Walter Siebel
Menschen sind soziale Wesen. Ohne in soziale Beziehungen eingebettet zu sein, könnten sie weder materiell noch psychisch überleben. Soweit es sich um informelle Beziehungen handelt, beruhen sie auf Verwandtschaft, Freundschaft oder auf räumlicher Nähe. Letztere nennt man Nachbarschaft. Aber welche Qualität diese sozialen Beziehungen annehmen und welche Rolle sie spielen, ist historisch wandelbar. In vormodernen Gesellschaften war Nachbarschaft eine auf ökonomischer Notwendigkeit beruhende, von sozialen Normen strikt geregelte Gemeinschaft. Diese Form von Nachbarschaft existiert nicht mehr. Im ersten Teil wird erklärt, weshalb (I). Im zweiten Teil werden die heutigen Formen nachbarlichen Verhaltens beschrieben (II). Welche Rolle Nachbarschaften bei der Integration von Zuwanderern spielen, wird in Teil III diskutiert. Nachbarschaft wird es auch in Zukunft und auch in der Großstadt geben. Sie kann wichtige Funktionen für bestimmte Gruppen erfüllen. Aber künftige Nachbarschaften werden wenig gemein haben mit dem dichten und unentrinnbaren Geflecht sozialer und ökonomischer Abhängigkeiten in vormodernen dörflichen Nachbarschaften (IV).
I Der Funktionsverlust von Nachbarschaft
Nachbarschaft lässt sich definieren als „eine soziale Gruppe, deren Mitglieder primär wegen der Gemeinsamkeit des Wohnortes miteinander interagieren“ (Hamm 1973, 18). Nachbarschaft meint ein soziales Beziehungsgeflecht aufgrund räumlicher Nähe des Wohnens. Aber räumliche Nähe für sich genommen schafft keine soziale Beziehung. Sie ist nur eine technische Bedingung von direkten, sogenannten „face-to-face-Kontakten. Damit aus räumlicher Nähe soziale Nähe und damit Nachbarschaft werden kann, sind weitere, soziale Faktoren nötig: gemeinsame Interessen, übereinstimmende Verhaltensnormen, Ähnlichkeiten der sozialen Lage und des Lebensstils. Der räumlich nahe Wohnende muss auch sozial nahe sein, damit eine Gemeinschaft der Nachbarn entstehen kann. Das war in den Dörfern der Vormoderne selbstverständlich. „Nachbar“ leitet sich her aus dem mittelhochdeutschen „nachgebur“: der nahe Wohnende, aber auch der nahe Bauer (Kluge 1995). Der Nachbar war von gleichem Stand, arbeitete und lebte unter ähnlichen Verhältnissen. Wer sich räumlich nah war, der war sich auch sozial nah, man war denselben Nöten und Zwängen unterworfen und zur Bewältigung des eigenen Alltags unausweichlich aufeinander angewiesen. Und viele blieben ihr Leben lang Mitglied ein und derselben Dorfgemeinschaft. Nachbarschaft war Schicksal. Auf dieser Basis ökonomischer Notwendigkeit, gleicher Interessenlage, sozialer Nähe und Unentrinnbarkeit entwickelten sich strenge Normen nachbarlichen Verhaltens, deren Einhaltung die Nachbarn mit scharfen Sanktionen erzwingen konnten.
Diese objektive Basis hat Nachbarschaft heute verloren. Man ist nicht mehr ökonomisch auf seine Nachbarn angewiesen und man teilt mit ihnen auch nicht mehr notwendigerweise dieselben Werte und Normen. Die Allmende, die von den Nachbarn gemeinsam genutzte und verwaltete Acker- oder Weidefläche, ist verschwunden. Die Nachbarschaft des Wohnorts bedeutet nur noch in Ausnahmefällen auch eine Nachbarschaft des Arbeitsorts, denn mit der industriellen Urbanisierung wurde die Arbeit aus dem Wohnzusammenhang herausgelöst und am gesonderten Ort, im Betrieb, organisiert. Damit entstand erst das uns heute so selbstverständliche Gegenüber von Arbeitszeit und Freizeit. Es entstand auch das Gegenüber von Wohn- und Arbeitsort. Wohnung und Wohnumgebung wurden zu Orten von Konsum und Freizeit. Nachbarschaft war keine Produktionsgemeinschaft mehr. Damit schwand die ökonomische Angewiesenheit auf die Nachbarn. Die Gemeinsamkeiten mit den Nachbarn wurden auf das Leben jenseits des Berufs eingeengt. Allerdings nicht gänzlich und überall: Auch heute noch finden sich produktive nachbarliche Hilfeleistungen insbesondere im Zusammenhang von Selbsthilfeaktivitäten beim Hausbau, allerdings vornehmlich auf dem Land, wo die Voraussetzungen für produktive informelle Arbeit eher vorhanden sind: verfügbare Flächen und soziales Kapital aus der Verwandtschaft und eben auch aus den Resten traditioneller Nachbarschaft (Jessen/Siebel 1988).
