Dieser Text ist Teil eines Serienbeitrags zu Alasdair MacIntyres Buch „Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart“. Weitere Episoden werden in Kürze folgen.
in memoriam:
Alasdair MacIntyre ist am 21. Mai 2025 im Alter von 96 Jahren gestorben.[1]
Teil 3: Wie die Philosophie ihre zentrale kulturelle Rolle verlor und ein auf die akademische Welt beschränktes Randgebiet wurde
Wir erinnern uns an den Beginn dieser Blog-Reihe – MacIntyres These, dass „die Sprache der Moral (…) aus einem Zustand der Ordnung in einen Zustand der Unordnung übergegangen“ sei – sowie die aufgeworfene Frage, ob die Philosophie als wissenschaftliche Disziplin vielleicht selbst einen Anteil an dieser Entwicklung gehabt habe. Dem vierten Kapitel seines Buches stellt MacIntyre seine Antwort voran: seine – wie er zugibt – „extreme“ Ansicht, dass „die wichtigsten Ereignisse der Sozialgeschichte, die die Moral wandelten, zerschlugen und (…) im wesentlichen ersetzten, (…) Ereignisse der Geschichte der Philosophie waren“ – und diese damit das emotivistische Selbst, wie es im zweiten Teil dieser Reihe beschrieben wurde, möglich gemacht hätten.[2] Angesichts seiner Feststellung, dass in unserer heutigen Kultur die akademische Philosophie eine „hochspezialisierte Beschäftigung am Rande“[3]sei, erscheine dies auf den ersten Blick zwar erstaunlich, doch sei seine These in die historische Form zu bringen: So habe die Philosophie in früheren Kulturen eine grundlegende Form sozialen Handels dargestellt, ihre Rolle und Funktion sei eine ganz andere als die heutige gewesen. Und er behauptet, dass „das Scheitern jener Kultur, ihre praktischen und gleichzeitig philosophischen Probleme zu lösen, einer und vielleicht der entscheidende Umstand war, der die Form unserer philosophischen wie auch praktischen sozialen Probleme bestimmt“[4].
Welche Kultur meint er? Es ist die Epoche der Aufklärung des 18. Jahrhunderts.[5]
Das Zeitalter der Aufklärung
Was für eine Kultur war das?
MacIntyre verortet diese geographisch als vornehmlich nordeuropäisch und stellt fest, dass die schottischen, englischen, holländischen, dänischen und preußischen Intellektuellen in der sozialen Welt zu Hause gewesen seien, auch wenn sie ihr sehr kritisch gegenübergestanden hätten.[6] Spanier, Italiener und die Gälisch und Slawisch sprechenden Völker hätten nicht zu ihr gehört. Das Zeitalter der Aufklärung dagegen in erster Linie als einen Abschnitt der französischen Kulturgeschichte zu sehen, wertet er als falsch: die französischen Intellektuellen des 18. Jahrhunderts hätten eine gleichzeitig gebildete und entfremdete Intelligenzlerschicht gebildet (er zieht eine Parallele zur russischen Intelligenzija des 19. Jahrhunderts), und die erste Phase der Französischen Revolution sei der Versuch gewesen, mit politischen Mitteln in diese nordeuropäische Kultur einzudringen und so die Kluft zwischen den französischen Ideen und dem sozialen und politischen Leben in Frankreich zu überbrücken (weshalb Kant, so räumt MacIntyre ein, in der Französischen Revolution einen politischen Ausdruck eines Denkens erkannt habe, das dem seinen ähnelte).[7]
