InDebate: Transkulturelle Dynamik und hybride Modernisierung in der Philosophie

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Fabian Heubel

Seit vielen Jahren arbeite ich im Kontext chinesischsprachiger Gegenwartsphilosophie. Die daraus erwachsenden Erfahrungen stehen in schroffem Kontrast zu dem, was sich in der deutschsprachigen Philosophie beobachten läßt. In dieser ist das Interesse, ja selbst die Neugier für philosophische Entwicklungen außerhalb des anglo-europäischen Rahmens nach wie vor erstaunlich – um nicht zu sagen: schockierend – gering; zu schweigen von der breiten institutionellen Verankerung von Forschung und Lehre in diesem Bereich. In China hingegen ist akademische Philosophie, seit ihrer institutionellen Herausbildung im frühen 20. Jahrhundert, prinzipiell interkulturell strukturiert. Damit ist zunächst gemeint, dass philosophische – und nicht nur philosophische – Reflexion auf den von schweren Krisen und Kulturbrüchen begleiteten Weg der chinesischen Modernisierung ohne dauerhafte und tiefgreifende Interaktion mit westlicher Philosophie nicht möglich gewesen wäre. Philosophie musste interkulturell werden, um intellektuell auf die aus dem Westen kommende Herausforderung reagieren zu können; sie konnte gar nicht anders als auf dem Wege einer breit angelegten und geduldigen Rezeption und Transformation westlicher Theorien und Terminologien eine neue philosophische Sprache zu schaffen. Weiterlesen

InDebate: Kierkegaard und Nietzsche oder: die Angst des Kriegers vor dem Guten

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Thomas Polednitschek

Frei ist, wer Krieger ist. So ist es in Nietzsches ‚Götzen-Dämmerung‘ zu lesen: „Der freie Mensch ist Krieger.“[1]. Aber als Philosophischer Praktiker weiß ich: Der Krieger einer von Nietzsche imprägnierten Spätmoderne ist keinesfalls frei. Er erliegt der Illusion, ein freier Mensch zu sein, weil er nicht von der Kierkegaard’schen Angst vor dem Bösen gequält wird. Er hat diese Angst hinter sich gelassen, indem er sich von seinem repressiven Über-Ich befreit und sein Gewissen auch gleich mit »entsorgt« hat. Beispiel ist der Immobilienbesitzer, der seine unerwünschten Mieter in ihren Wohnungen solange schikaniert, bis sie freiwillig ausziehen, damit er die Wohnungen der oft langjährigen Mieter in profitablere Eigentumswohnungen umwandeln kann. Moralität hält dieser Krieger des entfesselten Finanzkapitalismus unserer Tage eher für einen humanen Schwächeanfall. Der Krieger ist der von seiner betriebswirtschaftlichen Rationalität korrumpierte homo oeconomicus. Er missachtet sämtliche Verkehrsregeln im Straßenverkehr, wenn dies für ihn selbst von Nutzen ist. Sein »Markenzeichen« ist, dass er sich am Kältepol (Beuys) des Denkens bewegt. Weiterlesen

InDebate: Was sollte heute Moderne heißen?

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Britta Saal

Was sollte heute Moderne heißen?

Dieser Frage möchte ich im Folgenden aus einem interkulturell und postkolonial geprägten philosophischen Blickwinkel nachgehen. Vorausgeschickt sei ein Zitat Stuart Halls, dem jüngst verstorbenen jamaikanischen Begründer der Cultural Studies, das als Sinnbild für die modernen Machtverhältnisse sehr deutlich die interkulturelle und koloniale Dimension der Moderne gleichermaßen zum Ausdruck bringt:

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InDebate: Wer bin ich zwischen den Kulturen? Kulturelle Neurowissenschaft und neue Fragen an das Selbst

Liya Yu

Liya Yu

Ich stehe an der gusseisernen Universitätspforte der Columbia Universität und blicke ein letztes Mal zurück auf den schneebedeckten Campus bevor ich die Treppen zur Subway Station hinuntersteige. Heute war wieder ein Tag, an dem ich mich nicht fragen musste, wer ich bin. In den Seminarräumen, der Bibliothek, der Kantine und den verwinkelten Korridoren der Vorkriegsgebäude des Morningside Campuses wird mein britisches Englisch mit deutschem Akzent und meine gar nicht dazu passende chinesische Erscheinung nicht kommentiert, eher, mit unerschütterlicher New Yorker Gleichgültigkeit und leichter Ungeduld übersehen um sofort auf das Wesentliche zu kommen: meinen Kommentar zum Seminartext, die überfälligen Leihgebühren, meine Unterschrift für die Rechnung des Earl Grey Tees. Ein guter Tag für mich, so konnte ich mich ebenfalls auf das Wesentliche konzentrieren und ich selbst sein. Weiterlesen