiden Fällen wird es zur Mission fortschrittlicher politischer Eliten, eine grundlegende Neuordnung herbeizuführen. Dies soll vor allem durch Maßnahmen administrativer Vereinheitlichung geschehen: durch Angleichung der Rechtsverhältnisse, Einführung gemeinsamer Maße, Standards, Produktionsnormen, durch flächendeckende statistische Datenerhebungen, Abbau von Zollschranken, Erleichterung von Handel und Verkehr sowie nicht zuletzt durch eine breit angelegte Bildungsoffensive. Viele der Maßnahmen stoßen jedoch im lokalen Rahmen auf Widerstand. Auch die Argumentationsweisen innerhalb dieser Konfrontation gleichen sich: Auf der einen Seite artikuliert sich ein stark bürokratisch geprägtes Sendungsbewusstsein im Stil einer Modernisierung von oben, auf der anderen Seite wird die schützenswerte Vielgestaltigkeit von Gewohnheiten, Vorrechten, kulturellen Eigenarten, Traditionen in Anschlag gebracht. Schon im 19. Jahrhundert trägt übrigens der Widerstand gegen die von den Reformbürokraten vorangetriebene Zentralisierung zum Teil populistische Züge. Was heute das bürokratische Monster Brüssel ist, war damals Berlin als Zentrum eines (anfangs noch liberalen) preußischen Neoabsolutismus mit seiner eigenmächtigen Beamtenelite.
Der große Unterschied besteht darin, dass sich in Preußen/Deutschland im frühen 19. Jahrhundert eine machtvolle, viele Erneuerungsbestrebungen zusammenführende Erzählung ausbildete, die im Europa unserer Tage schmerzlich entbehrt wird. Ihre geschlossenste Ausprägung hat sie nach meiner Lesart in der Geschichtsphilosophie des zum preußischen Staatsphilosophen avancierenden Württembergers Georg Wilhelm Friedrich Hegel erfahren. Warum es in meinen Augen berechtigt ist, Hegels Philosophie auch ihrer textlogischen Verfasstheit nach als Erzählung zu dechiffrieren, kann ich heute nicht näher erläutern. Im nationalkulturellen Zusammenhang des 19. Jahrhunderts hat sie jedenfalls als solche gewirkt. Die lapidare Frage, auf die das Buch eine Antwort zu geben versucht, lautet deshalb: Warum konnte Hegel für das Preußen/Deutschland seiner Zeit eine Geschichte von der Art erzählen, die ‚wir‘ im Hinblick auf das heutige Europa nicht zustande bringen?
Nun lassen sich eine Reihe von Gründen angeben, warum Europa kein geeignetes Erzählsubjekt ist. Ich will einige davon auflisten, ohne ins Detail gehen zu können: dass Europa unklare, sich je nach Betrachterstandpunkt und Operationsebene verschiebende Grenzen hat und überhaupt ein zu heterogenes Mischgebilde darstellt, um zu einer narrativen Einheit zusammengeschweißt werden zu können; dass es gleichzeitig zu klein und zu groß ist – zu klein, um den Kosmopolitismus seiner Eliten ‚einfangen‘ zu können (als Teil des Westens, Teil der globalisierten Moderne etc.), andererseits aber zu groß, um eine ähnliche Identitätsressource zu sein wie inzwischen die meisten der auf dem Kontinent angesiedelten Nationalstaaten; dass es über keine von allen Europäern geteilte Geschichte verfügt, im Gegensatz zu den Nationalmythologien weder Helden noch gemeinsam kommemorierte Opfer großen Stils aufbringen kann; dass seine Stellung in der Welt sich abgeschwächt hat, marginaler und provinzieller geworden ist; dass es sich andererseits als vormaliges Machtzentrum von Kolonialismus und Imperialismus auf seine welthistorischen Erfolge nur mit schlechtem Gewissen zu beziehen vermag, etc. Wie soll man, so ließe sich fragen, aus einem derart uneinheitlichen Gebilde eine gediegene Erzählung formieren?
