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Schwerpunktbeitrag: Medizinphilosophische Betrachtungen zum Gesundheits- und Krankheitsbegriff

Veröffentlicht am 13. August 2015

Foto Schramme

Thomas Schramme

Beim ersten Blick auf Gesundheits- und Krankheitsdefinitionen stößt man relativ schnell auf diejenige der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahre 1946. „Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“ Der im zweiten Halbsatz genannte Aspekt dieser Definition wird inzwischen häufig betont. Wir sollten nicht nur eine negative Definition von Gesundheit geben, sondern darüber hinaus etwas Positives aussagen, etwas die Gesundheit positiv Bestimmendes, und nicht nur einfach festhalten, dass Gesundheit die Abwesenheit von Krankheit sei. Dass dies wichtig ist, wird dann deutlich, wenn man in einem Wörterbuch oder einer Enzyklopädie nachsieht und unter „Gesundheit“ liest: „Abwesenheit von Krankheit“, nur um dann unter „Krankheit“ den Eintrag „Abwesenheit von Gesundheit“ vorzufinden. Dann ist man einmal im Kreis gegangen. In der zitierten Definition der Weltgesundheitsorganisation ist Gesundheit nicht verstanden als Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen, sondern als ein Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens. Wenn man fragt, wer sich nach dieser Definition zu einem bestimmten Zeitpunkt als gesund bezeichnen würde, könnte man wohl nicht mit vielen rechnen. Die Zuhörer eines Vortrags etwa mögen ihren Sitz für allzu unbequem halten und dadurch ihr Wohl beeinträchtigt sehen. Sie würden sich also nicht in einem Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens sehen. Das Problem mit der Definition scheint daher darin begründet, dass sie ein unerreichbares – beziehungsweise allenfalls phasenweise erreichbares – Ideal formuliert. Es wird anscheinend gar nicht über Gesundheit gesprochen, sondern über etwas anderes, nämlich über so etwas wie Glück oder absolutes Wohlergehen. Demgegenüber haben viele Menschen allerdings die Vorstellung, Gesundheit sei ein medizinischer Begriff, und insofern verfehlt die genannte Definition der Weltgesundheitsorganisation einen wesentlichen Aspekt des Gesundheitsbegriffs. Zudem kommt das Problem der Medikalisierung hinzu. Wo man der Definition der Weltgesundheitsorganisation folgt, scheint man behaupten zu können, dass man nicht gesund sei, wenn etwa der Nachbar ein größeres Auto als man selbst hat oder man arbeitslos ist. Verbindet man nun Einschränkungen der Gesundheit mit der Idee des Lösens einer Eintrittskarte für die medizinische Behandlung, hätte man demnach in diesen Fällen einen Anspruch auf entsprechende medizinische Leistungen, die einem diese Übel nehmen könnten, etwa auf „Happy Pills“. Da dies wohl ziemlich unplausibel wäre, scheinen wir mit der bisherigen Diskussion nicht besonders weit gekommen zu sein. Es gibt daher viele Philosophen, welche die Weltgesundheitsorganisation für ihre Definition stark kritisiert haben. Um dieser gerecht zu werden, sollte man aber sollte den politischen Kontext beachten. Zu einer Zeit, in der es in vielen Ländern noch nicht einmal so etwas gab wie ein Gesundheitssystem, ging es der WHO wohl auch darum darauf hinzuweisen, wie stark die Bedeutung der Gesundheit für den Menschen in seinem Leben ist. Insofern sollte man keine strikten philosophischen Maßstäbe anlegen, im Sinne der Unterstellung einer Definition von Gesundheit, welche strikte notwendige und hinreichende Bedingungen bzw. Kriterien vorgibt. Liest man die Aussage in dieser Weise, ist sie sicherlich aus den genannten Gründen nicht plausibel. Doch man kann die Weltgesundheitsorganisation auch so verstehen, dass sie auf ein Ideal hinweisen wollte, welches auch ein politisches Ideal darzustellen scheint. Gleichwohl, als philosophische Definition des Begriffs der Gesundheit ist die Aussage der Weltgesundheitsorganisation sicherlich ungeeignet.