Es sei eine musikalische Kultur gewesen – und MacIntyre äußert den Verdacht, ob zwischen dieser Tatsache und den grundlegenden philosophischen Problemen dieser Kultur eine engere Beziehung bestanden hätte als allgemein angenommen, denn er bemerkt: der Zusammenhang zwischen unseren Überzeugungen und Sätzen, die wir nur oder vorwiegend singen, sei nicht der gleiche wie der Zusammenhang zwischen unseren Überzeugungen und Sätzen, die wir sprechen. Er macht dies an folgendem Beispiel fest: „Wenn die katholische Messe für Konzerte von Protestanten verfügbar wird, wenn wir dem Evangelium lauschen, weil Bach es vertont, nicht weil Matthäus es geschrieben hat, dann werden kirchliche Texte in einer Form bewahrt, die die traditionellen Bande zum Glauben aufbricht (…).“[8] Es sei zwar nicht so gewesen, dass keine Verbindung mehr zum Glauben bestanden habe, aber: „die traditionelle Unterscheidung zwischen dem Religiösen und dem Ästhetischen (sei) verwischt worden“.[9] Ein weiteres Beispiel: „Mozarts Freimaurertum – vielleicht die Religion der Aufklärung par excellence – steht in einem ebenso zwiespältigen Verhältnis zur Zauberflöte wie Händels Messias zum protestantischen Christentum.“[10]
Für die hier zu behandelnde moralische Frage sei aber vor allem die Bedeutung des Wandels der Art und Weise des Glaubens richtungsweisend gewesen: Es seien nun Schlüsselfragen zur Rechtfertigung des Glaubens gestellt worden, insbesondere zur Rechtfertigung des moralischen Glaubens. MacIntyre weist darauf hin, dass wir heute daran gewöhnt seien, Urteile, Argumente und Taten in moralischen Kategorien zu klassifizieren; diese Vorstellung sei dagegen in der Kultur der Aufklärung relativ neu gewesen. In diesem Zusammenhang geht er auf die Bedeutungsgeschichte des Wortes „Moral“ ein[11] und stellt fest, dass erst im späten 17. und 18. Jahrhundert, „als die Trennung des Moralischen vom Theologischen, Rechtmäßigen und Ästhetischen zur anerkannten Lehre wurde, (…) der Plan einer unabhängigen, rationalen Rechtfertigung der Moral nicht nur zu einem Anliegen einzelner Denker, sondern zu einer zentralen Frage der nordeuropäischen Kultur“[12] geworden sei. MacIntyres Urteil: „Es ist eine der grundlegenden Thesen dieses Buches, daß das Scheitern dieses Projekts den historischen Hintergrund lieferte, vor dem die mißliche Lage unserer eigenen Kultur verständlich werden kann.“[13] Wie rechtfertigt er seine These?
Zentral ist für ihn der „moderne Standpunkt“, der darin bestehe (wie bereits in Teil 1 dieser Reihe dargelegt), dass die moralische Debatte als eine Auseinandersetzung zwischen unvereinbaren und nicht vergleichbaren moralischen Prämissen begriffen werde. Eine kriterienlose Wahl zwischen solchen Prämissen aber könne rational nicht gerechtfertigt werden, sie enthalte ein Element der Willkür, das in der moralischen Kultur sogar als „philosophische Entdeckung – ja als Entdeckung beunruhigender, sogar schockierender Art“[14] vorgetragen worden sei, „lange bevor es zu einem Allgemeinplatz im alltäglichen Diskurs wurde“[15]. Auf welches Buch – das nach MacIntyre „Ergebnis und zugleich Nachruf auf den systematischen Versuch der Aufklärung war, eine rationale Rechtfertigung der Moral zu finden“[16] – bezieht dieser sich hier? Es ist Kierkegaards Enten-Eller (Entweder-Oder) – ein Buch, zu dem MacIntyre bemerkt, dass wir es meist nicht durch die Brille einer historischen Perspektive lesen würden, weil „die zu große Vertrautheit mit seiner These unser Gefühl für seine erstaunliche Neuheit für die Zeit und den Ort seiner Entstehung, die nordeuropäische Kultur im Kopenhagen des Jahres 1842, eingeschläfert“[17] habe.
Kierkegaards Konzept der absoluten Wahl
MacIntyre stellt drei fundamentale Merkmale des Buches heraus.