In der Regel aber machen heute Wohlstand, moderne Kommunikations- und Verkehrsmittel und die sozialen Netze des Wohlfahrtsstaates nachbarliche Hilfssysteme weitgehend überflüssig. Vereine, politische Parteien und öffentliche Institutionen decken einen Großteil der Kommunikationsbedürfnisse und Aktivitäten ab, die früher vornehmlich innerhalb der Nachbarschaft stattfanden. Die modernen Kommunikationsmedien schließlich haben den Nachbarn als Informationsquelle entwertet. Informationen aus der Nachbarschaft sind zum Klatsch heruntergekommen, dem zahnlosen Restbestand jener einstmals mächtigen gegenseitigen Kontrolle unter Nachbarn.
Die Differenzierung der Berufe, die Individualisierung, die Pluralisierung der Lebensstile reduzieren heute auch die sozialen Gemeinsamkeiten unter den Nachbarn. Das hat die Chancen verringert, innerhalb der Nachbarschaft Gleichgesinnte zu finden, mit denen man Bekanntschaft und Freundschaft schließen möchte. Verwandte sind ebenfalls immer seltener auch Nachbarn. Das zwingt dazu, seine Verkehrskreise über die ganze Stadt und weit darüber hinaus auszudehnen. Soziale Beziehungen lösen sich von unmittelbarer räumlicher Nähe. Solche Enträumlichung von Verwandtschaft, Bekanntschaft und Freundschaft ist technisch ermöglicht worden durch die modernen Verkehrs- und Informationstechnologien, ökonomisch durch steigenden Wohlstand und zeitlich durch die Ausweitung der arbeitsfreien Zeit.
Mit der Industrialisierung traten Wohnen und Arbeiten räumlich und zeitlich auseinander. Damit verließen auch die mit Arbeit befassten nicht oder nur entfernt verwandten Mitglieder den Haushalt: die Knechte und Mägde, die Gesellen und Gehilfen. Zurück in der Wohnung blieb die Kernfamilie von Vater, Mutter und Kindern. Damit entstand erst die Möglichkeit zur Intimisierung einer privaten Sphäre in der Wohnung, die nun gegen den neugierigen und kontrollierenden Blick von außen abgeschirmt werden konnte. Der Blick des Nachbarn aber ist besonders problematisch, weil man dem Nachbarn anders als dem flüchtig vorübergehenden Fremden immer wieder begegnet. Also schützt man seine Privatsphäre gerade gegenüber den Nachbarn. Die Beziehungen werden versachlicht, man nimmt anders als früher nicht mehr selbstverständlich am Familienleben der Nachbarn teil. Man hält Abstand, zeigt keine Neugier, schon gar nicht mischt man sich in die Angelegenheiten von Nachbarn ein und vermeidet insbesondere Verpflichtungen. Die wichtigste Norm gutnachbarlichen Verhaltens ist die Distanznorm, denn Nachbarschaft ist unentrinnbar. Nachbarn, anders als Freunde und Verwandte, zu denen man Kontakte hält oder eben nicht, kann man nur unter den hohen Kosten eines Umzugs auswechseln. Das macht die Kontakte zu Nachbarn so konfliktträchtig. Auseinandersetzungen zwischen Nachbarn können zu noch erbitterterem Streit führen als Scheidungen und Erbschaftsangelegenheiten. Also hält man seine Kontakte zu Nachbarn bewusst auf der Ebene einer vorsichtig-höflichen Distanz.
Der Funktionsverlust nachbarlicher Beziehungen, ihre Reduktion auf Grußkontakte und der Rückzug in die eigene Privatheit sind in zahlreichen Studien seit den 1960er Jahre beschrieben worden (vgl. zusf. Oswald 1966, 120ff; Hamm 1973). Angesichts dieser empirisch immer wieder bestätigten Erosion von Nachbarschaft als einer auf räumlicher Nähe beruhenden sozialen Beziehung wird in einer neueren Untersuchung Nachbarschaft nur noch physisch-räumlich definiert, ohne Nachbarschaft als eine soziale Tatsache zu erwähnen: „Quite simply, a neighbourhood is a geographically circumscribed, built environment that people use practically and symbolically“ (Blokland 2003, 213).
II Nachbarschaftliche Wirklichkeit heute
Aus all diesen Gründen hat der Städter heute im Vergleich zum vormodernen Dorfbewohner weniger und weniger intensive Kontakte zu seinen Nachbarn. Misst man sein Verhalten gegenüber den Nachbarn am Maßstab der traditionalen Dorfgemeinschaft, kann man nur noch Verfallsgeschichten erzählen. Das hat die konservative Stadtkritik getan, die in der modernen Großstadt nur noch Vereinsamung und Anomie erkennen konnte. Aber der normative Bezug auf das Modell traditionaler dörflicher Nachbarschaft führt dreifach in die Irre:
Erstens wird die Realität des modernen Großstädters verzerrt. Der Großstädter ist keineswegs einsam, nur weil er weniger Kontakte zu seinen unmittelbaren Nachbarn pflegt. Er hat nicht weniger, er hat vielmehr andere Kontakte, als es die vormoderne Nachbarschaft zuließ. In einer Untersuchung von zwei Hamburger Siedlungen hat Helmut Klages schon 1958 festgestellt, dass ganze 6% aller Bekanntschaftsbeziehungen der Befragten aufgrund der Tatsache des nebeneinander Wohnens zustande gekommen waren. Sieben weitere Prozent von allen Bekanntschaftsbeziehungen wurden durch das nachbarliche Zusammenwohnen intensiviert (Klages, 158ff).