Hinter diesem Argumentationsgang steckt aber eine Prämisse, die mir ihrerseits höchst fragwürdig scheint. Sie besagt, dass kollektive Selbsterzählungen ihren Gegenstand mehr oder minder mimetisch abbilden, die Solidität der Erzählung folglich vom Integrationsgrad der Gemeinschaft abhängt, die sich in ihr spiegelt. Überlagert wird diese Prämisse noch von der beliebten und gegen jedwede andersgeartete faktische Evidenz immunen geschichtsphilosophischen Denkfigur, derzufolge frühere, wahlweise: vormoderne Gemeinwesen stabiler und stärker integriert gewesen seien als heutige, von modernen Desintegrationstendenzen heimgesuchte Gesellschaften. Dem Bild einer metaphysisch beglaubigten oder als organische Ganzheit verstandenen Welt der Vergangenheit steht am Gegenwartspol eine in Auflösung befindliche, anomische, unübersichtliche Sozialordnung gegenüber. Von dieser die westliche Moderne als ganze grundierenden geschichtsphilosophischen Prämisse aus ist es nur noch ein Schritt zu der postmodernen Erzählung, dass es keine großen Erzählungen mehr gibt.
Preußen nach 1806 ist ein schönes Beispiel dafür, dass die genannte Prämisse, zumindest was ihren Vergangenheitspol angeht (zu ihrem Gegenwartspol komme ich gleich), nicht stimmt. Dieses territorial zerstückelte Mischgebilde aus großen und kleinen Herrschaften, das weder über eine gemeinsame Währung noch über gemeinsame Größen- oder Gewichtsmaße verfügte, dieses nach dem militärischen Kollaps gegen Napoleon vom Staatsbankrott bedrohte Agrarland mit geringer staatlicher Durchdringungstiefe entsprach in keiner Weise dem Bild eines vom Einzelnen ins Allgemeine gehenden, alle Partikularitäten in einem umfassenden Vernunftprinzip aufhebenden Staatsorganismus, das Hegels Philosophie den Lesern vor Augen stellte. Das Preußen, das der späte Hegel als Schluss- und Gipfelpunkt der Weltgeschichte modelliert, ist nicht der Staat, den es wirklich gab, sondern wie er nach den Projektionen der Reformer aussehen sollte. Überhaupt bildet es ein Grundmerkmal von Nationalmythologien, dass sie nicht den Status quo wiedergeben, sondern eine performative Funktion im politisch-ideologischen Meinungskampf ausüben wollen: sei es als Utopie eines künftigen Zustandes, der erst noch zu erreichen ist, selbst wenn er als sich als wiederherzustellender Ursprung ausgibt, sei es als apokalyptisch ausgestaltete Mahnung zu radikalem Bruch und Neubeginn.
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Wenn das so ist, muss man die Fragestellung modifizieren. Sie lautet dann: Warum bringen ‚wir‘ heute die Energien nicht auf, um eine kontrafaktische, aber vorausweisende Vision von Europa zu entwickeln, die wirkungsvoller wäre als die üblichen Beschwörungen und nicht nur das Handeln professioneller Politiker informiert, sondern kollektiven Traumstoff für alle bietet? Warum gelingt auf der Ebene des europäischen Staatenverbunds nicht dasselbe, das im 19. Jahrhundert auf der Ebene der Nationalstaaten gelang, die ja auch großenteils ‚erfundene‘, einer widerstrebenden Wirklichkeit abgerungene politisch-kulturelle Einheiten sind?