- Zum einen sei es die Verknüpfung zwischen Kierkegaards Art der Darstellung und seiner zentralen These. Es sei seine ausdrückliche Intention gewesen, den Leser vor eine grundlegende Wahl zu stellen. Als Autor (Pseudonym: „Victor Eremita“) habe er die Aufzeichnungen der beiden – für die einerseits ästhetische und andererseits ethische Lebensweise – stehenden Romanprotagonisten herausgegeben und kommentiert – ohne eine Empfehlung abzugeben, da er nie als er selbst erscheine.[18] Kierkegaard habe das Selbst aufgeteilt, „um es auf mehrere Masken zu verteilen, die jede das Kostüm eines unabhängigen Selbst darstellt“[19] – „›A‹ empfiehlt die ästhetische Lebensweise, ›B‹ empfiehlt die ethische Lebensweise“[20]. Der Leser werde – so MacIntyre – also vor eine grundlegende Wahl gestellt. Die Wahl zwischen dem ethischen und dem ästhetischen sei aber nicht vergleichbar der „Wahl zwischen Gut und Böse“, sondern der „Wahl, ob man sich in Kategorien von Gut und Böse entscheiden soll“.[21] Beispiel: Die ästhetische Lebensweise als der „Versuch, das Selbst in der Unmittelbarkeit des momentanen Erlebnisses zu verlieren“[22] (der romantische Liebhaber, der in seiner Leidenschaft versinkt), wird der Ehe als Paradigma des Ethischen (ein Zustand der Bindung und Verpflichtung über die Zeit hinweg, bei dem die Gegenwart durch die Vergangenheit und an die Zukunft gebunden sei) gegenübergestellt. MacIntyre urteilt: Zum einen sei jede „der beiden Lebensweisen (…) durchdrungen von unterschiedlichen Begriffen, unvereinbaren Haltungen und rivalisierenden Vorstellungen“[23], zum anderen werde kein Grund genannt, warum die handelnde Person die eine Wahlder anderen vorziehen solle. Die Person, die noch nicht gewählt habe, müsse also wählen, ob sie die Gründe, die für bestimmte Lebensweisen genannt werden, für überzeugend hält, sie müsse also ihre Grundprinzipien wählen, „und gerade weil sie Grundprinzipien sind, allen anderen in der Argumentationskette vorausgehend, können keine weiteren letzten Gründe zu ihrer Unterstützung angeführt werden.“[24]
- MacIntyre sieht einen tiefen Widerspruch zwischen dem obigen Konzept der absoluten Wahl und dem Konzept des Ethischen, der durch die Form des Buches verdeckt würde. Das Ethische würde als der Bereich dargestellt, in dem Prinzipien über uns Macht hätten, unabhängig von Haltungen, Vorlieben, Gefühlen (also beispielsweise das Festhalten an einer Ehe, auch wenn keine Liebe mehr da sei). MacIntyre fragt daher, woher das Ethische diese Art von Autorität beziehe. Er selbst befindet, dass es gute Gründe sein müssten, die Prinzipien Autorität verleihen würden, so dass wir die Wahl für sie treffen. Die Lehre von Entweder-Oder sei aber gerade, dass „die Prinzipien, die die ethische Lebensanschauung auszeichnen, aus keinem besonderen Grund übernommen werden sollen, sondern durch eine Wahl, die jenseits aller Gründe liegt, weil es einfach die Wahl von etwas ist, das für uns als Grund zählt“[25]. MacIntyre fordert, dass doch das Ethische Autorität über uns haben sollte und fragt: „ Aber wie kann das, was wir aus einem einzigen Grund übernehmen, irgendeine Autorität über uns haben?[26] Sein Fazit: „Damit sind die Vorstellung der Autorität und die Vorstellung des Grundes nicht (…) eng miteinander verbunden, sondern schließen sich gegenseitig aus.