Zweitens wird die Qualität städtischer Kontakte verkannt. Die Ausweitung seiner Verkehrskreise weit über die engere räumliche Nachbarschaft hinaus hat die Optionen der Städter enorm erweitert. Man kann sich unter der Bevölkerung der ganzen Region und sogar darüber hinaus seine Freunde und Bekannten auswählen, und selbst zu den entfernter wohnenden Verwandten hält man enge Beziehungen aufrecht, wenn man nur will. Moderne Kontaktnetze beruhen auf Wahlfreiheit, was auch beinhaltet, unerwünschte Beziehungen abbrechen zu können. Wahlfreiheit aber ermöglicht intensivere Freundschaften als die vorgegebenen Beziehungen innerhalb einer Dorfgemeinschaft.
Drittens verkennt der normative Rückbezug auf das vormoderne Dorf die Anpassungszwänge der dörflichen Gemeinschaft. Stadtluft macht nicht zuletzt deshalb frei, weil man als Städter nicht mehr den unentrinnbar dichten Kontrollen des Dorfes unterworfen ist. Die Stadt erlaubt ein Ausmaß an Individualisierung, das in der Enge der vormodernen Dorfgemeinschaft undenkbar war. Das zeigt sich selbst im Nachbarschaftsverhalten: die Kontakte des Städters zu seinen Nachbarn sind nicht nur beliebig, sehr allgemein und unverbindlich, sie sind auch zunehmend individualisiert: jedes Familienmitglied kann seinen eigenen nachbarlichen Verkehrskreis haben.
Die These vom Funktionsverlust von Nachbarschaft gilt auch nicht für alle Stadtbewohner. Für Kinder und alte Menschen ist Nachbarschaft nach wie vor von großer Bedeutung, da sie über die sozialen Kompetenzen und über die Mobilität zum Aufbau und zur Stabilisierung von weiträumigen Kontaktnetzen noch nicht oder nicht mehr verfügen. Für Frauen mit kleinen Kindern, insbesondere für Alleinerziehende, aber auch für Angehörige der Unterschicht gilt Ähnliches. Dichte nachbarliche Beziehungen findet man heute in Großstädten als Reste eines traditionellen Arbeitermilieus. Aber diese Milieus schwinden, weil die Armut, die die Arbeiter zusammenführte, ebenso geschwunden ist wie die Homogenität der Lebenslagen, die eine wesentliche Voraussetzung für funktionierende Nachbarschaften ist.
Die traditionelle dörfliche Nachbarschaft war eine Notgemeinschaft. Im vormodernen Dorf war die Not allgegenwärtig und die Dorfbewohner waren ihr gleichermaßen unterworfen. Folglich entwickelten sich auch dauerhafte und verbindliche Hilfsnetze. Heute in der Stadt sind Notsituationen die Ausnahme, sie begründen deshalb keine dauerhaften und verbindlichen Nachbarschaften. Trotzdem gibt es auch heute noch Notsituationen, in denen Nachbarn stärker miteinander kooperieren. Das war nach dem Krieg so und es ist nach Naturkatastrophen oder bei Feuer immer noch der Fall. Typische Situationen intensiverer Zusammenarbeit unter Nachbarn ergeben sich auch, wenn eine neu gebaute Siedlung besiedelt wird. In solchen „Pioniersituationen“ herrscht anfangs oft ein reges nachbarschaftliches Zusammenleben und -arbeiten. Ist aber die Pioniersituation überwunden, üblicherweise nach zwei Jahren, reduziert sich das anfänglich intensive Nachbarschaftsleben auf die Normalität einer freundlichen Distanziertheit (Oswald 1966, 145).
Auch jenseits von Ausnahmesituationen, im Alltag des heutigen Städters, kommt gegenseitige Hilfe unter Nachbarn vor. Aber der Kreis derer, deren Hilfen man in Anspruch nimmt, bleibt auf sehr wenige Nachbarn eingeschränkt, meist nicht mehr als vier oder fünf Haushalte. Und diese „Notnachbarn“ werden häufig gezielt ausgesucht. Keineswegs müssen es diejenigen sein, die direkt nebenan wohnen. Auch hier ist die soziale Nähe wichtiger als die räumliche. Die erbetenen Leistungen bleiben inhaltlich beschränkt auf kleine Aushilfen, man leiht sich etwas kurzfristig aus, passt gelegentlich auf die Kinder auf und hilft vorübergehend etwa bei Krankheit. Nachbarliche Hilfe ist Nothilfe, wer sie in Anspruch nimmt, tut dies kurzfristig und ausnahmsweise, nicht regelmäßig. Man achtet strikt darauf, dem Nachbarn nichts schuldig zu bleiben, die Hilfeleistung soll eine Ausnahme bleiben, aus der keine Verbindlichkeiten entstehen: Was man geliehen hat, gibt man so schnell wie möglich wieder zurück, manchmal wird die Hilfe sogar bezahlt, damit keine Verpflichtungen sich daraus ergeben können. Nachbarschaftshilfe hat im Wesentlichen Lückenbüßerfunktionen, bis die Verwandten oder Freunde einspringen können, deren Hilfe man grundsätzlich der von Nachbarn vorzieht. Man fürchtet die Folgen allzu großer Nähe zu den Nachbarn, eben weil man der Nachbarschaft nur mit großen Kosten wieder entrinnen kann. Nachbar ist heute nicht mehr so sehr der räumlich Nahe als der zeitlich Nahe, also derjenige, den man schnell erreichen kann und mit dem man durch verschiedene Gemeinsamkeiten sich verbunden fühlt.
