Neueren Erforschungen des Zusammenhangs von Sprache und Gewalt zufolge ist letztere so sehr in der Sprache selbst derer heimisch geworden, die im Zeichen des Guten „eines Sinnes“ zu sein behaupten, dass man sich kaum mehr menschliche Lebensformen vorzustellen vermag, die von dieser Last gänzlich befreit wären. Allenfalls um den Preis erneuter Gewalt, im Zuge einer gewaltsamen Reinigung der Sprache, wäre die Gewalt (wenn überhaupt) aus ihr zu vertreiben. Aber muss man sich, wenn man mit einer solchen „Endlösung“ nicht liebäugeln mag, darum unvermeidlich mit der Gewalt resignativ, zynisch oder defätistisch abfinden, die selbst wohlmeinendster, angeblich herrschaftsfrei und gewaltlos vonstatten gehender Verständigung inhärent zu sein scheint? Gewiss entkommt man der Gewalt jedenfalls nicht schon dadurch, dass man sich auf ein sittliches Ethos oder auf eine Gemeinschaft im Guten beruft, die möglichst gewaltlos, nämlich auf dem Wege der gegenseitigen Verständigung, geeinigt werden soll, wo sie sich nicht schon als einig erweist. Politische Lebensformen verstricken sich selbst dann, wenn sie ein Ethos stiften, in dem man um des Guten willen „eines Sinnes“ ist, nur allzu leicht in einen polemogenen Widerstreit verschiedener Berufungen auf das Gute, in denen Worte nicht selten wie Waffen (oder statt Waffen) eingesetzt werden. Dabei bestätigt es sich, dass die Sprache kein reines, virtuelles System ist, mittels dessen man eine nur auf Benennung und Repräsentation wartende Welt darstellen könnte, sondern dass sie zu allererst in der Weise der Anrede und Erwiderung geschieht, die auf den Anspruch Anderer Bezug nimmt. Im Anspruch des Anderen, behauptet Levinas, eröffne sich die Beziehung zu ihm ohne Gewalt, sogar im Frieden mit der absoluten Anderheit des Anderen. Dabei beruft sich Levinas auf ein fragwürdiges, ältestes, vor-europäisches Wissen, das einer von den Griechen der Antike her denkenden Philosophie überhaupt nicht zur Verfügung stehe. Kennt dieses „heidnische“ Denken nicht lediglich Verpflichtungen gegenüber denen, die der eigenen politischen Lebensform zugehören? Verhält es sich nicht gänzlich indifferent zum Anderen als Fremden?
Läuft eine derartige Berufung auf die Bibel andererseits nicht Gefahr, sich ihre Einsichten exklusiv vorzubehalten und jegliches pagane oder säkulare Denken von ihnen auszuschließen? Muss sie sich infolge dessen ihrerseits in eine polemische Auseinandersetzung, in einen Kampf und Krieg mit Worten verstricken, ohne dass es je zu einer Entscheidung mit guten Argumenten kommen kann? Die Philosophie jedenfalls verlangt Gründe und möglichst Beweise. Sie fixiert sich ganz und gar auf die Sicherung der rationalen Geltung des Überzeugenden und verschließt sich ängstlich jeglicher nicht-diskursiven Sensibilität, um sich nicht einer geltungskritisch anfechtbaren Berufung auf nur vermeintlich privilegierte „Erfahrungen“ verdächtig zu machen. Aber wie soll sie dann von der Bedeutung des Anspruchs des Anderen zu überzeugen sein, die nur im Lichte ihrer Bezeugung durch Andere überhaupt zugänglich ist, wie auch Levinas zugibt? Das Bezeugte ist in diesem Fall durch nichts zu beweisen, auch nicht durch eine „archetypische Evidenz“, auf die sich Hans Jonas in seiner Philosophie der (elterlichen) Verantwortung beruft. Die Philosophie des Anspruchs des Anderen sieht sich rückhaltlos auf die Geschichte verwiesen, in der sich seine Spur vielfach verliert, nicht zuletzt in Phänomenen völliger Indifferenz und gewaltsamer Verleugnung, in denen der Anspruch des Anderen null und nichtig zu werden scheint. Dennoch baut Levinas darauf, dass sich die Spur des Friedens, der, wie er glaubt, vom Anderen her geboten ist, in der Geschichte nicht gänzlich verlieren wird, solange er auch dort noch bezeugt wird, wo er indifferent überspielt, verschwiegen oder geleugnet wird. Hat eine Philosophie, die sich nur im Medium von Gründen und Argumenten auskennt, zu dieser vor-diskursiven Gewalt überhaupt ein angemessenes Verhältnis? Sie akzeptiert Frieden (wie auch den „gerechten“ Krieg) nur als begründeten, das heißt, als ein „Konzept“, das überzeugen sollte. Ein vorgängiges Verlangen nach Frieden, das sich nicht rational „auszuweisen“ weiß, nimmt sie allenfalls als Vorstufe zum guten Argument zur Kenntnis.
