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InDebate: Steckt im Sein ein Sollen?

Veröffentlicht am 6. Mai 2013

David Hume
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Eike Bohlken

Wem ein Naturalistischer Fehlschluss – der fehlerhafte Schluss von einem Sein auf ein Sollen – vorgeworfen wird, der muss sich warm anziehen. Der Übergang vom Sein zum Sollen gilt in der heutigen Philosophie als schwerer Lapsus. Er steht für einen groben Kategorienfehler, für ein wissenschaftliches „geht gar nicht“. Sind Sein und Sollen aber tatsächlich so unüberwindbar voneinander getrennt, wie allgemein unterstellt?Der britische Philosoph David Hume beklagt in seinem Traktat über die menschliche Natur, dass er in moralphilosophischen Texten immer wieder auf einen stillen, weder explizit gemachten noch begründeten Übergang vom „is“ zum „ought“, von der Kennzeichnung eines Seinszustandes durch deskriptive Aussagen zur normativen Setzung eines Sollens stoße. Die Wissenschaftstheorie machte daraus „Humes Gesetz“. Es besagt, dass sich ein direkter Übergang vom Sein zum Sollen, von deskriptiven zu präskriptiven Aussagen, nicht begründen lässt.
Bekannter als das Humeʼsche Gesetz ist der Begriff des Naturalistischen Fehlschlusses. Er geht auf ein Argument des Philosophen George Edward Moore zurück. Moore behauptet, dass der Begriff des Guten als letzte Grundlage normativer Sätze nicht durch deskriptive Aussagen definiert bzw. auf naturalistische Eigenschaften zurückgeführt (reduziert) werden kann. Der Charakter dieses Arguments ist semantischer Art: Wer über das Gute mit Ausdrücken spricht, die sich auf die Beschreibung natürlicher Objekte beziehen, hat nicht verstanden, worum es beim Guten geht bzw. worüber er/sie redet.
Meine These lautet nun, dass es Bereiche gibt, in denen nicht vollständig und strikt zwischen deskriptiven und präskriptiven Aussagen sowie zwischen naturalen und ethischen Eigenschaften getrennt werden kann. Einen ersten solchen Bereich machen die Bilder aus, die Menschen in verschiedenen Gesellschaften und Kulturen zu verschiedenen Zeiten von sich selbst und Ihresgleichen entwerfen. Vordergründig sind Menschenbilder etwas Deskriptives: Sie entspringen dem Versuch, das eigene Dasein so zu charakterisieren, dass eine angemessene Beschreibung herauskommt, die erstens eine Erkenntnis des eigenen Selbst (und/oder der eigenen Gruppe) enthält und die zweitens auch im Sinne einer Selbstdarstellung nach außen hin kommunizierbar ist.
Menschenbilder haben aber immer auch eine normativ-präskriptive Dimension. Innerhalb der zeitlichen Horizontstruktur, in der Menschen ihr Leben führen, bleiben Menschenbilder nicht auf die Beschreibung von Vergangenheit und Gegenwart beschränkt; sie greifen unvermeidlich auch auf die Zukunft aus und entwickeln dabei eine orientierende und handlungsleitende Funktion: Aus der Tatsache, dass wir so und so sind, ziehen wir Hinweise auf künftig zu erwartendes Verhalten und gebotene Handlungen. Wer den Menschen etwa als auf den eigenen Vorteil bedachtes, ständig kalkulierendes Wesen sieht, wird erstens nicht damit rechnen, von Anderen etwas geschenkt zu bekommen, und zweitens sein eigenes egoistisches Verhalten nicht nur natürlich, sondern auch konsequent und angemessen finden. Selbst scheinbar so sachliche Beschreibungen des Menschen als tool making animal oder als homo faber formulieren nicht nur ein neutrales Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, sondern greifen aktiv in die Gestaltung dieses Verhältnisses mit ein.
Menschenbilder verbinden damit als Selbstbilder des Menschen unvermeidlich deskriptive mit normativen Elementen. In abgeschwächter Form gilt dies auch für einige zentrale Begriffe eines gesellschaftlichen Selbstverständnisses wie Moderne/Modernität, Freiheit oder Fortschritt. Sie sind nie nur bloße Beschreibungen eines Ist-Zustandes, sondern implizieren auch normative Momente im Hinblick auf die bisherige oder künftige Entwicklung. Sie werden entweder in legitimatorischer Absicht gebraucht, um bestimmte Handlungen im Nachhinein oder auch prospektiv zu rechtfertigen; oder sie dienen als Leitbegriffe künftigen Handelns. Der Mensch erweist sich damit nicht nur als Adressat, sondern auch als Quellgrund des Sollens. Wenn diese Diagnose zutrifft, liegt es nahe, den Menschen im Anschluss an Martin Heidegger als dasjenige Sein zu fassen, das sich dadurch als besonders auszeichnet, dass es ihm in seinem Sein um dieses Sein selber geht – und sich auf den Spuren von Hans Jonas an einer ontologischen Ethik zu versuchen.