Die Nachbarschaft hat also nicht für alle Stadtbewohner gleichermaßen an Bedeutung verloren. Menschen, die nur über geringe Kommunikations- und Mobilitätsmöglichkeiten verfügen, sind auf lokal gebundene soziale Netze stärker angewiesen. Aber heutige Nachbarschaftsgruppen sind typischerweise sehr klein, sie umfassen selten mehr als fünf bis acht Haushalte und sie sind von geringer Verbindlichkeit. Umfang und Intensität der nachbarlichen Kontakte hängen ab von der Stellung im Lebenszyklus – Familien mit kleinen Kindern sind stärker involviert als Haushalte nach dem Auszug der Kinder –, von der Fähigkeit zur Mobilität, von sozialer und kultureller Nähe, vom Alter und vom Einkommen – ein wohlhabender Haushalt besorgt sich seine Hilfen über den Markt, nicht von den Nachbarn. Nachbarschaft ist für Kinder, Alte, Behinderte, Hausfrauen, Allein-Erziehende und für Arme sehr viel wichtiger als für einen gutverdienenden, hochmobilen, unverheirateten Young Urban Professional.
Deshalb sind Versuche, Nachbarschaft zu planen, wenig erfolgreich geblieben.
Vor allem im Zuge der Stadterweiterungen durch große Wohnsiedlungen am Stadtrand war das Thema Nachbarschaft unter Stadtplanern aktuell. Die Planer hofften, im Konzept der Nachbarschaft als einer auf räumlicher Nähe beruhenden Gemeinschaft ein soziales Fundament für ihre Neubausiedlungen gefunden zu haben (Häußerman/Siebel 1994, 377f). Die ersten systematischen Versuche in diese Richtung wurden bei der Planung der New Towns in England gemacht. Aber diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt, aus den genannten Gründen, wobei zusätzlich auch die anonymisierende Architektur und die Größe dieser Einheiten eine Rolle gespielt haben (Glass 1948; Oswald 1966, 137).
Heute zielen vor allem sozialpolitische Strategien in Sanierungsgebieten darauf, informelle soziale Netze unter den Nachbarn zu stärken. Solche Ansätze sind wichtig für die Erneuerung von Problemquartieren, aber sie stoßen an enge Grenzen. Gerade in diesen Gebieten ist das soziale Kapital der Bewohner schwach: Arme können einander kaum mit Geld helfen, Arbeitslose verfügen selten über Informationen über Arbeitsmöglichkeiten, weil sie keinen Zugang zu Betrieben haben, und die Hoffnung, unter den problembeladenen Bewohnern könne sich eine tatkräftige Solidarität entwickeln, ist weitgehend Illusion. Die Bewohner haben unter sehr unterschiedlichen Problemen zu leiden, mit dementsprechend unterschiedlichen Interessen. Wenn sich trotzdem nachbarliche Hilfsnetze entwickeln lassen, so sind sie fragil und meist auf kontinuierliche Unterstützung von außerhalb angewiesen. Gerade ehrenamtliches Engagement erfordert Disziplin, Verantwortungsbereitschaft und Qualifikationen, Voraussetzungen, die in benachteiligten Quartieren nicht selbstverständlich sind.
Schließlich – und darauf wurde hier schon mehrfach hingewiesen – ist eine weit gehende soziale und kulturelle Homogenität gefordert, damit Nachbarschaft unter heutigen Bedingungen funktionieren kann. Man wird seine Kinder nicht Nachbarn zur Betreuung überlassen, wenn man nicht darauf vertrauen kann, dass sie ähnlichen Erziehungsprinzipien folgen wie man selber. Wo Nachbarschaften als soziales Beziehungsgeflecht dauerhaft funktionieren, findet man stets eine weitgehende Übereinstimmung in Lebensstil, normativen Orientierungen, Interessen und materieller Lage. Auch räumliche Arrangements können nachbarliche Kontakte fördern, sie dürfen nur keine Kontakte erzwingen. Das würde eher Bemühungen seitens der Bewohner hervorrufen, sich voneinander abzugrenzen. Gute Nachbarschaft setzt eine auch räumlich gesicherte private Sphäre voraus. Deshalb sind durch räumliche Arrangements erzwungene Kontakte der Nachbarschaft eher hinderlich. Damit sich eine der städtebaulichen Gestalt einer Siedlung entsprechende soziale Basis im Sinne eines ortsgebundenen sozialen Beziehungssystems (Nachbarschaft) entfalten kann, ist zweierlei notwendig: eine Abstufung von privaten, halb öffentlichen und öffentlichen Bereichen mit sorgfältig gestaltenden Übergangszonen und eine bis in Feinheiten der Lebensweise reichende soziale Homogenität (Vösgen 1989).
