Andreas Lienkamp
Bei der „United Nations Conference on Environment and Development“, dem „Erdgipfel“ in Rio de Janeiro im Juni 1992, haben 166 Staats- und Regierungschefs das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen unterzeichnet. Darin bringen sie zum Ausdruck, dass Klimaschutz für die Völkergemeinschaft nicht nur eine technisch und politisch, sondern auch eine normativ höchst anspruchvolle Aufgabe ist: „Die Vertragsparteien sollen auf der Grundlage der Gerechtigkeit und entsprechend ihren gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und ihren jeweiligen Fähigkeiten das Klimasystem zum Wohl heutiger und künftiger Generationen schützen.“ Ganz in diesem Sinne betonen die Unterzeichnerstaaten der parallel erarbeiteten Rio-Deklaration, dass die künftige Entwicklung so zu gestalten sei, dass „den Entwicklungs- und Umweltbedürfnissen heutiger und künftiger Generationen in gerechter Weise entsprochen wird“. Dass die anthropogene Beeinflussung des globalen Klimas eine Frage der Gerechtigkeit und eines der zentralen ethischen Probleme der Gegenwart darstellt, ist also nicht die Sondermeinung exzentrischer Moralisten oder überbesorgter Umweltschützer.
Das Verhältnis der einen Gerechtigkeit im Singular zu den Rechten des Menschen im Plural lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: „Die Menschenrechte sind ein Ausbuchstabieren des Gerechtigkeitsgebots im Detail“[1]. Führt man sich die gegenwärtigen und zu erwartenden bzw. möglichen Folgen des anthropogenen Klimawandels vor Augen, so zeigt sich, dass sie bzw. besser: die ihn primär auslösenden Akteure grundlegende Menschenrechte verletzen oder bedrohen. Dies sei eine neue Herausforderung, die die besondere Aufmerksamkeit der Menschenrechts-Gemeinschaft verdiene.
Neben den gegenwärtig Armen und Machtlosen werden die kommenden Generationen durch den Klimawandel in besonderer Weise betroffen sein. Mit ihnen teilen sie die Lage, dass sie auf heutigen Märkten keine Kaufkraft besitzen und zudem im politischen Prozess keine Stimme haben. Aber im Unterschied zu den Lebenden besitzen die Kommenden noch nicht einmal eine theoretische Chance, daran etwas zu ändern. Im Folgenden soll deshalb die Frage erörtert werden, ob kommende Generationen Inhaber von Menschenrechten sind, die die Lebenden schon jetzt zu achten und zu schützen haben. Mit Micha Brumlik ließe sich die Frage folgendermaßen zuspitzen: „Läßt sich gehaltvoll davon sprechen, daß Menschen, von denen heute niemand wissen kann, ob sie überhaupt jemals existieren werden, Rechte haben?“ Brumlik antwortet darauf mit einer rhetorischen Frage, die schon in die Richtung weist, in der eine Lösung zu suchen ist: „Wie soll andererseits eine langfristige Verantwortung für Natur und Gesellschaft gedacht werden, wenn den heute noch nicht bekannten, möglichen Menschen nicht mindestens ein schwacher moralischer Anspruch eingeräumt wird?“
Das Gemeinsame Wort der Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ von 1997 bleibt nicht bei einem schwachen Anspruch stehen, sondern spricht ausdrücklich von dem Recht der künftigen Generationen auf ein Leben in intakter Umwelt. Der Klimawandel, so streicht auch der Stern Review heraus, tangiere nicht nur die Rechte jetzt Lebender: „Impacts of climate change on future generations (…) raise very firmly questions of rights.“ Ist Gerechtigkeit nach der klassischen Definition des römischen Rechtslehrers Ulpian der feste und beständige Wille, jeder und jedem sein Recht zu geben, so wäre Generationengerechtigkeit relativ leicht, aber noch sehr formal zu bestimmen als der feste und beständige Wille, jeder Generation ihr Recht zu geben – eine Deutung, die für die (menschen‑)rechtliche Diskussion der Moderne durchaus anschlussfähig ist.
Was aber ist gemeint, wenn es in der Schlusserklärung der Wiener UN-Menschenrechtskonferenz von 1993 an prominenter Stelle heißt, dass der „universale“ Charakter der Rechte und Freiheiten außer Frage stehe? Was heißt hier „universal“? Bedeutet es nur „weltweit“ im Sinne räumlich entgrenzter Geltung (was schon viel wäre), oder ist es darüber hinaus in der Bedeutung von „allgemein“ in einem zeitübergreifenden Sinn zu verstehen? Nur diese zweite, umfassende Deutung, also die „raumzeitliche Interpretation des Prinzips der Universalität“[2], ist angemessen, da ansonsten nicht von wirklicher Universalität gesprochen werden kann.
