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Schwerpunktbeitrag: Philosophie im subsaharischen Afrika

Veröffentlicht am 28. März 2016

Graneß_Anke

Anke Graneß

Afrika ist der zweitgrößte Kontinent der Erde. Seine kulturelle, ethnische, sprachliche und religiöse Pluralität sucht ihresgleichen. Neben den beiden großen Religionen Islam und Christentum gibt es eine Vielzahl an traditionellen Religionen und damit verbundenen Wert- und Normvorstellungen. Diese (oft vergessenen) Fakten sollen verdeutlichen, dass wir, wenn wir uns dieser Region zuwenden, eine sehr große Pluralität an philosophischen Traditionen erwarten sollten – und nicht eine einzige, unwandelbare afrikanische Philosophie.

Philosophie im subsaharischen Afrika wird heute häufig wie folgt systematisiert: a) chronologisch, b) mittels einer Unterteilung in die drei großen kolonialen Sprachgebiete: anglophone, frankophone und portugiesischsprachige Gebiete, c) durch sechs Strömungen der Gegenwartsphilosophie, nämlich  professionelle Philosophie, Ethnophilosophie, national-ideologische Philosophie (afrikanischer Sozialismus), Weisheitsphilosophie, hermeneutische Philosophie, literarische Philosophie (vgl. Odera Oruka Trends in Contemporary African Philosophy und Sage Philosophy, beide 1990), d) durch eine Einteilung nach Themen (z.B. Geschichte der Philosophie, Logik und Epistemologie, Religionsphilosophie, Ethik, Ästhetik etc. (vgl. Wiredu: A Companion to African Philosophy).

Eine Besonderheit der subsaharischen Region ist, dass es in einigen Teilen über Jahrhunderte kaum Aufzeichnungen oder andere materielle Relikte gibt, die uns gewöhnlich zur Re-Konstruktion von Geschichte und Traditionen dienen, sondern dass eine orale Traditionsvermittlung üblich war. Philosophen/innen aus Afrika können somit nicht auf eine jahrtausendealte, gut dokumentierte Philosophiegeschichte zurückgreifen, wie in Europa, Arabien oder Asien. Ein Standardwerk zur Philosophiegeschichte Afrikas steht noch aus.

Der Beginn der Philosophie in Afrika wird von einigen Autoren bereits sehr früh angesetzt, nämlich im alten Ägypten. Als erste Philosophen gelten dann Imhotep (ca. 2700 v. Chr.) oder Ptahhotep (ca. 2388-2356 v. Chr., Verfasser von insgesamt 37 Lebensmaximen, die als die älteste vollständig erhaltene Weisheitslehre betrachtet werden). Über einige frühchristliche Denker im Norden Afrikas lassen sich schriftliche Spuren weiter verfolgen bis ins alte Äthiopien, wo durch das koptische Christentum (seit ca. 340 unserer Zeitrechnung) Dokumente erhalten geblieben sind.

Nicht vergessen darf man zudem die arabisch-islamische Philosophie. Der Islam ist seit dem 11. Jahrhundert ein integraler Bestandteil der Kultur und politischen Organisation, sowohl in West-, als auch in Ostafrika. Oft wird „Schwarzafrika“ allerdings als ein von traditionellen animistischen Religionen und kleinen Dorfgemeinschaften mit einem geringen Grad an sozialer Organisation geprägter Kontinent dargestellt, der über keine Schriftkultur verfügt habe. Dieses Bild ist das Ergebnis eines verfälschenden Prozesses der Enthistorisierung, Entpolitisierung und Entislamisierung. Einige Manuskripte in den Bibliotheken Timbuktus gehören genauso zur Geschichte der Philosophie im subsaharischen Afrika wie der islamische Gelehrte Ahmad Baba (1556-1627) oder die Swahili-Gelehrten an der Ostküste Afrikas. Eine heute noch wenig analysierte Quelle bildet die sogenannte Ajami-Literatur, eine Verschriftlichung afrikanischer Sprachen wie Wolof oder Haussa auf der Grundlage des arabischen Alphabets noch vor der europäischen Kolonisierung.

