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Schwerpunktbeitrag: Falsche Freunde. Amerikanischer Pragmatismus und deutsche Kultur

Veröffentlicht am 17. Mai 2017

 Die Philosophie des Pragmatismus erlebt zurzeit in Deutschland eine bis vor kurzen kaum vorstellbare positive Rezeption, eine große Verbreitung und Anwendung. In vielen Lebensbereichen und nicht mehr nur in der Philosophie findet der Pragmatismus Anklang und sogar begeisterte Zustimmung. In der Politik ist ‚Pragmatismus‘ inzwischen ein gängiger Begriff, sodass z.B. Ursula von der Leyen problemlos in der Frage der vom Verfassungsgericht geforderten Neuordnung der Jobcenter zu „Pragmatismus“ auffordern kann. Und in der Konrad-Adenauer-Akademie kann ein Vortragstitel wie „60 Jahre Pragmatismus? Sicherheitspolitik in den deutsch-israelischen Beziehungen“ auf ein intuitives Verständnis der interessierten Öffentlichkeit hoffen. In der Soziologie, Ökonomie, Literaturwissenschaft und Geologie, aber auch in der Sozial- wie in der Behindertenpädagogik und in der Theologie erscheinen Aufsätze, Bücher und Lexika, in denen der Pragmatismus als wissenschaftliche Methode und moderne Denkrichtung positiv gewürdigt wird. In den pädagogischen Disziplinen wird die an der praktischen Erfahrung des Kindes und am Lernen in demokratischen Gesellschaften orientierte Pädagogik von John Dewey immer einflussreicher.

Aber die Pragmatismusbegeisterung ist nicht auf Pädagogik und Geisteswissenschaften beschränkt. Der Autor dieser Zeilen hatte innerhalb eines Jahres Gelegenheit, an derselben Universität auf einer Tagung der Soziologen und der Geologen über Pragmatismus zu sprechen. Ein weiteres Symptom dafür, dass der Pragmatismus in die deutsche Kultur Eingang findet, ist seine allgemeine Verwendung zur Interpretation und Erklärung; so z.B. im Blick auf die Philosophiegeschichte: Der Pragmatismus wird von so verschiedenen Autoren wie Jürgen Habermas, Volker Peckhaus, Matthias Kettner und Günter Wohlfart als Aspekt des Denkens von Aristoteles, Hegel, Leibniz und Kant entdeckt.

Hat sich das tiefgehende Missverständnis, das Hans Joas in seinem Aufsatz „Amerikanischer Pragmatismus und deutsches Denken“[1] vor fast 20 Jahren der deutschen Rezeption des Pragmatismus attestierte, inzwischen in Wohlgefallen aufgelöst? In der Tat hat sich manches zum Besseren gewandelt. Der Pragmatismus hat viele neue Anhänger gefunden, doch sind einige davon aus den falschen Gründen zum Pragmatismus gelangt. Die nähere Beschäftigung mit dieser neuen Rezeption zeigt, dass das damals konstatierte Missverständnis nur eine neue Stufe erreicht und eine andere Qualität bekommen hat. Etliche Irrtümer und Fehldeutungen dauern beharrlich fort, werden heute jedoch positiv gewertet. Der Pragmatismus hat einige neue Freunde in Deutschland gewonnen – die ihm aus den falschen Gründen zustimmen.