(c) Eike Bohlken

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5 Kommentare

  1. Gerade das Beispiel der Menschenbilder erinnert mich an eine Kritik Hans Kelsens, gerichtet an die Vertreter der Naturrechtslehre, denen er vorwarf, dass die objektiven Inhalte, die diese: „aus der Natur deduziert zu haben behaupten, in Wahrheit von ihnen in die Natur projizierte Werturteile sind, die sie als objektiv gültige Normen […] aus der Natur wieder hervorholen“.
    Ich glaube, dass hier quasi vom Sollen auf das Sein auf das Sollen geschlossen wird, also letztlich vom Sollen auf das Sollen.
    Vielleicht ist also jeder naturalistische Fehlschluss nur ein normativer Fehlschluss auf Umwegen?

    • In dieser Kritik kommen m.E. drei Dinge zusammen. Das eine ist die Frage, ob es eine Natur des Menschen gibt, das andere ist die Frage, ob diese Natur (vorausgesetzt es gibt sie) objektiv von Menschen erkannt werden kann. Ein dritter Punkt ist die Frage, ob sich aus einer objektiven Erkenntnis der menschlichen Natur rechtliche oder allgemeiner: ethische Normen ableiten lassen.

      Ich bin der Auffassung, dass sich alle drei Fragen guten Gewissens mit Ja beantworten lassen. Man muss allerdings mit viel Umsicht zu Werke gehen, um Ideologiesierungen und Partikularismen zu vermeiden. Als Antwort auf die erste Frage könnte man etwa sagen: Der Mensch ist ein in Gemeinschaft lebendes Natur-Kultur-Wesen, das eine Reihe von Gütern benötigt, um sich in seiner Existenz zu erhalten. Mit Hinblick auf die zweite Frage würde ich unterstellen, dass zumindest ein gewisser Grad an Objektivität möglich ist. Es gibt Standards humanwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Untersuchungen. Da es sich bei den betreffenden Ergebnissen um Selbstbilder des Menschen handelt, die auf die Zukunft ausstrahlen, wird hier zwar nie ein vollkommen unbefangener oder projektionsloser Blick möglich sein. Es gibt aber anwendbare Regeln zur wissenschaftlichen Überprüfung vorwissenschaftlicher Menschenbilder sowie zum Abgleich und zur Integration der Ergebnisse verschiedener Humanwissenschaften. Aus den in anthropologischen Diskursen gewonnenen Einsichten über das ‚Wesen‘ des Menschen lassen sich dann unter Umständen auch ethische Schlussfolgerungen ableiten. Um bei der Antwort auf die erste Frage anzusetzen: Wenn es zutrifft, dass der Mensch ein in Gemeinschaft lebendes Natur- und Kulturwesen ist, das zu seiner Erhaltung bestimmter Güter bedarf, liegt es nahe, ihm einen ethischen Anspruch auf diese Güter zuzusprechen.

  2. Was aber, wenn versucht wird, nach der Definition eines Sollens das dazu passende Sein zu definieren? Z.Zt. beobachte ich das stereotype Wiederkehren des Bemühens, die Menschen zu Organspenden zu bewegen (Sollen) und bezogen darauf den Tod neu zu beschreiben (Sein) bzw. der Empirie eine Definition des Todes abzuverlangen, die zu dem vorgegebenen Sollen passt. Die Empirie erfasst eben nur die „erstickte Vergangenheit“ (Ernst Bloch), nicht aber die erhoffte und erwartete Zukunft. Also muss das Sein passend zum Sollen zurechtdefiniert werden, Vielleicht ist dies das größere philosophische Problem?!

    • Sie weisen vollkommen zu Recht darauf hin, dass es auch normativistische Fehlschlüsse gibt, das heißt, Schlüsse in denen unzulässig von einem Sollen auf ein Sein geschlossen wird. „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“, wie es gerne humoristisch heißt.

      Das Beispiel der Anpassung des Todeskriteriums (vom Atmungsstillstands- und Herztod zum Hirntod) ist für Nicht-Experten (und als solchen sehe ich mich auf diesem Gebiet) nicht einfach zu beurteilen. Der Verdacht, dass der Tod hier gemäß verfolgten Zwecken „zurechtdefiniert“ worden sein könnte, liegt aber durchaus nahe.

      Ihrem Bloch-Zitat möchte ich zumindest im Hinblick auf mein Beispiel der Menschenbilder widersprechen: Menschenbilder haben in ihrer handlungsleitenden Funktion die Zukunftdimension gewissermaßen immer schon eingebaut. Deshalb werden sie von manchen Vertretern der philosophischen Anthropologie, wie z.B. Christian Thies, auch als unwissenschaftlich abgelehnt. Ich halte es für richtig, Menschenbilder kritisch auf ihren normativen Gehalt hin zu befragen, halte es aber für unangemessen, sie mit dem Vorwurf des Sein-Sollens-Fehlschlusses zu belegen. Der Punkt, um den es mir geht, liegt darin, dass es bestimmte Bereiche des Seins gibt, hinsichtlich derer sich nicht sauber zwischen Ist- und Soll-Zustand trennen lässt. Hans Jonas hat u.a. in seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ versucht, eine ontologische Ethik auf das Argument zu gründen, dass das Leben in seinem Sein immer schon das Moment einer seinsollenden Zweckhaftigkeit beinhaltet. Ich finde diesen Punkt sehr bedenkenswert, weil er die Verfügbarkeit der menschlichen wie außermenschlichen Natur für technisch-wissenschaftliche Manipulationen massiv in Frage stellt.

      • Bin auf einer Tagung und werde wohl erst Samstagmittag wieder hier aktiv sein können. Ich hoffe aber, dass sich das Thema auch ohne den Autor trefflich diskutieren lässt.

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