Die Antwort auf diese Frage führt unmittelbar zu meiner zweiten eben schon angesprochenen These, nämlich dass ein starkes ‚europäisches Narrativ‘, insofern es eine ‚europäische Identität‘ schaffen soll, bei genauerem Hinsehen nicht wünschenswert ist. Wenn wir das self-fashioning der Nationalstaaten als Modell zugrunde legen, dann treten auch die Folgekosten starker Einheitserzählungen vor Augen. Politisches Erzählen ist alles andere als eine harmlose Tätigkeit. Die Gründungsmythen der Nationalstaaten handeln durchweg von Gewalttaten, zumeist Krieg. Sie erzeugen ihr Wir-Gefühl durch Abgrenzung, eigen/fremd- und Freund/Feind-Unterscheidung. Man sollte sich in Zeiten von Frieden und Wohlstand nicht über den kriegerischen, im Grenzfall massenhysterisch-paranoiden Charakter nationaler Identitätsbildungen täuschen. Auf Ressourcen dieses Typs, die in einem teilweise über zweihundertjährigen Prozess nationalkulturell geformt und gebunden wurden, kann aber das Bemühen um eine europäische Identität nicht zurückgreifen, will sie nicht die Gespenster der eben erst überwundenen Vergangenheit heraufbeschwören. Anders als die Nationalstaaten, die ihre de facto oft willkürlichen Grenzen teils mit Waffengewalt, teils durch Legitimationserzählungen befestigt und gewissermaßen naturalisiert haben, ist geographische und kulturelle Offenheit für das europäische Projekt konstitutiv. Jede fixierte Identität aber erzeugt Ausschlusseffekte. Wo endet das Abendland? Ist Europa lateinisch oder germanisch-protestantisch geprägt? Gehört das orthodoxe Christentum zum sogenannten jüdisch-christlichen Erbe? Ist Russland ein europäisches oder asiatisches Land? Sind die britischen Inseln ein Teil von Europa? Welche Stellung kommt dem Islam zu, ohne dessen Einflüsse und vermittelnde Rolle es eine europäische Kultur, wie wir sie kennen, nicht geben würde? Ein wünschenswertes Europa im Geist der EU-Verlautbarungen in den letzten Jahrzehnten gibt es nur dort und solange, wie all diese Fragen in der Schwebe bleiben. Paradox zugespitzt: Es ist gerade ein Merkmal der europäischen Identität, eine schwache Identität, unklare Grenzen, vage Konturen zu haben und dementsprechend auch erzählerisch nur schwach modellierbar zu sein.
Das heißt natürlich nicht, dass es keine europäischen Geschichten zu erzählen gibt. Aber es sind eben Geschichten im Plural, so wie vor der Durchsetzung des Kollektivsingulars ‚Geschichte‘ in der sogenannten Sattelzeit (Reinhart Koselleck). In Unterscheidung vom Epos als hoher mythologischer Form, in dem Götter und Helden um die Zukunft der Welt ringen, habe ich in meinem Buch dafür den Begriff des ‚episodischen‘ Erzählens gebraucht – „als Herstellung eines Gewebes von Einzelhandlungen, die zwar miteinander kommunizieren, sich aber nicht notwendig zu einer erzählerisch präsentierbaren Haupthandlung fügen“ und „dessen Protagonisten gewöhnliche, in hohem Maß individualisierte, uncharismatische, mit geringen Handlungsspielräumen ausgestattete, zudem in ihren Beweggründen auf sich gestellte und gottferne Akteure sind“ (Hegel und wir, 223). Solche Geschichten mittlerer Reichweite stellen die vielfältigen Verbundenheiten innerhalb Europas vor Augen, aber sie tun dies mit wechselndem Fokus und je nach Konstellation wechselnden Allianzen, ohne eindeutig benennbares Zentrum und entsprechend ohne eindeutigen Rand. Sie tragen insoweit auch dem föderativen Charakter des europäischen Staatensystems Rechnung, dessen Anfänge ja auf den Staatenpluralismus der Neuzeit zurückgehen, der übrigens auch schon ein notorisches Identitätsproblem hatte.
In der Praxis wäre daraus zu folgern, die europäische Krise als ein politisch-pragmatisches, nicht als ein Identitätsproblem anzugehen. Die Suche nach kollektiver Identität ist nämlich keineswegs so selbstevident und natürlich, wie das in der laufenden Debatte suggeriert wird. Vielmehr interpretiere ich sie als ein Anzeichen von erhöhtem sozialem Stress. Politik für Europa, so wäre die Konsequenz, sollte keine Phantasmagorien nicht vorhandener Einheit entwerfen, sondern sich mit den Ursachen für diesen Identitätsstress befassen – und im Übrigen nach und nach die parlamentarischen, medialen und bildungspolitischen Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich ein staaten- und sprachenübergreifendes gesamteuropäisches Bewusstsein allererst ausbilden kann.