Soziale Homogenität allein garantiert noch keine Nachbarschaft. In bürgerlichen Villenvierteln lässt sich trotz hoher sozialer Homogenität ein Nachbarschaftsverhalten jenseits von Grußkontakten kaum nachweisen (Oswald, 144). Soziale Homogenität ist eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für funktionierende Nachbarschaften. Doch das stellt die Planer vor ein Dilemma. Stadtplaner haben immer versucht, in ein und derselben Siedlung Angehörige verschiedener sozialer Schichten unterzubringen. Soziale Mischung im Stadtquartier sollte die gesellschaftliche Integration fördern, diente also auf der Ebene der Gesellschaft demselben Ziel wie die Planung von Nachbarschaftssiedlungen, nämlich der Integration. Aber sozial heterogene Nachbarschaften funktionieren in den seltensten Fällen als gute Nachbarschaften, häufiger produzieren sie Konflikte. Soziale Mischung im Stadtquartier, um die Integration der Gesellschaft zu stärken, steht im Widerspruch zum Ziel funktionierender Nachbarschaft auf Basis sozialer Homogenität, um das Individuum sozial zu integrieren. Das wird besonders deutlich bei der Frage, wie Integration von Zuwanderern durch Quartierspolitik gefördert werden kann.
III Segregation, Nachbarschaft und die Integration der Zuwanderer
Über die Rolle des Stadtquartiers und nachbarlicher Beziehungen bei der Integration von Zuwanderern wird seit geraumer Zeit heftig gestritten. Dabei dominiert die Auffassung, Segregation, d.h. die Konzentration von Migranten in bestimmten Quartieren der Stadt, würde ihre Integration in die deutsche Gesellschaft behindern. Diese Argumentation kann sich auf die sogenannte Kontakthypothese berufen: räumliche Nähe erleichtere Kontakte, Kontakte förderten das Wissen übereinander, Wissen führe zum Abbau von Vorurteilen, also fördere soziale Mischung von Deutschen und Zugewanderten im Stadtteil die Integration, Segregation dagegen würde sie behindern. Doch die sogenannte Konflikthypothese behauptet mit gleicher Plausibilität das exakte Gegenteil: Danach führt das dichte Nebeneinander von Menschen mit unterschiedlichen Lebensweisen und Zeitstrukturen, unterschiedlichen Sauberkeitsstandards und Lärmtoleranzen, verschiedenen Auffassungen von der Rolle der Frau, von Kindererziehung und Nachbarschaft zu vielfältigen Konflikten, und Konflikte erschweren die Integration. Normalerweise sucht man solchen Unannehmlichkeiten im Wortsinne aus dem Wege zu gehen, indem man in eine Nachbarschaft von Seinesgleichen umzieht: das Phänomen der freiwilligen Segregation. Nach der Konflikthypothese behindert soziale Mischung die Integration.
Diese Diskussion ist alt und dass sie in einem derart unbefriedigenden Patt endet, hat vornehmlich zwei Gründe: Einmal wird zu wenig differenziert. Die japanische Kolonie in Düsseldorf macht anscheinend keine großen Probleme, die türkische in Neukölln dagegen schon. Zum andern resultiert die Pattsituation in der Diskussion um das Für und Wider von Segregation auf einer Überschätzung räumlicher Faktoren bei der Erklärung sozialer Phänomene. Natürlich muss man sich physisch nahe kommen, wenn man sich umarmen oder prügeln will. Aber die bloße Tatsache der räumlichen Nähe erlaubt keine Prognose, ob Umarmung oder Prügelei das Ergebnis sein wird. Das hängt allein ab von den sozialen Umständen der Begegnung. Einfach gesagt: wenn man sich liebt, wird man sich umarmen, ist das Gegenteil der Fall, wird man sich die Nasen einschlagen. Räumliche Nähe erklärt keine sozialen Beziehungen. Entscheidend ist, welche Deutschen mit welchen Zuwanderern in was für einem Stadtteil zusammen wohnen. Wohlsituierte Akademiker mit grün-alternativen Neigungen dürften den Migranten eher mit neugieriger Toleranz und Offenheit begegnen als die deutschen Verlierer des ökonomischen Strukturwandels. Letztere aber sind es meist, die aufgrund der Mechanismen des Wohnungsmarkts und der Belebungspolitik mancher Eigentümer in Nachbarschaft zu den noch nicht integrierten Zuwanderern leben. Verlierer sind selten in der Lage oder auch nur willens, tolerant mit Fremden umzugehen. Im Gegenteil, sie suchen Sündenböcke, und in den Zuwanderern finden sie willkommene Objekte für ihre Projektionen. Wenn diese erzwungenen Nachbarschaften sich dann noch in einer heruntergekommenen städtischen Umwelt ergeben, die ihren Bewohnern tagtäglich vor Augen führt, dass sie am Rand der Gesellschaft angekommen sind, dann wäre es ein Wunder, wenn dies Orte gelingender Integration sein könnten. In der Regel werden es Orte heftiger, aggressiver, gegenseitiger Abgrenzung sein.