Immerhin haben wir aber nun die Einsicht gewonnen,, dass Gesundheit ein graduierbares Phänomen darstellt. Wir können gesünder sein, wir können kränker sein; wir sprechen von schweren Krankheiten im Unterschied zu weniger schweren Krankheiten. Entsprechend können wir uns verschiedene Punkte auf einer Skala vorstellen, auf der wir uns bewegen, wenn wir über Gesundheit und Krankheit sprechen.

                  negative Gesundheit (Abwesenheit von Krankheit = Minimum)

Krankheit <_____________________________________> positive Gesundheit (Ideal)

Abb. Negative und positive Gesundheit

Alles das, was auf dieser Skala auf der linken Seite zu finden ist, wären Krankheitsphänomene. Die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit, wo auch immer sie auf der gedachten Skala liegen mag, wäre genau der Punkt, den die negative Gesundheitsdefinition festlegt, der zufolge Gesundheit nicht mehr als die Abwesenheit von Krankheit ist. Für den Zweck dieser Abgrenzung interessiert es nicht, wie schwer eine Krankheit tatsächlich ist. Es wird lediglich ein allgemeiner Grenzpunkt markiert, an dem man auch die normative Signifikanz und die Berechtigung zur medizinischen Behandlung feststellt. Mit der Idee einer Skala, auf der individuelle Gesundheits- und Krankheitsphänomene eingetragen werden können, wird nun auch deutlich, dass der Vorschlag der Weltgesundheitsorganisation sich am anderen, positiven Extrem der Skala bewegt. Sie stellt ein Ideal vor, also etwas, das – wie oft bei nicht begrenzten Skalen – „nach oben offen“ und damit für uns Menschen unerreichbar ist. Gleichwohl muss festgehalten werden, dass wir durchaus auf diese Weise über Gesundheit und Krankheit reden können; wir können uns also auch graduell auf Gesundheit und Krankheit beziehen und insbesondere sogar ein positives Gesundheitsideal aufstellen, so wie es die Weltgesundheitsorganisation macht. Nur wichtig ist dabei zu sehen: Wir reden dann anders über diese Phänomene, als es häufig, zumindest in der Medizin, üblich ist. Dort wird Gesundheit im Sinne einer absoluten Grenze zur Krankheit gedeutet; Gesundheit ist hier die Abwesenheit von Krankheit. Das heißt, der Fokus der Medizin liegt in erster Linie auf der Krankheit. Und dann interessiert es eben nicht, wie glücklich jemand ist, sondern man ist gesund dann, wenn keine Krankheit vorliegt. Dieser Unterschied zwischen einem Minimum und einem Ideal der Gesundheit ist sehr wichtig. Ich will also keineswegs behaupten, es sei falsch, über positive Gesundheit zu reden – ganz im Gegenteil, das ist sinnvoll möglich –, nur redet man dann anders darüber, als wenn sich auf eine absolut gesetzte Grenze bezieht. Diesen Unterschied zu missachten führt zu viel Verwirrung in der Diskussion über Gesundheit und Krankheit, wie beispielsweise dann, wenn man einfach ganz salopp über die WHO-Definition hinweggeht und sie als unbrauchbar bezeichnet. Tatsächlich ist sie für bestimmte Zwecke nicht brauchbar. Meines Erachtens ist sie in erster Linie für die medizinischen Zwecke nicht brauchbar, denn mir scheint deutlich, dass die negative Gesundheitsdefinition – die Abwesenheit von Krankheit – dem vorherrschenden medizinischen Selbstverständnis zugrundeliegt.