Die Auffassung, dass zukünftige Generationen Menschenrechte besitzen, stößt aber nach wie vor auf großen Widerspruch. Dagegen wird unter anderem eingewandt, dass Rechte nur habe, wer auch Pflichten übernehmen könne. Dem lässt sich entgegnen, dass etwa in der deutschen Rechtsordnung selbst ungeborene Menschen schon Rechte haben (z.B. das Recht auf Leben nach § 219 I StGB), ohne dass dem irgendwelche Pflichten gegenüberstehen. Sind aber, so wird weiter gefragt, zukünftige Generationen nicht dadurch einseitig im Vorteil, dass sie nur Rechte gegenüber den Lebenden haben, während die Heutigen ihnen gegenüber nur Pflichten haben? Dem lässt sich mit Klaus Steigleder entgegenhalten, dass „zukünftige Menschen selbst wiederum in der gleichen Weise wie wir Pflichten gegenüber (von ihnen aus gesehen) zukünftigen Menschen haben, die in deren Rechten begründet sind“. Und auch die gegenwärtigen Generationen hatten ja schon vor ihrer Existenz Rechte gegenüber den Vorfahren, die ihrerseits den damals noch nicht existenten Menschen gegenüber nur Pflichten hatten. Dies ist eine logische Konsequenz des weitestgehend anerkannten Konzepts der „phasenverschobenen Gerechtigkeit“.
Als weiteres Gegenargument ist zu hören, dass kommende Generationen keine Rechte haben könnten, da von Rechten nur dann die Rede sein könne, wenn es identifizierbare Interessen gäbe. Von solchen wiederum könne nur gesprochen werden, wenn identifizierbare Individuen existierten, denen zu schützende Interessen zugeordnet werden könnten. Richtig daran ist, dass uns bezogen auf die kommenden Generationen aufgrund fehlender Informationen über deren exakte Umstände, d.h. ihre konkrete Situation und die damit verbundenen spezifischen Bedürfnisse und Interessen, keine andere Wahl bleibt, als mindestens unsere grundlegenden gegenwärtigen Bedürfnisse und Interessen zu extrapolieren.
Worin aber könnte der Fehler eines solchen Vorgehens liegen? Ist es denn wirklich wahrscheinlich anzunehmen, dass sich die condition humaine so sehr ändert, dass es besser erscheinen könnte (für wen?), kommenden Generationen nicht wenigstens annähernd die gleichen basalen Bedürfnisse und Interessen wie den heutigen zu unterstellen? Auch die im Detail unterschiedlichen Präferenzen der jetzt Lebenden führen ja nicht zu einer Abkehr von universalen Menschenrechten, etwa auf Leben oder leib-seelische Unversehrtheit. Schließlich handelt es sich um Rechte auf Grundgüter, welche die Bedingung der Möglichkeit (guten) menschlichen Lebens darstellen (transzendentale oder konditionale Güter). Zudem ist die universale Geltung grundlegender Rechte auch heute durchaus mit unterschiedlichen inhaltlichen Füllungen vereinbar, wie am Begriff des „soziokulturellen“ Existenzminimums deutlich wird. Kann es vielleicht sein, dass es sich bei diesem und anderen Gegenargumenten nur um den Versuch handelt, sich die Ansprüche künftiger Menschen „vom Leibe“ zu halten?
Manche fordern nun, es sei notwendig, ein Bewusstsein der eigenen Rechte zu haben oder Rechte selbst einfordern zu können, um tatsächlich Trägerin oder Träger solcher Rechte zu sein. Dazu ist zu sagen, dass wir dies aus gutem Grund auch bei Lebenden nicht zur Voraussetzung machen. Denn sonst müssten z.B. Menschen im tiefen Koma oder mit schwerster geistiger Behinderung aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen werden. Wie will man (ganz abgesehen von der Inhumanität dieses Ansinnens) angesichts fließender Übergänge und nicht auszuschließender individueller oder medizinisch-technischer Entwicklungen eine Zäsur begründen, die einen Zustand mit Rechten von einem ohne Rechte scheidet? Auch Neugeborene ließen sich als Gegenargument anführen, auch wenn diese – größtenteils – einmal das geforderte Bewusstsein haben werden und dies dann auch äußern können. Aktuell werden aber auch sie der eingeforderten Bedingung nicht gerecht. Und trotzdem spricht ihnen (abgesehen von einigen wenigen, wie etwa Peter Singer) niemand den Status eines Rechtssubjektes ab. Man muss deshalb, auch darin ist Steigleder zuzustimmen, unterscheiden zwischen „einen Anspruch erheben“ und „einen Anspruch haben“. Nur letzteres sei für Anspruchsrechte von Belang.