Segregation ist eine unvermeidbare und eine notwendige Stufe im Prozess der Integration. Indem die segregierte Stadt verschiedene Gruppen in verschiedene Wohngebiete sortiert, übersetzt sie soziale und kulturelle Distanzen in räumliche Distanz und entschärft so die Konflikte zwischen den Gruppen. Segregation ist ein Phänomen aller Einwanderungsstädte: die Stadt als Mosaik kleiner Lebenswelten, die einander berühren, aber nicht sich durchmischen, Little Italy, China Town, Little Germany. Einwanderungsstädte brauchen Einwanderungsquartiere aber nicht nur, um den Konflikten zwischen Einheimischen und Zugewanderten etwas von ihrer Schärfe zu nehmen, sondern auch, weil Einwanderungsquartiere und ethnische Kolonien positive Funktionen im Prozess der Integration erfüllen können. Freiwillige Segregation hat wichtige Vorteile gerade für neu Zugewanderte. Die räumlich getrennten kleinen Welten, in denen sich die verschiedenen Einwanderergruppen konzentrieren, bilden Puffer zwischen dem eingewanderten Individuum und der Aufnahmegesellschaft, Brückenköpfe vertrauter Heimat in der Fremde, in denen der Schock der Migration gemildert wird. Zuwanderer, die noch nicht in Markt und sozialstaatliche Netze integriert sind, sind besonders auf informelle Hilfsnetze angewiesen, und solche Netze bilden sich in der Regel leichter unter Menschen ähnlicher sozialer Lage und mit ähnlichen Orientierungen. Sie finden in den ethnischen Kolonien erste Informationen über die neue, noch fremde Umgebung, materielle Hilfen, Schutz vor Isolation, oder auch nur Menschen, die dieselbe Sprache sprechen und mit denen sie sich deshalb ungehemmt verständigen können. Die Stadt als Mosaik verschiedener Lebenswelten bietet jene Räume des Übergangs, die unumgänglich sind für gelingende Integration.
Allerdings sind segregierte Milieus immer auch in Gefahr, zu Fallen zu werden. Je größer die soziale Gruppe, je mehr sie aus den Systemen Bildung, Markt, Politik und aus den Konsumgütermärkten ausgegrenzt wird, je leichter der Zugang zu Massenmedien ihres Herkunftslandes, desto höher ist die Gefahr des Rückzugs in eine enge und repressive eigene Welt. Wenn die räumliche Segregation einer ethnischen Gruppe sich mit Diskriminierung, Arbeitslosigkeit und politischer Rechtlosigkeit überlagert, dann ist es nicht verwunderlich, wenn die Betroffenen darauf mit Rückzug in eine eigene, enge und abgeschottete Welt reagieren, was wiederum ihre Chancen auf Erfolg in den Systemen der Aufnahmegesellschaft behindert. Am Ende eines solchen Prozesses negativer Wechselwirkungen stünde dauerhafte Ausgrenzung.
Doch bislang ist die Rede von Ghettos oder Parallelgesellschaften in Deutschland keineswegs gerechtfertigt. Das ist immer noch eine theoretisch und empirisch unbegründete und eine obendrein gefährliche Dramatisierung: Unbegründet, denn in der international vergleichenden Forschung wird von einem ethnisch geprägten Viertel erst dann gesprochen, wenn der Anteil einer Ethnie an der Bevölkerung mindestens 40% beträgt. Das ist in keiner deutschen Stadt der Fall. Nach der Studie von Söhn und Schönwälder (2007) erreicht die größte ethnische Gruppen, die der Türken, nur in insgesamt 11 von 1810 untersuchten Stadtvierteln mehr als 20% der Bevölkerung. Normalität sind in Deutschland ethnisch gemischte Viertel mit einer deutschen Mehrheit. Wo die Migranten die Mehrheit bilden, was selten der Fall ist, handelt es sich um ethnisch gemischte Viertel.
Die Rede von Ghettos ist obendrein eine gefährliche Dramatisierung, denn solche Etiketten bleiben nicht folgenlos: die deutsche Mittelschicht und die erfolgreichen Migranten ziehen aus derart stigmatisierten Vierteln fort. In der Folge steigt in den örtlichen Schulen der Anteil von Kindern aus bildungsfernen Familien, die Kaufkraft geht zurück, das Güter- und Dienstleistungsangebot wird eingeschränkt, die Banken werden zurückhaltend bei der Kreditvergabe, Modernisierung und Instandhaltung werden unterlassen, das Gebiet verkommt auch äußerlich. All das veranlasst weitere Haushalte fortzuziehen, sofern sie sich Mobilität leisten können. Solche Prozesse verlaufen bei entspannten Wohnungsmärkten sehr schnell, sie vollziehen sich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle kommunaler Verwaltungen und sie sind kaum steuerbar, weil sie auf den freiwilligen Entscheidungen privater Haushalte beruhen. Das Ergebnis solch passiver Segregation sind erzwungene Nachbarschaften der deutschen Verlierer mit den nicht integrierten Zuwanderern, eine höchst konfliktträchtige Mischung.
Allerdings ist die Differenzierung zwischen freiwilliger und erzwungener Segregation nur analytisch leicht. In der Praxis überlagern sich die Elemente freiwilliger und erzwungener Segregation. Das aber rechtfertigt keineswegs, nun durch Stadt- und Wohnungspolitik jede Form der Segregation zu verhindern. Erzwungene Desegregation ist ebenso wenig integrationsfördernd wie erzwungene Segregation, da sie den Aufbau der informellen Netze behindert, auf die gerade neu Zugewanderte besonders angewiesen sind. Zuwanderung verlangt daher von der Stadtpolitik eine Wanderung auf schmalem Grat: freiwillige Segregation in ethnisch geprägten Nachbarschaften muss ermöglicht werden, z.B. durch Erweiterung der Optionen von Zuwanderern auf dem Wohnungsmarkt, und erzwungene Segregation muss verhindert werden, z.B. durch Antidiskriminierungsmaßnahmen und Sicherung erschwinglichen Wohnraums; Einwandererquartiere müssen als Dauerinstitution der Stadt anerkannt werden, und zugleich muss alles daran gesetzt werden, dass sie nicht zu Fallen werden, aus denen die Zuwanderer keinen Weg mehr in die Aufnahmegesellschaft finden.