Umgekehrt bleibt Levinas, der sich sogar auf ein vor-rationales Gebot des Friedens angesichts des Anderen beruft, der jeder andere sein kann, eine überzeugende Antwort auf die Frage schuldig, wie denn in den politischen Lebensformen, die der Geschichte auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, Friede jetzt möglich sein soll. Friede lässt sich nicht vertagen; aber auch nicht mit Gewalt herbeiführen. Notgedrungen bewegen wir uns hier im Zwielicht eines unzulänglichen Friedens in der Gewalt, wenn nicht in manifester Gewalttätigkeit, so doch in einer Gewaltsamkeit, die den Zusammenhang von Sprache und Vernunft, so wie er sich in politischen Lebensformen zeigt, kontaminiert.
Es ist unerlässlich, diese Kontamination genauer zu untersuchen, um verstehen zu können, wie sich die Formierung eines politischen Raums denken ließe, in dem man möglichst weitgehend gewaltlos zusammen leben könnte. Bislang haben wir noch keinen angemessenen Begriff davon, was es heißt, Andere zu verletzen und wie das in und mit Worten geschieht, selbst dann, wenn man im Guten „eines Sinnes“ ist. Auch das ist freilich nur mit Worten aufzuklären. Allein mit sprachlichen Mitteln können wir uns dem fraglichen Zusammenhang von Sprache und Gewalt nähern. Womöglich macht sich Gewaltsamkeit hinterrücks in eben der Sprache breit, die wir in Anspruch nehmen, um den Zusammenhang von Sprache und Gewalt aufzuklären. Die moralische Kritik verletzender oder vernichtender Rhetorik ist dieser Gefahr nicht weniger, sondern sogar besonders ausgesetzt. In der Form des politischen Moralismus zumal, der die Gewalt Anderer brandmarkt, nimmt sie selbst offen rhetorische Form an, die keineswegs über den Verdacht der Gewaltsamkeit erhaben ist. Und doch ist allein im Zuge einer moralisch sensiblen Kritik der Gewalt mit Mitteln der Sprache über Gewalt aufzuklären und gegen sie vorzugehen – vorausgesetzt, sie sucht die Begegnung mit der Gewalt-Erfahrung selbst, um zu verstehen, worum es sich handelt.
In diesem Sinne muss man in der Tat „in der Mitte des Wortes anfangen“, wie Ricœur in seiner Symbolik des Bösen sagt. Man muss mit Worten und in Worten verstehen, was in und mit Worten (gewaltsam) geschieht, das heißt, um mittels der Sprache Distanz zur Sprache zu gewinnen – auch auf die Gefahr hin, in schierer Sprachverachtung vor der Gewalt zu kapitulieren, wenn die Sprache niemals die Hoffnung einzulösen verspricht, dass wir uns in und mit Worten gewaltlos aneinander wenden können. Am Ende einer rückhaltlosen Erforschung des Zusammenhangs von Sprache und Gewalt könnte das bloße Verstummen stehen, aber auch die Flucht in die vermeintliche Unmittelbarkeit der Liebe, die sich jedes Wortes enthält, oder auch in eine schwarze Rhetorik, die sich verächtlich der Sprache mit ihren eigenen Mitteln entzieht. So oder so aber ist die Sprache keine geschlossene Totalität, aus der oder in der es keine Auswege gäbe in eine weniger gewaltsame Art und Weise sprachlich-politischen Lebens. Wenn wir Phänomene „subtiler Gewalt“ erforschen, so sollten wir dabei nicht einer defätistischen Auslieferung an sie das Wort reden, sondern, im Gegenteil, Auswegen auf die Spur zu kommen versuchen, ohne von vornherein auf eine Idee des Friedens jenseits des Zusammenhangs von Sprache, Lebensform und Gewalt zu bauen.[1]
© Burkhard Liebsch
[1] Das ist der Ansatz des Projektes d. Vf., Subtile Gewalt. Spielräume sprachlicher Verletzbarkeit. Eine Einführung, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2007.
Erstveröffentlichung des Beitrags in: fiph-Journal 11 (März 2008), S. 18-19.
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