Nun wollen wir die philosophische Debatte des Krankheits- und Gesundheitsbegriffs näher thematisieren. Es hat sich eingebürgert, zwischen zwei -Ismen zu unterscheiden, dem Normativismus und dem Naturalismus. Auch wenn es fraglich ist, ob dies die besten Bezeichnungen für die betreffenden Theorien sind, und auch, ob eine strikte Gegenüberstellung der Komplexität der philosophischen Debatte gerecht wird, scheint mir diese Einteilung doch nach wie vor als Ausgangspunkt gut geeignet. Die Normativisten sagen beispielsweise Folgendes: „Der Krankheitsbegriff dient nicht nur zur Beschreibung und Erklärung, sondern auch dazu, Handlungen anzumahnen. Er zeigt einen Sachverhalt als unerwünscht und als zu überwinden an. Er ist ein normativer Begriff; er legt fest, was nicht der Fall sein sollte. Als solcher umfasst der Krankheitsbegriff Bewertungskriterien, die bestimmte Sachverhalte als erstrebenswert und andere als zu vermeiden ausweisen.“ (H. Tristram Engelhardt Jr.: „Die Begriffe ‚Gesundheit‘ und ‚Krankheit‘“, in: Thomas Schramme (Hg.): Krankheitstheorien, Berlin 2012, S.41-62, hier S. 44). Also ist dem Normativismus zufolge der Krankheitsbegriff ein normativer Begriff. Er stellt nicht nur fest, dass irgendetwas vorliegt, sondern er hat gleichzeitig handlungsauffordernde Funktion. Indem wir etwas als Krankheit bezeichnen, haben wir auch ein Werturteil darüber gesprochen. Die Normativisten benötigen dann natürlich weitere Kriterien, um spezifisch medizinische Übel von anderen abgewerteten Zuständen begrifflich zu trennen, denn es existieren eine Unmenge an körperlichen und anderen Zuständen, die wir negativ bewerten, ohne von Krankheiten zu sprechen. Mancher würde beispielsweise seine Ohren für zu groß halten und dies als negativ bewerten. Ein solches Urteil würde uns aber nicht gleich dazu verleiten, zu sagen, daher läge eine Krankheit vor.

Ein wichtiges Problem des Normativismus ist, ob die Bewertung tatsächlich ein konstituierendes Merkmal von Krankheit ist. Wird durch die Bewertung festgelegt, dass es sich um eine Krankheit handelt, oder wird einfach nur eine Bewertung eines Zustandes vorgenommen, von dem wir aus anderen Gründen meinen, er stelle eine Krankheit dar? Betrachten wir ein anderes Beispiel, nämlich Arbeitslosigkeit. Viele werden Arbeitslosigkeit schlecht finden, aber man würde nicht sagen, dass Arbeitslosigkeit dadurch konstituiert oder dadurch definiert wird, dass sie schlecht ist. Ob jemand arbeitslos ist, hängt nicht mit der Bewertung zusammen, sondern wird dadurch bestimmt, dass jemand – knapp gesprochen – arbeitsfähig, aber ohne Erwerbsarbeit ist. Dass man diesen Zustand dann negativ bewerten kann, ist vollkommen richtig, aber diese Bewertung ist eben kein konstituierendes Merkmal. Das Gleiche gilt für die negative Bewertung in Relation zur Krankheitsdefinition. Der Normativismus müsste aufzeigen, dass der normative Aspekt – dass ein Zustand unerwünscht ist – nicht einfach nur ein akzidenzielles Merkmal darstellt, sondern ein wesentliches Kriterium des Krankheitsbegriffs ist.

Was sagt nun der Naturalismus? Auch hier wieder zunächst ein Zitat eines der bekanntesten Medizinphilosophen: „Eine Krankheit ist ein Typ eines inneren Zustandes, der entweder eine Beeinträchtigung der normalen Funktionsfähigkeit darstellt, das heißt eine Verminderung einer oder mehrerer Funktionsfähigkeiten, so dass sie unterhalb der typischen Effizienz liegen, oder eine Einschränkung der Funktionsfähigkeit, verursacht durch Umwelterreger. Gesundheit ist die Abwesenheit von Krankheit.“ (Christopher Boorse: „Gesundheit als theoretischer Begriff“, in: Thomas Schramme (Hg.): Krankheitstheorien, Berlin 2012, S.63-110, hier S. 102). Diese Definition entspricht einer medizinisch-theoretischen Perspektive, denn hier geht es um die Einschränkung der Funktionsfähigkeit. Es wird nicht darüber gesprochen, ob der Zustand ein Übel für die betroffene Person darstellt, sondern bei der Bestimmung von Krankheit handelt es sich um die Feststellung einer biologischen Tatsache – so zumindest dem naturalistischen Ideal zufolge. Krankheit ist demnach eine Störung der natürlich vorhandenen Funktionsfähigkeiten des Organismus. Um diese zu bestimmen, benötigt man wiederum Theorien, die feststellen, was eine Funktionsfähigkeit und was eine Dysfunktion ist. Diese Aufgabe fällt Biologen und Psychologen zu, aber natürlich auch den medizinischen Forschern. Welcher Körpermechanismus oder welcher geistige Prozess eine Funktion hat, wird in einer wissenschaftlichen Weise festgestellt und nicht durch unsere Entscheidungen oder gar Wünsche determiniert. Funktionen und Dysfunktionen ergeben sich vielmehr aus biologischen und statistischen Erkenntnissen. Ob man dann die festgestellte Krankheit beseitigen soll, ist davon ebenfalls unbenommen. Man stellt erst einmal fest: Es liegt eine Krankheit vor. Daraufhin kann man sich die Frage stellen, ob man diese Krankheit beseitigen soll oder nicht. Häufig würde man dies in der Tat bejahen, insbesondere dann, wenn die betroffene Person darunter leidet. Aber für die Feststellung, ob eine Krankheit vorliegt, ist diese Entscheidung unerheblich.