“[27] Dieses Konzept der Autorität, das die Gründe ausschließt, sei eine im eigentlichen, wenn nicht sogar ausnahmslos, moderne Vorstellung, „entstanden in einer Kultur, der der Begriff der Autorität fremd und zuwider ist, so daß Appelle an die Autorität irrational erscheinen“. MacIntyre weist darauf hin, dass dies in der vorangegangenen Kultur anders gewesen sei: das traditionelle Konzept der Autorität hätte im Ethischen verkörpert sein müssen. Sein Fazit: „Falls das Ethische irgendeine Grundlage hat, kann sie nicht durch den Begriff der absoluten Wahl geliefert werden.“[28]
- Als drittes Merkmal hebt MacIntyre den konservativen und traditionellen Charakter der Kierkegaardschen Darstellung des Ethischen hervor. Er weist darauf hin, dass der Begriff des Prinzips der absoluten Wahl in der heutigen Zeit meist als Dilemma dargestellt würde, nämlich dem, für welche ethischen Prinzipien wir uns entscheiden. Wir seien uns also der miteinander konkurrierenden moralischen Alternativen sehr bewusst. Kierkegaard dagegen verbinde den Gedanken der absoluten Wahl mit einer nicht in Frage gestellten Konzeption des Ethischen (z.B. Versprechen-Halten, die Wahrheit-Sagen und Wohlwollen als Ausdruck allgemeingültiger moralischer Prinzipien, die auf einfache Weise verstanden werden) – der ethische Mensch habe somit keine großen Auslegungsschwierigkeiten gehabt, wenn er einmal eine grundlegende Wahl getroffen habe. Und dies zeige, dass Kierkegaard „ein neues praktisches und philosophisches Fundament für eine ältere, ererbte Lebensanschauung“[29] liefere – weshalb es notwendig sei, von Kierkegaard auf Kant zurückzugehen, der – so MacIntyre – „in fast allen Bereichen die philosophische Kulisse für Kierkegaard“[30] schaffe.[31] Vielleicht sogar – so MacIntyre – sei es diese Kombination aus Neuem und Traditionen, die die Inkohärenz im Kern der Kierkegaardschen Position erkläre und die das logische Ergebnis des Projekts Aufklärung sei, eine rationale Grundlage und Rechtfertigung der Moral zu liefern.[32]
Die Grundlage des Ethischen in der Vernunft bei Kant
Im Mittelpunkt der Moralphilosophie Kants – so MacIntyre – ständen zwei „trügerisch einfache Thesen“[33]:
a) wenn die Gesetze der Moral rational seien, so müssten sie für alle rationalen Wesen gleich sein (ähnlich der Gesetze der Arithmetik) und b) wenn die Gesetze der Moral für alle rationalen Wesen bindend seien, dann sei die mögliche Fähigkeit dieser Menschen, sie auszuführen, unwesentlich – wesentlich sei ihr Wille, sie auszuführen.[34] MacIntyre urteilt: „Das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral ist daher nur ein Projekt zur Entwicklung eines rationalen Tests, der die Maximen, die den Willen als wahrhaften Ausdruck des Sittengesetzes binden, von den Maximen unterscheidet, die dem Sittengesetz nicht auf diese Weise entsprechen“[35]. Er bemerkt dazu, dass Kant bereits über bestimmte Maximen und auch über die Vorstellung, wie ein rationaler Test einer Maxime aussehen müsse, verfügt habe (er mutmaßt nebenbei: das moralische Erbe einer lutherischen Kindheit)[36] und geht anschließend der Frage nach, was für eine Vorstellung dies gewesen sei und wo Kant sie herleite.