IV Die Zukunft von Nachbarschaft
Bislang war die Rede von freiwilliger Segregation als Basis funktionierender Nachbarschaft, von der ambivalenten Rolle ethnischer Kolonien, von Nachbarschaft als Lückenbüßer und als Aktionsraum für jene, die wie Arme, Alte und Kinder keine Alternativen haben. Es lassen sich aber drei Gruppen benennen, die größeres Interesse an intensiveren Nachbarschaftsbeziehungen haben, als sie die oben geschilderten höflich-distanzierten Formen nachbarlichen Verhaltens gewähren.
Schon in den siebziger und achtziger Jahren hatte es eine Welle von Wohnprojekten gegeben, in denen junge, berufstätige Eltern aus der Mittelschicht haushaltsübergreifende, nachbarliche Hilfsnetze organisierten, um Beruf, Kinder und Haushalt besser vereinbaren zu können. Auffällig an diesen inszenierten Nachbarschaften war ihre außerordentlich hohe soziale und kulturelle Homogenität. Das hatte gute Gründe: Je mehr man seinen Alltag mit anderen gemeinsam organisiert, desto wichtiger wird, dass die Nachbarn einander in ihrer sozialen Lage, ihren Interessen, Lebensstilen, normativen Orientierungen und Verhaltensweisen gleichen. Wer sein Kind in die Obhut von Nachbarn gibt, der will sicher sein, dass es dort genauso behandelt wird wie zuhause, und wer mit anderen ein Stadtauto teilt, der erwartet, es im selben Zustand vorzufinden, wie er es hinterlassen hatte. Nachbarschaftliche Hilfsnetze funktionieren auf der Basis einer sehr feinkörnigen sozialen Segregation (vgl. Schneider 1992).
Der Wunsch nach einem kontrollierbaren, sozial und kulturell homogenen Umfeld erstreckt sich auch auf den öffentlichen Raum, die Kindergärten und die Schulen. Dieser Wunsch wurde bisher in Suburbia realisiert. Heute werden sozial hoch selektive Nachbarschaften nicht mehr nur im Umland gesucht, sondern auch in den Kernstädten. Susanne Frank (2013, 74) spricht deshalb von »innerer Suburbanisierung«. Junge Mittelschichtsfamilien drängen in die Innenstädte, um dort die »Familienenklaven« zu schaffen, die ihre Eltern noch in Suburbia gefunden hatten. Aber sie suchen dort auch etwas, was in Suburbia nicht mehr zu finden ist: die Vereinbarkeit von Karriere und Familie und Schutz vor sozialem Abstieg. Man muss dicht vor Ort sein, wo die Informationen kursieren, wo man die richtigen Leute treffen kann; man muss sich in möglichst viele Netze einbinden, seine Kontakte pflegen, immer auf dem Laufenden sein und jederzeit zur Verfügung stehen, wenn sich irgendwo eine Chance eröffnet. Innere Suburbanisierung bietet beides: das warme Nest in einer abgeschotteten Nachbarschaft mit seinesgleichen und die Einbindung in die vielfältigen Kontakte und Informationen, die Erlebnis- und Konsummöglichkeiten der Stadt drum herum. Man ist draußen und hat die Stadt doch ganz nah. Die inszenierten Nachbarschaften innerhalb der Stadt sollen die Quadratur des Kreises ermöglichen: Sicherheit in Zeiten wachsender Verunsicherungen auch für die Mittelschicht, die Hilfen der Stadtmaschine und der informellen Netze der Nachbarschaft bei der Bewältigung des Alltags und die Anregungen und Verlockungen der Urbanität.
Diese neuen, inszenierten Nachbarschaften junger Familien sind ein Beispiel für gewolltes Nahe-Beieinander-Wohnen von Menschen ähnlicher Lebenslagen und Interessen. Ein vergleichbares Phänomen findet sich in den bereits erwähnten Kolonien der Zuwanderer. Auch in deren Quartieren bilden sich häufig engere nachbarliche Kontaktnetze. Dahinter verbergen sich oftmals Verwandtschaftssysteme, die sich über räumliche Nähe zu festigen suchen, es kann sich aber auch um importierte Nachbarschaften handeln, wenn Angehörige desselben Dorfes im Herkunftsland sich in der Fremde wieder als Nachbarn niederlassen. Zuwanderer ziehen möglichst dorthin, wo sie Verwandte oder Bekannte finden, das Phänomen der „Kettenwanderung“.
Neben dem Wunsch von Frauen, Beruf und Familie besser zu vereinbaren, und neben der besonderen Angewiesenheit von Zuwanderern auf ethnisch gestützte Nachbarschaften wird auch die Alterung der Bevölkerung die Bedeutung von Nachbarschaften stärken. Als Alter gilt in unserer Gesellschaft die Zeit nach der Berufstätigkeit. Diese sozial definierte Phase des Alters dauert heutzutage aufgrund der längeren Lebenszeit zwischen 20 und 30 Jahre. Es ist eine im historischen Vergleich einmalig lange Zeit des Alters und sie wird zu drei Vierteln der wachen Zeit in der eigenen Wohnung und der näheren Wohnumgebung verbracht, weil der Hauptgrund, das Wohnquartier zu verlassen, die Berufstätigkeit, fortgefallen ist, später dann auch aufgrund eingeschränkter Mobilität. Dabei dominiert ein Wunsch: in der eigenen Wohnung in der gewohnten Umgebung und in der vertrauten Nachbarschaft alt zu werden. Der demographische Wandel wird deshalb die Bedeutung des Wohnquartiers und der Nachbarschaft enorm verstärken.