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Spätestens an diesem Punkt der Argumentation sind meine Selbstzweifel massiver geworden. Abgesehen davon, dass ich mich mit meiner Warnung vor den potentiell schädlichen Folgen des Erzählens als Literaturwissenschaftler in eine seltsame Position hineinmanövriere –: Ist mein Plädoyer gegen das große Epos und für die kleiner formatierten Episoden nicht letztlich ein sehr defensiver, hilfloser Bescheid, angesichts der Krisen, denen sich die EU gegenübersieht, und angesichts einer zusehends fanatischen Mythenbildung in nationalpopulistischen Kreisen? Unterlaufe ich nicht all die begrüßenswerten Bemühungen, dem erlahmten europäischen Projekt neuen Geist einzuhauchen? Müssen sich in diesen Tagen nicht auch die Fürsprecher Europas ideologisch energetisieren?[1] Ist eine ‚große‘ Erzählung in einer solchen Lage entbehrlich? Muss man auf ideologische Militanz nicht mit denselben Waffen antworten? Ich verstricke mich hier in das bekannte Dilemma der Gemäßigten in Zeiten politischer Eskalation – ein Dilemma, wie es Demokratien, Rechtsstaaten, Zivilgesellschaften überhaupt im Umgang mit ihren radikalen Gegnern kennzeichnet.
In dem Buch habe ich an dieser Stelle die dritte These zum Einsatz gebracht, die lautet, dass funktionsfähige moderne Gesellschaften in hohem Maß „netzverdichtet“ sind (mit einer Wortprägung von Hermann Lübbe) und weit stärker durch technische Automatismen, wirtschaftliche Verflechtungen, rechtliche Regulationen, institutionelle Routinen etc. als durch semantische Steuerungen koordiniert werden. Deshalb, so meine Schlussfolgerung, seien sie weitaus weniger als vormoderne Herrschaftsformen auf ideelle und narrative Integration großen Stils angewiesen. Schematisch vereinfacht, verhält es sich dieser Überlegung zufolge in unserem Europa umgekehrt wie in Hegels Preußen: Dort wölbt sich eine große Erzählung vom alles durchdringenden Staat über einem empirisch noch ganz inadäquaten Bestand; hier ist trotz der politischen Zwittergestalt Europas auf halbem Weg zwischen Föderation und gemeinsamem Staat und trotz des fragmentierten Bildes, das der Verbund der EU-Länder bietet, ein Grad an Interdependenz und Regelungsdichte erreicht, wie ihn vormoderne Staaten niemals aufgebracht haben. All die kleinteiligen Koordinationen juridisch-administrativer, wirtschaftlicher und finanztechnischer Art, die den unscheinbaren Kern der europäischen Politik bilden und immense Auswirkungen auf das Leben der Bewohner dieses Kontinents haben, sind die meiste Zeit jenseits des Lichtkegels öffentlicher Auseinandersetzung vor sich gegangen. Sie sind dementsprechend ohne dauernden symbolpolitischen ‚Flankenschutz‘ ausgekommen – gerahmt als Probleme der Verwaltungseffizienz, nicht der Identität. In dem Maß aber (um mich selbst zu zitieren), „in dem die staatliche Durchdringungstiefe auch in der Fläche zunimmt, in dem Versorgungsinfrastruktur, Verkehrswege, informationelle Vernetzung engmaschiger werden und überdies apparative Steuerungen einen Großteil der gesellschaftlichen Organisationsleistung übernehmen, vermindert sich das relative Gewicht von sinnhafter Integration.“ (Hegel und wir, 202) Wenn das stimmt, dann wird der Befund, dass wir über keine große Europa-Erzählung verfügen, dadurch beschwichtigt, dass wir sie auch nicht brauchen.