Das Glück sei es nicht gewesen: selbst wenn Kant keinen Zweifel daran gehabt habe, dass alle Menschen das Glück wollten, habe er geglaubt, dass unsere Vorstellung von Glück zu vage und veränderlich sei.[37] Auch in unseren religiösen Überzeugungen könne die Moral keine Grundlage finden.[38] Die Grundlage des Ethischen habe für Kant in der Vernunft bestanden – bedingt durch dessen Ansicht über Aufgabe und Kräfte der Vernunft, wie MacIntyre ausführt: „Es gehört zum Wesen der Vernunft, daß sie Grundsätze darlegt, die umfassend, kategorisch und in sich schlüssig sind. Eine rationale Moral wird daher Grundsätze aufstellen, die sich alle Menschen zu eigen machen können und sollten, ungeachtet der Umstände und Bedingungen, und die konsequent von jedem vernünftig Handelnden bei jeder Gelegenheit befolgt werden könnten.[39] Die Prüfung einer aufgestellten Maxime, so MacIntyre, sei also leicht zu formulieren: „können wir wirklich wollen – oder können wir das nicht, daß immer alle danach handeln?“[40]
Wie aber können wir entscheiden , ob dieser Versuch, eine Prüfung zur Entscheidung über moralische Maximen zu formulieren, Erfolg hat oder nicht, fragt MacIntyre.[41] Zunächst zeigt er anhand einiger der selbst von Kant angeführten Beispiele auf, dass „Kants eigene Argumente grobe Fehler enthalten“ würden und – mehr noch – „viele unmoralische und triviale, nicht moralische Maximen durch Kants Prüfung ebenso überzeugend und manchmal noch überzeugender unterstützt werden als die moralischen Maximen, die Kant unterstützen will.“[42] Dies sei natürlich nicht im Sinne Kants gewesen, und MacIntyre erklärt dies damit, dass Kants Prüfung auf konsistente Verallgemeinerbarkeit (Anmerkung: die Universalisierungsformel[43]) „einen bestimmenden moralischen Gehalt impliziere, der derart allgemeine und triviale Maximen ausschlösse“[44] – nämlich Kants sog. Zweckformel: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“[45]
MacIntyre urteilt, dass diese Formulierung „auf jeden Fall einen moralischen Gehalt (hat), allerdings einen, der nicht präzise ist, wenn man ihn nicht durch einige zusätzliche Formulierungen ergänzt.“[46] Er interpretiert sie positiv in dem Sinne, wie er sie selbst bereits in seiner Gegenrede zum Emotivismus angewandt habe, nämlich dass ein nicht-rationaler Überredungsversuch einen Versuch darstelle, „den Handelnden zu einem bloßen Werkzeug meines Willens zu machen, ohne jede Rücksicht auf seine Vernunft.“[47] Aber er kritisiert: „Kant nennt uns keinen guten Grund, diese Position einzunehmen. Ich kann mich ohne jede Inkonsistenz darüber hinwegsetzen: „Jeder außer mir soll als Mittel betrachtet werden“ mag unmoralisch sein, aber es ist nicht inkonsistent, und es ist nicht einmal inkonsistent, eine Welt aus Egoisten zu wollen, die alle nach dieser Maxime leben. Es könnte für alle unbequem werden, wenn jeder nach dieser Maxime lebte, aber es wäre nicht unmöglich, und Bequemlichkeitsüberlegungen würden auf jeden Fall zu gerade jener klugen Bezugnahme auf das Glück führen, die Kant aus allen moralischen Überlegungen zu tilgen bestrebt ist.“[48].