Was verstehen diese neuen Freunde falsch? Die Mehrheit der Nichtphilosophen versteht den Pragmatismus als ein Denken in engen Nützlichkeitserwägungen und als Verzicht auf theoretische Überlegungen. Im Wikipedia-Artikel heißt es: „Der Ausdruck Pragmatismus (…) bezeichnet umgangssprachlich ein Verhalten oder Handlungen, die sich nach den bekannten Gegebenheiten richten und auf eine theoretische Analyse und genaue Begründung der Wirkungen verzichtet. Pragmatisches Handeln ist nicht an unveränderliche Prinzipien gebunden.“ In Deutschland wird unter einem pragmatischen Verhalten nicht nur ein opportunistisches Handeln und der Verzicht auf theoretische Begründung verstanden. Es kommt noch die Orientierung am individuellen oder parteilichen Nutzen hinzu. Der angestrebte Nutzen ist für die Auswahl der Gegebenheiten verantwortlich, an denen man sich orientiert. Diesem Verständnis bleibt die Einsicht verschlossen, dass es dem Pragmatismus darum geht, das theoretische Denken durch Praxis zu verbessern und zu klären. Auch die fantasievolle theoretische Konstruktion neuer menschlicher Praktiken kann deshalb pragmatisch geboten sein. Für ein solches Verständnis ist des Weiteren völlig unbegreiflich, dass der Pragmatismus bei Charles S. Peirce zu der wissenschaftstheoretischen These führt, dass theoretisch kreative Wissenschaft es mit der Untersuchung nutzloser Dinge zu tun habe. Viele der Wissenschaftler und Philosophen, die den Pragmatismus neu entdecken, teilen aber das von Wikipedia beschriebene Alltagsverständnis.

Warum aber wird der Pragmatismus in Deutschland von seinen neuen Freunden beharrlich missverstanden? Kurz gesagt: Weil der Begriff der alltäglichen Praxis in der deutschen Kultur ein solches Missverständnis nahelegt. In den Diskussionen um den Pragmatismus werden die unterschiedlichen Auffassungen von alltäglicher Praxis, die in der angelsächsischen und der deutschen Kultur stillschweigend wirksam sind, nämlich meistens nicht berücksichtigt. Die Abwertung des Alltäglichen haben die klassischen deutschen Philosophen wie Kant, Hegel, Fichte und Schelling konsequent vorgeführt: Für Hegel z.B. sind sinnliche Gewissheit und jedes nur natürliche Bewusstsein beschränkt und mangelhaft. Menschliche Vernunft hat sich, nicht nur bei Hegel, am Maßstab einer universalen oder gar absoluten Vernunft zu messen. Selbst diejenigen Philosophen, die sich wie Max Scheler mit dem Pragmatismus beschäftigt haben, vermochten ihn vor diesem Hintergrund nur als niedere Denkform zu verstehen – so z.B. als Form des „Arbeitswissens“: So schreibt Scheler: „Eine Einseitigkeit des Pragmatismus ist es ferner, das Bildungswissen, seine Eigenart und sein Werdensziel, sowie auch das Erlösungswissen überhaupt gar nicht zu sehen – oder, wo er diese wertübergeordneten Wissensziele zu sehen scheint, die Wertrangordnung der Wissensgüter in ihr genaues Gegenteil umzukehren.“[2] Auch heute noch ist es aber im deutschen Sprachraum ganz selbstverständlich, dass die Praxis, die der Pragmatismus fordert, vor allem mit der opportunistischen Orientierung am Vorgegebenen und mit kurzfristigem individuellen Nutzen gleichzusetzen ist.

Im angelsächsischen Kontext dagegen denkt man anders. Behauptet der Pragmatismus das Primat der alltäglichen Praxis für das menschliche Erkennen, so knüpft er an Thomas Reids Einsicht an, dass Philosophie, die sich jedem Common Sense entzieht, im Reich des Absurden landet. Die häufige Gleichsetzung von Praxis mit einer Orientierung am Vorgegebenen und am Nutzen sagt also etwas über die deutsche Kultur aus – und nichts über den Pragmatismus. Denn es gibt in der deutschen Philosophie und Kultur keine etablierte Konzeption, die das Gelingen der Praxis des alltäglichen Lebens selbst als Leistung verständlich macht. Den alltäglichen Fertigkeiten und der Vernunft des Alltags einen Status und Anspruch gegenüber Philosophie und Wissenschaften zuzugestehen – wo kämen wir da hin? Von der Praxis aus kann doch die Angemessenheit von Urteilen, Theorien und Projekten nicht beurteilt werden: Da zählen nur Expertenwissen und die höheren Gründe von Wissenschaft und Philosophie. Diese aber reden von ‚Alltagsverstand‘ und ‚Common Sense‘ nur, um die Dummheit, Engstirnigkeit, die Herrschaft von Vorurteilen und Irrationalität der normalen Menschen zu konstatieren. Eine Common-Sense-Philosophie wie sie die schottische Tradition im Anschluss an Reid kennt,[3] stößt in Deutschland seit Kant auf Unverständnis. Eine nachhaltige Rezeption hat nie stattgefunden.