Probleme, die häufig in Bezug auf den Naturalismus gesehen werden, betreffen die Frage, ob es wirklich eine wertfreie Bestimmung von Dysfunktionen gibt. Hierzu gibt es eine ausgedehnte Diskussion, die in die Philosophie der Biologie hineinragt. Was genau sind eigentlich Funktionen, wie sind diese entstanden, und wie kann man sie definieren? Hat die Bestimmung der Funktionen und Dysfunktionen nicht doch wieder etwas damit zu tun, was wir gut oder schlecht finden? Das sind komplexe Diskussionen, die mich hier nicht beschäftigen können. Doch erwähnt werden sollte, dass die naturalistische Position letztlich auf eine wissenschaftliche und wertneutrale Theorie der Funktion und Dysfunktion angewiesen ist. Weiterhin wird am Naturalismus häufig kritisiert, dass er die medizinisch-praktischen Fragen vernachlässigt, die wertende Perspektive, die uns ja durchaus interessiert. Schließlich wollen wir auch wissen, was eine Krankheit jeweils für uns bedeutet und ob sie beseitigt werden sollte. Dies sind aber Fragestellungen, die in der naturalistischen Perspektive einfach ausgeblendet werden. Es geht dort nur darum festzustellen und zu erklären, ob und warum etwas eine Krankheit ist. Die ganze Perspektive des Patienten fehlt, könnte man sagen.

Ich möchte nun mit einer These abschließen, die ich an anderer Stelle ausführlicher verteidigt habe (Thomas Schramme: Patienten und Personen: Zum Begriff der psychischen Krankheit, Frankfurt a.M. 2000). Die Idee besteht darin, dass es zwischen Normativismus und Naturalismus kein Konkurrenzverhältnis gibt, sondern dass diese letztlich vereinbar sind. Normativisten reden über die lebensweltliche Seite von Krankheit, und die Naturalisten reden über das, was ich medizinisch-theoretische bzw. wissenschaftliche Perspektive nenne. Damit widersprechen sich die Theorien nicht, sondern es handelt sich um unterschiedliche Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen. Eine ähnliche Vereinbarkeit ergibt sich, wenn man ein Bild als Artefakt versteht und einfach feststellt, beispielsweise wie viel Menge an Farbe aufgetragen worden ist, im Unterschied zu einer wertenden Weise, in der man über denselben Gegenstand als Kunstwerk mit ästhetischen Begrifflichkeiten spricht. Man bezieht sich auf denselben Gegenstand, auf dasselbe Phänomen, aber in unterschiedlicher Weise. Genauso bei Krankheit: Einmal spricht man im Sinne einer Wertung, einmal im Sinne einer Beschreibung bzw. einer wissenschaftlichen Perspektive. Dieser Unterschied wiederum kann gut den Begrifflichkeiten des Englischen, disease und illness, zugeordnet werden, sodass man festhalten kann, dass die Normativisten über illness reden, während die Naturalisten disease thematisieren. Beides hat seine Berechtigung.

(c) Thomas Schramme

Thomas Schramme ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Hamburg.

Erstveröffentlichung des Beitrags in fiph-Journal 22 (Oktober 2013), S. 1, 3-4.

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Beitragsthemen: Medizin

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