Identitätspolitik wird heute in der politischen Öffentlichkeit und der politischen Theorie auf ähnliche Weise kritisiert.[1] Ein zentraler Topos dieser Kritik ist, dass Identitätspolitik essentialisierend sei: Sie schreibe Subjekte auf deren soziale Position fest und ergehe sich in einer Politik der Partikularität, die zu Spaltungen der nationalen Bürgerschaft und des demokratischen Diskurses sowie zu Spaltungen innerhalb gesellschaftskritischer Bewegungen führe. Entgegen dieser einseitigen Kritik schlagen wir mit dem Konzept der „konstruktivistischen Identitätspolitik“ eine andere Deutung vor: Wir zeigen, dass politische Identitäten nicht essentialistisch aufgefasst werden müssen, sondern aus sozialen und politischen Konstruktionsprozessen hervorgehen; dass sie aktiv durch politische (Sub-)Kulturen und Bewegungen hergestellt, erlernt und praktiziert werden.
Ein philosophisch-polemisches Plädoyer für eine andere Corona-Politik
Paul Stephan
Vorbemerkung: Aufgrund der Aktualität des behandelten Themas
möchte ich diesem Artikel den Hinweis voranstellen, dass er sich auf die
Situation am 6. April 2020 bezieht. Etwaige neue politische Entscheidungen oder
neu bekanntwerdende Kenntnisse mögen die geschilderten Sachverhalte in einem
anderen Licht erscheinen lassen. Die philosophische Reflexion findet in der
Regel mit einer leichten Verzögerung statt – das ist meist nicht so schlimm,
doch angesichts der ungeheuren Geschwindigkeit der gegenwärtigen Ereignisse,
wird einem die Langsamkeit des Denkens schmerzhafter als sonst bewusst. –
Gelingt es freilich, vermag das Denken vielleicht sogar den realen Ereignissen
selbst heute noch ein Stück weit voraus zu sein …
Mittlerweile hat sich eine recht intensive philosophische
Debatte zu Corona[1]
entfaltet. Während die einen, am prominentesten Giorgio Agamben, aber auch viele andere,[2]
die gegenwärtig herrschende Corona-Politik der Regierung als autoritäres Regime
betrachten, das mit dem realen Ausmaß der Bedrohung nichts zu tun habe, gibt es
andere Stimmen, die genau diese Politik als alternativlos begrüßen.[3]
Sie werfen den Kritiker/innen vor allem vor, 1) keinen Sinn für die reale
Gefahr zu haben, 2) verschwörungstheoretisch zu denken und 3) eine nicht
zuletzt auch unmoralische Position zu vertreten, die darauf hinauslaufe, das
Leben von Hundertausenden, wenn nicht gar Millionen alter und kranker Menschen
in Gefahr zu bringen. 4) Wird den Kritiker/innen[4]
dann oft auch noch unterstellt, bewusst oder unbewusst selbst von verborgenen
Motiven getrieben zu sein und bspw. in Wahrheit die Interessen der
Großunternehmen zu vertreten.[5]
Im Folgenden möchte ich in einer möglichst unaufgeregten Art und Weise auf
diese vier Argumentationen eingehen und aufzeigen, warum sie mich nicht von
meiner u. a. dort[6] dargelegten Meinung abgebracht
haben, dass wir es im Augenblick mit einer massiven autoritären Wende in der
Politik weltweit zu tun haben, für die die Corona-Pandemie nur als Vorwand
genutzt wird, gegen die auf unterschiedliche Art und Weise Widerstand zu üben
eine ethische Verpflichtung ist. Auf die notwendige Natur dieses Widerstands
möchte ich im Schlussteil dieses Textes zu sprechen kommen.[7]
„Das Volk als Träger der verfassunggebenden Gewalt ist keine feste, organisierte Instanz. Es würde seine Natur als Volk verlieren, wenn es sich für ein tägliches und normales Funktionieren und für die regelmäßige Erledigung von Amtsgeschäften einrichtete. Volk ist seinem Wesen nach nicht Magistratur und auch in einer Demokratie niemals zuständige Behörde. Andererseits muß das Volk in der Demokratie politischer Entscheidungen und Handlungen fähig sein. Weiterlesen →