Alltägliche Praktiken sind abgelagert als und werden wirksam in Gewohnheiten (engl. habits) des Verhaltens. Sie sind schon bei Aristoteles ebenso wie bei William James, Charles Sanders Peirce und John Dewey Charakteristika menschlich gelingender Alltagspraxis, die eine kritisch abwägende Vernunft bereits einschließt. Wie Robert Brandom im ersten Teil seines Buchs ‚Explikative Vernunft‘ (Frankfurt a.M. 2000) deutlich macht, ist die implizite Normativität einer Kritik und Verbesserung des Alltags bereits Teil gelingender Praxis. Die Ignoranz der Philosophie und der Kultur gegenüber der alltäglichen Praxis der „gewöhnlichen Gewohnheiten“ hat in den letzten Jahrzehnten zu einer Verrohung der Alltagskultur beigetragen: Der wissenschaftlich noch nicht aufgeklärte, eben nur gewohnheitsmäßige Alltag des Einzelnen, die spontane Güte des alltäglichen Handelns und Lebens, gelten dem Experten als wertlos. Alles ist ‚vormoralisch‘ und ‚irrational‘, was noch nicht durch universale und absolute Instanzen der Wissenschaft oder Gesellschaft geadelt wurde. Den Alltagsmenschen wird von philosophischen Anthropotechnikern schon einmal vom höheren Standpunkt aus empfohlen, dass sie ihr Leben doch besser optimieren sollten.[4] Doch die Aufforderung, das Leben zu ändern, ist eine Tautologie: Es gibt kein menschliches Leben ohne Veränderung.

Viele neue Anhänger des Pragmatismus verstehen nicht, dass Praxis ein kritischer Begriff der Moral und Lebenskunst ist. Sein lebenskünstlerischer, politischer und moralischer Sinn besagt, dass Menschen zum gewöhnlichen Alltag des eigenen Lebens stehen sollten. Die Praxis des gelingenden Lebens, die der Pragmatismus an den Anfang setzt, führt zu einer anti-utopischen Anerkennung des alltäglichen Menschen. Sie ermutigt uns, die schöne Endlichkeit des je eigenen Lebens ernst zu nehmen. Man kann dies in einer sanften Aufforderung zusammenfassen: Stehe zum Wert Deines und Deiner Zeitgenossen alltäglichen Lebens, und sorge Dich um dieses gemeinsame Leben. Begegnung, Austausch und Lebensteilung in der zwischen Menschen geteilten Zeit sind für eine gelingende Lebenspraxis kostbar und unersetzbar. Die geteilte Erfahrung der Gegenwart von Menschen füreinander ist deshalb der Kern der Praxis des „menschlichen Menschen“. Dies hat der Freiburger Philosoph Rainer Marten schon vor etlichen Jahren gezeigt.[5] Er gehört damit zu den wahren Freunden des Pragmatismus in Deutschland.

[1] In: Hans Joas: Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 1992, S. 114-145.
[2] Max Scheler: Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926, S. 207.
[3] Vgl. Thomas Reid: An Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense (1764), hrsg. v. Derek R. Brookes, Edinburgh 1997.
[4] Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009.
[5] Rainer Marten: Der menschliche Mensch. Abschied vom utopischen Denken, Paderborn 1988.

© Helmut Pape

Erstveröffentlichung in fiph-Journal Nr. 15 (Frühjahr 2010), S. 6-7.

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