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Es ist nicht lange her, dass ich mir diese Argumentation ergrübelt habe, und ich kann sie nach wie vor – ungeachtet der im Einzelnen nachvollziehbaren Kritik, die sie in manchen Rezensionen auf sich gezogen hat – nicht ganz falsch finden. Trotzdem kommt sie mir inzwischen vor wie aus einer anderen Zeit; einer Zeit, in der das Projekt Europa zwar auch schon vor sich hinkriselte und nur noch einen leicht gequälten offiziellen Enthusiasmus hervorzurufen vermochte, aber doch irgendwie als Normalität gesetzt war. Angesichts der aktuellen Ereignisse erscheint mir nun das (ohnehin etwas tautologische) Argument, funktionierende moderne Gesellschaften bedürften keiner sinnhaften Integration, als zu pauschal. Es macht seinerseits noch von einer geschichtsphilosophischen Verallgemeinerung dessen, was Moderne bedeutet, Gebrauch. Das Bild, das ich, auf dieses Argument gestützt, von Europa gezeichnet habe, wäre mit einem Wort selbst noch zu hegelianisch.
Der Punkt ist ja offenbar, dass die Europäer in ihrer Gesamtheit mitnichten dieselbe Sinnwelt bewohnen und dass dies erhebliche faktische Auswirkungen hat. Während der Prozess der europäischen Einigung den einen – schematisch vereinfacht: den politischen, bürokratischen, ökonomischen, intellektuellen Eliten – als Inbegriff politischer Vernunft erscheint, wird er von einem erheblichen Prozentsatz der Bevölkerung als fortschreitende Entrechtung verstanden und löst Reaktionsweisen aus, die aus Sicht der Eliten irrational sind. Solche ins Irrationale überschießenden Reaktionsweisen aber sind nicht schlechthin ein Indiz von Unzurechnungsfähigkeit, sondern deuten darauf hin, dass ein bestimmtes Anliegen oder auch nur ein bestimmtes Lebensgefühl innerhalb des etablierten Diskurses nicht artikuliert werden kann. Weil die gepflegte politische Semantik ihm keine Sprache lässt, wildert es gewissermaßen aus, wird erratisch, verbündet sich mit fatalen Assoziationen, die oft, in einer charakteristischen Unschärfe, nur ‚halb gemeint‘ sind. Und weil Radikalisierungen sich ab einem bestimmten Punkt spiralförmig selbst verstärken, zielt diese Entwicklung letztlich auf die Aufkündigung jedes politischen Dialogs. Während – wieder schematisch vereinfacht – die Pro-Europäer den Anti-Europäern nicht ohne Herablassung Kurzsichtigkeit und Unvernunft attestieren, antworten die Anti-Europäer, aus ihrer Sicht nachvollziehbar, damit, die Meinungsmacht der europäischen Eliten und überhaupt ihren Status als Elite zu attackieren. Sie fühlen sich von diesen Eliten und dem politischen System, das ihnen Rückhalt verschafft, nicht mehr vertreten und gehen im Extremfall so weit, das System der politischen Repräsentation demokratischer Prägung als ganzes in Frage zu stellen. Wobei die Lage noch dadurch kompliziert wird, dass der Aufstand gegen die Funktionseliten die Angewiesenheit auf sie nicht vermindert – so dass sich eine Konstellation von „ungehorsamer Abhängigkeit“ bildet, wie sie Richard Sennett seinerzeit in einem Buch über Autorität dargestellt hat.[2] (Das lässt sich gut am Beispiel des Brexit veranschaulichen, der nun auf tausend verschiedenen Feldern von eben jenen Sachverständigen und Bürokraten umgesetzt werden muss, die in der Leave-Kampagne offen verhöhnt wurden.)