Die vollständige Kolonisierung des afrikanischen Kontinents im 19. Jahrhundert führte zu einem Bruch in der selbstbestimmten Entwicklung des Denkens. Kolonialismus bedeutet das Infragestellen, die Beeinträchtigung oder gar Zerstörung historisch gewachsener kultureller und religiöser Werte, Regeln, Institutionen und Traditionen durch das Kappen der sozialen Wurzeln einer Kultur sowie den Versuch des Kolonisators, dem Unterworfenen seine eigenen, als höherwertig betrachteten, kulturellen Errungenschaften aufzuzwingen. Die Abwertung des Kolonisierten und das Postulat, dass einzig der Kolonisator im Besitz der „Norm der Geschichte“ sei, sind notwendige Komponenten jeder Kolonisation. Auf die kulturelle und psychologische Dimension der Kolonisierung hat Frantz Fanon (1925-1961) in seinen brillanten Analysen aus der Perspektive der Unterdrückten früh hingewiesen. Fanons Werke gehören mit zum Ausgangspunkt der modernen afrikanischen Philosophien.

Das Aufzwingen der Sprache des Kolonisators, die Abwertung der eigenen Kultur, das Verwehren der Anerkennung als ebenbürtige Mitmenschen, das Heranziehen sogenannter „wissenschaftlicher“ Beweise rassischer Minderwertigkeit (in diesem Zusammenhang haben auch Kant, z.B. mit seiner Physischen Geografie, und Hegel mit seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte eine unrühmliche Rolle gespielt) – all dies sind Erfahrungen, die zum Ausgangspunkt der Philosophie im Afrika des 20. Jahrhunderts wurden. Ein Ansetzen jenseits dieser Themen war schlicht unmöglich, denn die umrissene Problemlage prägte die Lebenswelt der Philosophen/innen grundlegend. So ist es nicht verwunderlich, dass in der nachkolonialen Phase zunächst Fragen der Selbstvergewisserung im Zentrum standen, und zwar vor allem die Frage „Was ist afrikanische Philosophie?“ bzw. „Was ist das Afrikanische an der afrikanischen Philosophie?“, die bis in die 1990er Jahre hinein von zentraler Bedeutung war und die Auseinandersetzung zwischen Ethnophilosophen und professionellen Philosophen bestimmte. Ethnophilosophie – ebenso die ältere philosophisch-literarische Strömung der Négritude – ist dadurch gekennzeichnet, dass sie dem Vorurteil, philosophisches Denken sei im traditionellen Afrika nicht möglich gewesen, die These von der völligen Andersartigkeit „afrikanischen Denkens“ entgegensetzt. Diese These hat ihren Ursprung auch im Buch des belgischen Missionars Placide Tempels La philosophie bantou (1945). Während es seit Kant und Hegel üblich geworden war, Afrikanern die Fähigkeit zum Philosophieren rundweg abzusprechen, behauptete Tempels explizit, dass Afrikaner im Besitz einer Philosophie seien, die er anhand von sprachlichen Strukturen und Sprichwörtern zu rekonstruieren suchte. Allerdings stellt er fest, dass die Philosophie der Bantu nicht von sich aus zur Sprache komme, sondern dazu des Zusammentreffens mit der europäischen Philosophie bedürfe. Paradoxerweise wurde Tempels’ Ansatz trotz dieser paternalistischen Implikationen zum Ausgangspunkt vieler Versuche, afrikanische Philosophie anhand von traditionellen Denksystemen, Religionen, sprachlichen Besonderheiten oder Sprichwörtern zu rekonstruieren (vgl. etwa Alexis Kagamé, John S. Mbiti). Die so entworfenen „Philosophien“ der Bantu oder Dogon sind grundsätzlich eine Art kollektiver Philosophie. Die „wesenhafte Andersartigkeit“ des Afrikaners wird dabei oft auf einer ontologischen Ebene fixiert und afrikanische Philosophie an ein bestimmtes „Wesen“ des Afrikaners und der „afrikanischen Vernunft“ gebunden.