Eine weitere Kritik geht dahin, dass es völlig ausreiche, von der Verantwortung oder von Pflichten der jetzt lebenden Generationen zu sprechen. Dies hätte den Vorteil, nicht die schwierige Konstruktion der Rechte Ungezeugter bemühen zu müssen. Der am 9. November 2006 von über einhundert Abgeordneten aller Bundestagsfraktionen (mit Ausnahme der Linken) vorgeschlagene neue Artikel 20b GG geht mit dem Postulat einer staatlichen Schutzpflicht für die Interessen künftiger Generationen ganz offenbar diesen Weg. Dagegen spricht allerdings, dass die gegenwärtigen Generationen – ohne ein ausdrückliches Junktim mit entsprechenden Rechten der künftigen – einen starken Anreiz haben, die genaue Definition ihrer Pflichten jeweils zu ihren Gunsten und zu Lasten künftiger Generationen auszugestalten. Rechte (der kommenden Generationen) bieten einen höheren Schutz als Pflichten (der jetzt lebenden). Werden die kommenden Menschen Inhaber der universalen Menschenrechte sein, so ist aufgrund des inzwischen erreichten Niveaus der juristischen Auslegungspraxis dieser Rechte eine Umdeutung oder Abschwächung weniger leicht möglich.
Es sei eine Binsenwahrheit, so Steigleder, dass Menschen, die (noch) nicht existierten, noch keine Rechte haben könnten. Aber in der Zukunft werden Menschen leben, „die Rechte haben werden und zwar die gleichen Rechte wie wir“[3]. Und diese Zukunft beginnt im jeweils nächsten Augenblick. Gegenwärtig werden global betrachtet in jeder Sekunde durchschnittlich 4,4 Kinder geboren. Hat man diese vor Augen, so leuchtet unmittelbar ein, dass die zukünftigen Rechte der Kommenden schon jetzt Ansprüche an alle Handlungsfähigen richten. Von ihnen hängt es ab, ob die zukünftig Lebenden über die allen Menschen zustehenden Voraussetzungen für eine handelnde Selbstentfaltung verfügen oder nicht. „Entsprechend erwächst uns aus den Rechten, die zukünftige Menschen haben werden, heute die Pflicht, diese Rechte zu achten und entsprechend zu handeln.“[4] Den Künftigen komme es zu, dass wir in all unserem Tun und Lassen heute „dem normativen Status, den sie besitzen werden“, Rechnung tragen.
Die Position des Ethikers Steigleder deckt sich weitgehend mit der des Rechtswissenschaftlers Herwig Unnerstall. Allerdings spricht Letzterer nicht von Rechten zukünftiger Generationen, wohl aber von „zukünftigen Rechten zukünftiger Individuen“. Aber auch diese Rechte hätten, und darin liegt die Übereinstimmung, „schon normative Konsequenzen in der Gegenwart; denn zukünftige Rechte können durch Handlungen in der Gegenwart verletzt werden“[5]. Dies mahnte übrigens schon der Brundtland-Bericht an, als er feststellte, dass die Folgen der gegenwärtigen Verschwendung die Optionen der kommenden Generationen in rasantem Tempo verringerten. Die Entscheidungen, die wir heute fällen, beeinflussen das Wohlergehen aller Menschen, die nach uns kommen – ebenso wie die Integrität und Stabilität des Planeten, den sie „erben“ werden.
© Andreas Lienkamp
Andreas Lienkamp ist Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück und Preisträger des Philosophischen Buchpreises 2010 „Denken des Klimawandels“.
Erstveröffentlichung des Beitrags in fiph-Journal 16 (Oktober 2010), S. 1, 3-4.
[1] Friedhelm Hengsbach: Eine amerikanische Herausforderung, in ders: Gegen Unmenschlichkeit in der Wirtschaft, Freiburg-Basel-Wien 1987, S. 258.
[2] Werner Veith: Intergenerationelle Gerechtigkeit, Stuttgart 2006, S. 155.
[3] Klaus Steigleder: Zwischen Tagespolitik und Politik für zukünftige Generationen, www.ruhr-uni-bochum.de/philosophy/mam/ethik/content/steigleder-future_generations.pdf, 2006, 3f.
[4] Steigleder 2006, S. 4.
[5] Herwig Unnerstall: Rechte zukünftiger Generationen, Würzburg 1999, S. 450.
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