Landläufig werden der Europäischen Union zwei Vorwürfe gemacht. Der eine besteht in der mangelnden demokratischen Legitimation ihrer Funktionseliten; er läuft zumeist darauf hinaus, für Europa als ganzes eine Verfassung nach dem Vorbild parlamentarischer Demokratien anzumahnen. Der andere Vorwurf scheint ähnlich zu lauten, hat jedoch bei genauerer Betrachtung eine entgegengesetzte Stoßrichtung. Er verdächtigt die europäischen Institutionen, Agenturen einer in immer fernere Instanzenzüge ausgreifenden Fremdbestimmung zu sein. Durch das „bürokratische Monstrum“ Brüssel sieht er die Belange der einfachen Leute vor Ort nicht mehr repräsentiert. Diese Sicht nährt sich aber im Kern aus demselben Misstrauen, mit dem immer größere Teile der Bevölkerung auch den demokratisch gewählten Repräsentationsorganen begegnen, deren Vertreter sie mangelnder Bürgernähe bezichtigen. Dieses Misstrauen machen sich Populisten und autoritäre Führer zunutze, wenn sie alle intermediären Instanzen zwischen sich und der angeblichen Volksmeinung zu umgehen oder auszuschalten versuchen. Aus einer solchen Perspektive kommt die EU der Verfasstheit der Einzelstaaten zu nahe und kopiert deren Mängel in eine noch größere Dimension. Weil Populismus nur in einem überschaubaren politischen Rahmen gedeiht, das heißt auf regionaler oder nationaler Ebene, eignet sich ein so kompliziertes bürokratisches Gebilde wie die EU bestens dazu, als finstere Gegenwelt zur propagandistisch beschworenen Wir-Gemeinschaft perhorresziert zu werden. Ihr kann man anlasten, was innerhalb der jeweiligen Wir-Erzählung nicht unterzubringen ist: die Effekte internationaler Verwicklungen, Zwänge der Globalisierung, die Unkontrollierbarkeit des Kapitalismus, ambivalente Haltungen zu allen möglichen politischen Entscheidungsfragen, oder mit einem Wort: Komplexität.
Die Hegelsche Lösung für diese ‚Spaltung‘ des kollektiven Sinns würde darin bestehen, die Nationalisten als Sachwalter des Partikularen ins Unrecht zu setzen und alle Rationalität dem Standpunkt des Allgemeinen, in diesem Fall: eines europäischen Gemeinwesens, vorzubehalten. (Für die EU in ihrer jetzigen politischen Gestalt hätte Hegel allerdings wohl keine Sympathien, weil sie ihn zu sehr an das von ihm lächerlich gemachte Alte Reich mit seinem Instanzenwirrwarr und seinen gemischten Souveränitäten erinnern würde.) Diese Parteinahme für das Allgemeine wäre allerdings gepaart mit der Zuversicht, dass die partikularen Identitäten sich im historischen Prozess ohnehin als Elemente eines sie einbeziehenden organischen Ganzen erweisen – anders gesagt, mit einer Zuversicht in den versöhnenden Charakter von Entwicklung, die heute nicht mehr geteilt werden kann.
Es ist nicht aussichtsreich, angesichts der beschriebenen Spaltung auf eine Verschmelzung der Sinnhorizonte und Herstellung eines beide Seiten zusammenführenden Identifikationsmusters zu setzen. Ein Modell europäischer Identität zu forcieren, das ja doch wieder hauptsächlich die ökonomisch begünstigten, urbanen, beruflich mobilen Schichten ansprechen würde, könnte im Gegenteil diese Spaltung noch vertiefen. Auf seine Funktionsroutinen und unpathetisch daherkommenden Koordinationsleistungen, das zeigt die Erfahrung der letzten Jahre und Monate, kann sich das politische Europa andererseits auch nicht verlassen. Man muss die Krisenfrage nach Identität, die sich derzeit gegen das europäische Projekt richtet, offensichtlich ernster nehmen, als ich dies tun wollte, und als gewichtigen Faktor der politischen Psychologie in Rechnung zu stellen. Aber man sollte zugleich darauf hinwirken, die umlaufenden identifikatorischen Energien, die einen Ankerplatz suchen, an ihrer Massierung zu hindern und stattdessen auf mehrere Schauplätze zu verteilen.