Dieser Ansatz wurde von den sogenannten professionellen Philosophen grundsätzlich in Frage gestellt. Dieser Strömung werden jene Denker zugeordnet, die den universalen Charakter der Philosophie, insbesondere die Universalität der philosophischen Methode, die sich durch kritische Reflexion und logische Argumentation auszeichne, betonen und ihre Kontextabhängigkeit als untergeordnet betrachten. Zu den wichtigsten Vertretern gehören Marcien Towa (Kamerun), Peter Bodunrin (Nigeria), Paulin Hountondji (Benin), Kwasi Wiredu (Ghana) und Odera Oruka (Kenia). Sie  weisen darauf hin, dass Ethnophilosophen den europäisch-eindimensionalen Blick auf den afrikanischen Kontinent unkritisch übernehmen und zur Betrachtungsnorm erheben. Sie kritisieren die Ethnophilosophie als Ethnologie, die bei einer unkritischen Beschreibung von Weltanschauungen stehen bleibe. Philosophie sei jedoch mehr als Weltanschauung und immer an Individuen gebunden. Aus diesem Grund stehen im Zentrum der Weisheitsphilosophie von Odera Oruka Interviews mit einzelnen Denkern aus traditionellen Gemeinschaften.

Zudem sei Ethnophilosophie rückwärtsgewandt. Sie zementiere überkommene vorkoloniale Vorstellungen und Denkarten, ohne sie einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Zu bezweifeln sei auch die Richtigkeit der Beschreibungen vorkolonialer Werte und Denktraditionen. Schließlich wird darauf verwiesen, dass Konzepte, die die Weltanschauung, Religion oder moralischen Vorstellungen eines Volkes oder einer bestimmten Volksgruppe innerhalb der sehr heterogenen afrikanischen Nationen zu der afrikanischen Norm erheben, sich leicht politisch und ideologisch missbrauchen lassen, um Vetternwirtschaft und selbst Diktaturen als „afrikanische Form der Demokratie“ zu tarnen. Insofern könne diese Art des Philosophierens keine Wege zur Veränderung bestehender Verhältnisse aufzeigen. Dies sei aber die wichtigste Aufgabe der Philosophie, betont Odera Oruka.

Im Gegenzug wurde den professionellen Philosophen von den Vertretern der Ethnophilosophie  eine „Verwestlichung“ ihres Denkens unterstellt. Ihnen wurde vorgeworfen, einem europäischen Wissenschaftsideal nachzueifern, das an Rationalität und Schriftlichkeit gebunden sei und die oralen Traditionen ausschließe. Dreh- und Angelpunkt dieser Debatte war letztlich die Frage nach der Universalität von Philosophie einerseits und der Art und Weise ihrer kulturellen Gebundenheit andererseits.

Ein Hauptproblem der modernen afrikanischen Philosophie ergibt sich bereits aus der Bildungsgeschichte der einzelnen Philosophen/innen selbst: Bis weit in die 1960er Jahre wurden alle akademischen Philosophen/innen an europäischen oder amerikanischen Universitäten ausgebildet. Die Gründung eigener Philosophiedepartments erfolgte zuerst an der Universität Addis Ababa (Äthiopien) im Jahr 1961, an der Universität Lagos (Nigeria) 1966, an den meisten anderen Universitäten jedoch erst in den 1980er Jahren. Zuvor war ein Studium der Philosophie im subsaharischen Afrika selbst, insbesondere die Promotion im Fach, schlicht nicht möglich. Alle Universitäten im subsaharischen Afrika sind an westlichen Bildungssystemen orientiert und lehren in den ehemaligen Kolonialsprachen. Die Lehrpläne sind oft ein Spiegelbild der euro-amerikanischen akademischen Philosophie – ein Umstand, der oft kritisch reflektiert wird.

Der kongolesische Philosoph Valentin Y. Mudimbe konstatiert in seinem Buch The Invention of Africa (1988), dass die Aufzeichnung und Auswertung des oralen Erbes zunächst durch Missionare und westliche Ethnologen erfolgte, deren Arbeiten noch heute oft als „Primärquellen“ benutzt werden. So können afrikanische Traditionen aber nur gebrochen durch einen westlichen Blick und eine westliche Begrifflichkeit übermittelt werden. Die Rekonstruktion vorkolonialer Traditionen müsse den „epistemischen Bruch“, in dem sich die heute arbeitenden Wissenschaftler/innen befinden, daher zumindest mit reflektieren und den perspektivisch bedingten Konstruktionscharakter einer solchen Re-konstruktion deutlich machen. Mudimbe fordert, dass afrikanische Intellektuelle aus dem Schatten des Westens heraustreten müssen, um ihre eigenen Wissensstrukturen, ihre eigenen erkenntnistheoretischen Strukturen und Werte zu erforschen und zur Grundlage ihrer Selbstrepräsentation zu machen.

