InDebate: Dem König das Gesicht zeigen. Über Rousseau und die Politik der Authentizität

Paul Stephan

In den Bekenntnissen, seiner großen epochemachenden Autobiographie, berichtet Rousseau ein bemerkenswertes Ereignis. Seine Oper Der Wahrsager soll am Hof des Königs uraufgeführt werden, er selbst ist zu ihrer Premiere eingeladen. Rousseau erinnert sich:

„Ich war an diesem Tag im gleichen nachlässigen Aufzug wie gewöhnlich mit starkem Bart und ziemlich schlecht gekämmter Perücke. Ich nahm diesen Mangel an Anstand für einen Akt des Muts und betrat so den gleichen Saal, in dem sich etwas später der König, die Königin, die königliche Familie und der ganze Hof einfinden sollten. Ich ließ mich in der Loge nieder […]. Es war eine große Proszeniumsloge, gegenüber einer kleinen, höher gelegenen Loge, wo der König mit Frau von Pompadour seinen Platz nahm. Von Damen umgeben und als einziger Mann im Vordergrund der Loge, konnte ich nicht daran zweifeln, daß man mich gerade dorthin gesetzt hatte, damit man mich sehen könnte. Als ich mich nach dem Anzünden der Lichter in diesem Aufzug erblickte, inmitten all der übermäßig geputzten Leute, begann ich mich unbehaglich zu fühlen. Ich fragte mich, ob ich an meinem Platze sei, ob ich ihn schicklich einnähme, und nach einigen Minuten der Unruhe antwortete ich mit einer Dreistigkeit: Ja! die vielleicht mehr von der Unmöglichkeit, es zu ändern, als von der Kraft meiner Gründe kam. Ich sagte mir: Ich bin an meinem Platze, da ich mein Stück spielen sehe, da ich dazu eingeladen bin, da ich es nur dazu verfaßt habe und nach all dem niemand mehr Recht hat als ich, die Frucht meiner Arbeit und meiner Talente zu genießen. Ich bin gekleidet wie gewöhnlich, nicht besser und nicht schlechter.“[1] Weiterlesen

InDebate: Die Kunst des Loslassens als Weg zu einem authentischen Selbst

Alexandra Lason

“Imagine no possessions, I wonder if you can
no need for greed or hunger, a brotherhood of man”
(John Lennon)

Viele Menschen verbringen ihre Freizeit heute in den überall neu entstehenden Einkaufszentren. Dabei geht es häufig nicht darum, etwas Notwendiges zu besorgen. Vielmehr handelt es sich um eine Weise der Freizeitgestaltung. Konsum oder allein die Vorstellung von Konsum wirkt dabei nicht selten als temporäres Antidot gegen die Langeweile.

Im Kern ist (überflüssiger) Konsum und Haben gleichwohl Ersatz für das Sein[1] und Konsumismus, verstanden als Geisteshaltung, die den Konsum als höchstes Gut ansieht, Ausdruck der Furcht vor dem Sein. Wer Haben mit Sein und Sinn gleichsetzt, erschafft sich durch äußere, materielle Angleichung an einen bestimmten Lebensstil ein inauthentisches Selbst, welches zum bloßen Bestandteil der Maschinerie des Konsums regrediert. Die Besitztümer, von denen man meinte, sie ermöglichten ein erfülltes Leben, füllen Häuser und Wohnungen, aber sie erfüllen nicht. Ihre Besitzer*innen ersticken vielmehr daran und nicht zuletzt auch deren authentisches Selbst, denn unter allem Besitz geht das authentische Existieren verloren. Nicht von ungefähr ist die Sehnsucht nach Authentizität heute in einer frappierenden Stärke präsent. So sehr sogar, dass sie wieder seitens des Marktes aufgegriffen wird, da sich auch mit dieser Sehnsucht Profit machen lässt. Ein authentisches Selbst ist, obgleich es sich immer auch (ent-)äußert, nicht Äußerlichkeit. Es ist diese falsche Gleichsetzung, die Authentizität verhindert, welche aus den Potentialen des Innen erwächst. Weiterlesen

InDebate: Zum Potential der Debatte um „das Politische“ für ein demokratisches politisches Subjekt

Processed with VSCO

Anastasiya Kasko

Etablierte Konzeptionen des demos stehen zunehmend im Zentrum politischer Kontroversen. Die ohnehin bestehende Problematik der Unterschiede an sozialer, politischer und wirtschaftlicher Teilhabe wird durch jüngere Entwicklungen noch verschärft: internationale Migration nimmt zu, transnational agierende Konzerne erweitern ihre Einflussbereiche, Probleme im Bereich der Ökologie und des Umweltschutzes verschärfen sich. Diese Entwicklungen stellen die etablierten Konzeptionen des demos bzw. des politischen Subjekts vor Schwierigkeiten, die diese nicht adäquat bearbeiten können. Stattdessen werden Menschen aufgrund des ihnen von Institutionen zugeschriebenen Status (als Geflüchtete, Asylsuchende oder anders definierte Nicht-Bürger_innen) ausgegrenzt und marginalisiert. Als Gegenvorschlag, der dieser Problematik entgegentritt, will ich eine machttheoretisch basierte Theorie des demokratisch verfassten politischen Handlungssubjekts formulieren, die das politische Zusammenleben und die Teilnahme am Alltag der Zivilgesellschaft grundlegend für die Entstehung politischer Subjektivität betrachtet. Dabei bediene ich mich des Vokabulars und der Denkweise des „Politischen“. Das Vokabular des Politischen, so werde ich zeigen, gibt uns einen Begriffsapparat an die Hand, der helfen kann, über die Herausforderungen politischer Zugehörigkeit am Beginn des 21. Jahrhundert nachzudenken. Weiterlesen

Schwerpunktbeitrag: Afrikanische Moderne und die Möglichkeit(en), Mensch zu sein

Elísio Macamo

Gibt es eine afrikanische Form der Moderne? Ich möchte in diesem Beitrag die These vertreten, dass die Suche nach einer solchen Form bei der Erfahrung ansetzen muss, die Afrikaner mit der europäischen Moderne gemacht haben. Der Begriff der Moderne steht für eine Welterklärung, die ihre Wurzeln in einer bestimmten historischen Erzählung hat. Diese geht von einem tiefen Einschnitt in der historischen Erfahrung aus, der sich in der europäischen Renaissance ereignete und eine neue Zeit einläutete. Diese neue Zeit ging aus der Auseinandersetzung zwischen vernunftgeleiteten Individuen und ihrer Gegenwart hervor. Individuen bedienten sich der Wissenschaft, um die Natur zu beherrschen, und wandten sich einer aufgeklärten Philosophie zu, um die moralischen Werte ausfindig zu machen, die dem Bedürfnis nach Wohlstand und Fortschritt als Grundlage dienen könnten. Wissen wurde zu einer Mutprobe, die – wie Kant mit seinem Wahlspruch zur Aufklärung „Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ verdeutlichte – die Individuen (selbst-)bewusst eingingen. Getrieben wurden sie von Erfahrungen der Industrialisierung, die, um es mit den prägnanten Worten des Kommunistischen Manifests zu sagen, alles Ständische und Stehende verdampfen ließ und alles Heilige entweihen würde. Diese europäischen Entwicklungen wurden als Maßstab betrachtet, mit dem die Entfernung gemessen werden könne, die andere Weltteile von Europa trenne. Weiterlesen