Damit meine ich zweierlei. Zum einen wäre die europäische Politik aus ihrer Sprachlosigkeit zu befreien, die sich dadurch ergibt, dass sie außerhalb von Expertenzirkeln fast ausschließlich innerhalb nationaler Öffentlichkeiten diskutiert wird. Das macht es zu einer beliebten politischen Strategie, um einer fiktiven nationalen Gemeinschaft willen alle in diesem Rahmen nicht verhandelbaren Komplexitäten auf die europäische Ebene auszuverlagern. ‚Europa‘ wird auf diese Weise zu einer Art von kommunikativem schwarzem Loch, jenseits der ausgeleuchteten Welt der einzelstaatlichen Politik und ihres dem Publikum auch menschlich-anekdotisch vertrauten Personals – einer leeren Verwaltungsmitte, in die alle Ambivalenzen, Ängste und Aggressionen projiziert werden können. Dieses blame game, das nicht selten verschwörungstheoretische Züge annimmt, nährt und stabilisiert die nationalpopulistischen Blockbuster-Narrative – nach dem üblichen Drehbuch, dass ‚wir‘ uns im heldenhaften Abwehrkampf gegen einen gesichtslos-übermächtigen Feind draußen befinden. Abhilfe wäre durch den konsequenten Aufbau einer Berichterstattung aus europäischer Warte zu schaffen, überhaupt einer lebendigen und alltagsnahen transnationalen Medienkultur, von der aus sich die einzelstaatlichen Befindlichkeiten relativieren und zugleich die Europa-Politik den Charakter eines undurchschaubaren Komplotts verliert. Erzählstrategisch würde es in diesem Zusammenhang darum gehen, die große Blockbuster-Konfrontation ‚Wir gegen die‘ in viele die Grenzen durchkreuzenden Erzählungen episodischer, beweglicher, unabgeschlossener Art aufzulösen.
Dabei kommt es zweitens sehr darauf an, diese Pluralität von Erzählungen als Angebot, nicht als Bedrohung erfahrbar zu machen. Eine wichtige Rolle kann dabei der Mechanismus verteilter Identifikationen spielen, wie er unter anderem aus der Migrationsforschung bekannt ist: dass nämlich das wachsende Zugehörigkeitsgefühl zu einem politischen Gemeinwesen die Zugehörigkeit zu einem anderen zumeist nicht schwächt, sondern stärkt.[3] Diesen Effekt erzielt man aber nicht, wenn man unter dem Schirm einer großen Erzählung Identitätspolitik treibt. Günstige Bedingungen schafft man vielmehr durch eine im besten Sinn zivilgesellschaftliche Alltäglichkeit des nationenübergreifenden Zusammenlebens auf diesem Kontinent, flankiert durch eine Politik, die auf den Abbau struktureller Nachteile und Barrieren achtet – so gut sie es angesichts verminderter Spielräume kann. Denn gegen derartige Barrieren bleibt auch das lebendigste Erzählen auf die Dauer wirkungslos. Es kann allerdings zu ihrer Analyse beitragen und den Möglichkeitssinn zu ihrer Aufhebung schärfen. Wenn dabei von Hegel zu lernen ist, dann eher von der Philosophie des Rechts, die auf hellsichtige Weise gesellschaftliche Widersprüche verzeichnet, als von der Einheitsvision seiner Geschichtsphilosophie.
© Albrecht Koschorke
Albrecht Koschorke ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz.
* Vortrag anlässlich der Verleihung des Philosophischen Buchpreises, Hildesheim, 9. September 2016
[1] Dieser Impuls trägt die kämpferische Argumentation von Robert Menasse, Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas. Freiburg 2015.
[2] Richard Sennett, Autorität. Frankfurt/M. 1985. S. 34. Für den Hinweis auf dieses Buch und eingehende Gespräche danke ich Johann Scholten.
[3] Empirische Belege dafür liefern die Studien des German Socio-economic Panel (SOEP). Eine Diskussion dieser Ergebnisse bieten Claudia Diehl und Rainer Schnell, „Reactive Ethnicity“ or „Assimilation“? Statements, Arguments, and First Empirical Evidence for Labor Migrants in Germany. In: International Migration Review 40, No. 4, Winter 2006, S. 786-816.
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