Diesen Weg geht auch der ghanaische Philosoph Kwasi Wiredu, der eine begriffliche Dekolonisierung (conceptual decolonization) fordert. Die aufgezwungenen Strukturen (insbesondere die Sprache) führen dazu, dass die Wahrnehmung der Welt durch eine fremde kulturelle Perspektive geprägt werde. Sprachen sind Träger besonderer grammatikalischer, aber auch epistemologischer Strukturen, die die Wahrnehmung vorstrukturieren. Anhand seiner Muttersprache Twi zeigt Wiredu, dass diese bestimmte Vorstellungen enthält, die sich z.B. ins Englische nicht oder nur vermittels weitreichender Umschreibungen übersetzen lassen – und umgekehrt. Das Descartsche „Ich denke, also bin ich“ ergibt z.B. im Twi keinen Sinn, denn das Verb „sein“ kann hier grammatikalisch nicht alleine stehen, sondern muss einem Ort zugeordnet werden oder einem Adjektiv. Im Twi würde der Satz zwangsläufig die Frage aufwerfen: „Was bin ich? Wo bin ich?“ – und damit den Descartschen Bedeutungsgehalt verlieren. Aus diesem Grund ruft auch Wiredu afrikanische Philosophen/innen auf, grundlegende philosophische Begriffe wie Sein, Wahrheit oder Gott in ihren eigenen Sprachen zu durchdenken.

Dem folgt die nigerianische feministische Theoretikerin Oyeronke Oyewumi. In ihrem Buch The Invention of Women (1997) beschreibt sie die Gefahr des Bedeutungsverlustes beim Übersetzen von Konzepten und die Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Frau in der Gesellschaft der Yoruba. Sie vertritt die These, dass Genderbestimmungen typisch westliche Diskurse sind. Im Yoruba, ihrer Muttersprache, gebe es keine geschlechtsspezifischen Kategorien. Hier ist nicht der Körper die Grundlage sozialer Rollen und Kategorien, sondern die Hierarchie des Alters. Durch die Übersetzung geschlechtsneutraler Kategorien aus dem Yoruba mit dem englischen „he“ wurde oft die Vorstellung vermittelt, dass die Götterwelt der Yoruba männlich dominiert oder Hexen ausschließlich weiblich seien. Dies verzerre nicht nur die Kosmologie und die vorliegenden Textgrundlagen der Oyo Yoruba, sondern auch den Blick auf die soziale Rolle der Frauen.

Aufgrund der Vorarbeiten der genannten Denker/innen hat sich eine sehr eigenständige philosophische Tradition konstituiert, in deren Fokus die Vermittlung zwischen eigenen Strukturen und der Dynamik der Globalisierung steht. Konzepte zur Dekolonisierung des Bewusstseins gehören heute zu den fruchtbarsten Ansätzen afrikanischer Philosophen/innen – gerade auch hinsichtlich interkultureller Anknüpfungspunkte. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Beiträge zur Postkolonialismustheorie (Achille Mbembe), zur Umweltethik (Workineh Kelbessa), zur Frage nach einer afrikanischen Moderne (Kwame Gyekye, Olufemi Taiwo) und nicht zuletzt der afrikanische Feminismus (Oyewumi, Nkiru Nzegwu), der hierzulande noch weitgehend unbekannt ist.

Lesetipp:
Anke Graneß: Das menschliche Minimum. Globale Gerechtigkeit aus afrikanischer Sicht: Henry Odera Oruka, Frankfurt a.M.: Campus 2011.

(c) Anke Graneß

Anke Graneß ist promovierte Philosophin, Lektorin an der Universität Wien und leitet die Redaktion der Zeitschrift „Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren“.

Erstveröffentlichung des Beitrags in: fiph-Journal, 21 (April 2013), S. 6-7.

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