Das Alter lässt sich nach dem Grad der Autonomie in drei Phasen unterteilen: das autonome, das unterstützungsbedürftige und das abhängige Alter. Mit jeder dieser Phasen steigt die Angewiesenheit auf Hilfen. Viele Hilfen lassen sich über Markt und Staat in Gestalt professioneller Dienstleistungen gewährleisten, also unabhängig von den informellen Netzen der Nachbarschaft. Eines aber lässt sich nicht professionalisieren und gegen Geld verfügbar machen, und dabei handelt es sich gerade um das, was alte Menschen am dringendsten benötigen: Achtung der Person, Vertrauen und Liebe. Das sind Qualitäten menschlicher Beziehungen, die gebunden bleiben an die informellen Netze der Verwandtschaft, der Freundschaft und der Nachbarschaft. Das leistungsfähigste dieser Drei, das Verwandtschaftssystem, wird aber durch den demographischen Wandel und die Veränderungen der Lebensweisen geschwächt: das Einzelkind zweier Einzelkinder hat nach dem Tod seiner Eltern keinerlei direkte Verwandte. Ähnliches gilt für den lebenslangen Single und die kinderlose Witwe. Für sie alle steht das Verwandtschaftssystem nicht mehr oder nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Also bleiben nur Freundschaft und Nachbarschaft, beides Systeme, die über lange Zeiträume aufgebaut sein müssen, um sich als verlässliche Netze eines humanen Alters bewähren zu können.
Zuwanderer sind einander wichtige Nachbarn. Typisch für alle Einwanderungsstädte ist deshalb ein Mosaik „urbaner Dörfer“, in denen Einwanderer Übergangsräume zwischen Heimat und fremder Gesellschaft finden können. Der demographische Wandel kann dazu beitragen, dass Menschen wieder mehr und schon sehr früh in das soziale Kapital einer funktionierenden Nachbarschaft investieren, ähnlich wie das in den Projekten gemeinsamen Wohnens junger Familien der Fall ist. Nachbarschaft verschwindet keineswegs, aber sie nimmt neue Formen an. Früher war Nachbarschaft Schicksal, heute ist sie wählbar, früher war Nachbarschaft eine räumliche Tatsache, die sich sozial organisiert, heute ist sie eine soziale Tatsache, die sich räumlich organisiert.
Anmerkung
Dieser Beitrag ist die überarbeitete und erheblich erweiterte Fassung des Artikels: Walter Siebel: Ist Nachbarschaft heute noch möglich?, in: Daniel Arnold (Hg.): Nachbarschaft, Köln: Callwey 2009, S. 7-13.
Verwendete Literatur
Blokland, Talja (2003): Urban Bonds, Cambridge: Polity Press.
Glass, Ruth (1948): The social background of a plan: A study of Middlesborough, London.
Frank, Susanne (2013): Innere Suburbanisierung? Mittelschichteltern in den neuen innerstädtischen Familienenklaven, in: Kronauer, Martin, und Siebel, Walter (Hg): Polarisierte Städte, Frankfurt/M: Campus, S. 69-89.
Hamm, Bernd (1973): Betrifft: Nachbarschaft, Düsseldorf.
Häußermann, Hartmut und Walter Siebel (1994): Gemeinde- und Stadtsoziologie, in: Kerber, Harald und Arnold Schmieder (Hg.): Spezielle Soziologien, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt, S. 363-387.
Jessen, Johann; Siebel, Walter et al. (1988): Arbeit nach der Arbeit, Opladen: Westdeutscher Verlag.
Klages, Helmut (1958): Der Nachbarschaftsgedanke und die nachbarliche Wirklichkeit, Köln/Opladen.
Kluge, Friedrich (1995): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York: de Gruyter.
Oswald, Hans (1966): Die überschätzte Stadt, Olten/Freiburg: Walter.
Schneider, Ulrike (1992): Neues Wohnen – alte Rollen? Pfaffenweiler: Centaurus.
Söhn, Janina / Schönwälder, Karen (2007): Siedlungsstrukturen von Migranten und Migrantinnen in Deutschland, in: Verbundpartner „Zuwanderer in der Stadt“ (Hg.): Handlungsfeld: Stadträumliche Integrationspolitik. Ergebnisse der Projekts „Zuwanderer in der Stadt“. Darmstadt 2007: Schader Stiftung u. a., S. 73-91.
Vösgen, Hermann (1989): Stunden der Nähe – Tage der Distanz, in: Joachim Brech (Hg.): Neue Wohnformen in Europa, Darmstadt: Verlag für Wiss. Publ., S. 94-107.
© Walter Siebel
Walter Siebel ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Stadt- und Regionalforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sowie im Beirat des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen.
Wiederabdruck aus Fiph-Journal 26 (Oktober 2015), S. 11-17.
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