Das Fazit MacIntyres: „Der Versuch, Kants Maximen der Moral auf das zu gründen, was er als Vernunft ansieht, scheitert daher ebenso sicher, wie der Versuch Kierkegaards scheiterte, ihre Grundlage in einem Akt der Wahl zu finden; und die beiden Fehlschläge hängen eng zusammen. Kierkegaard und Kant stimmen in ihrem Moralbegriff überein[49], aber Kierkegaard übernimmt diesen Begriff zusammen mit der Einsicht, daß der Plan einer rationalen Rechtfertigung gescheitert ist. Kants Scheitern war für Kierkegaard der Ausgangspunkt: der Akt der Wahl mußte hinzugenommen werden, um die Aufgabe zu übernehmen, die die Vernunft nicht übernehmen konnte.“[50]
Diderot und Hume – handlungsleitende Wünsche und Leidenschaften
MacIntyre schließt das Kapitel des Projekts der Aufklärung mit Verweis auf Diderot und Hume ab und bemerkt vorab, dass beide sich zwar als philosophische Radikale betrachtet hätten, aber dass sie die Ansichten Kierkegaards und Kants über den Inhalt der Moral geteilt hätten; sie seien moralische Konservative gewesen.[51]
Diderot habe in Rameaus Neffe anhand eines Dialogs zwischen dem philosophe und dem jungen Rameau die Frage aufgeworfen, welche unserer Wünsche als legitime Richtlinien für unser Handeln anerkannt und welche verhindert, vereitelt oder abgeändert werden sollten[52] MacIntyre urteilt: „(…) natürlich kann diese Frage nicht dadurch beantwortet werden, daß man versucht, unsere Wünsche selbst als eine Art Kriterium zu verwenden. Gerade weil wir alle tatsächlich oder potentiell zahllose Wünsche haben, die sich in vielen Fällen widersprechen und unvereinbar sind, müssen wir zwischen den konkurrierenden Forderungen konkurrierender Wünsche entscheiden. Wir müssen entscheiden, in welche Richtung wir unsere Wünsche weiterentwickeln sollen, wie wir verschiedene Triebe, empfundene Bedürfnisse, Gefühle und Absichten ordnen wollen. Daher können die Regeln, die uns in die Lage versetzen, zwischen den Forderungen unserer Wünsche – einschließlich der Sittengesetze – zu entscheiden und sie zu ordnen, selbst nicht von den Wünschen, zwischen denen sie zu schlichten haben, abgeleitet oder unter Bezugnahme auf sie gerechtfertigt werden.“[53]
Auch Humes „philosophisch hoch entwickelte Darstellung“[54] sieht MacIntyre als gescheitert an. Dieser sei bei seiner negativen Beweisführung über die anfängliche Annahme, dass die Moral entweder das Werk der Vernunft oder das Werk der Leidenschaften sei, zu dem Schluss gekommen, dass die Moral ein Werk der Leidenschaften sei[55] – es sei die Leidenschaft, nicht die Vernunft, die uns zum Handeln bewege.[56] Leidenschaften seien nützlich, indem sie uns helfen würden, Ziele zu erreichen, aber gleichzeitig habe Hume – wie auch Diderot – erkannt, dass wir uns bei moralischen Urteilen auf allgemeine Gesetze berufen. Seiner Ansicht habe daher eine implizite Sicht der Rolle zugrunde gelegen, die die Leidenschaften bei einem „normalen und (…) vernünftigen Menschen“ spielen – in Abgrenzung beispielsweise von den („abweichend absurden“) Leidenschaften von „Enthusiasten“, der Leveller (Anm.: eine englische demokratische Bewegung des 17. Jahrhunderts), der katholischen Askese etc.[57] Damit habe Hume also versteckt normative Maßstäbe („einen höchst konservativen normativen Maßstab“[58]) zur Unterscheidung genutzt.
MacIntyre urteilt abschließend: „So wie Hume die Moral auf die Leidenschaften zu gründen sucht, weil seine Argumentation die Möglichkeit ausgeschlossen hat, sie auf die Vernunft zu gründen, so gründet Kant sie auf die Vernunft, weil seine Argumentation die Möglichkeit ausgeschlossen hat, sie auf die Leidenschaften zu gründen, und Kierkegaard gründet sie auf die kriterienlose, absolute Wahl aufgrund dessen, was er für das zwingende Wesen der Überlegungen hält, die sowohl die Vernunft wie die Leidenschaften ausschließen. So beruhte die Bestätigung der jeweiligen Position in wesentlichen Teilen auf dem Scheitern der beiden anderen, und die wirksame Kritik jeder Position durch die anderen erwies sich unter dem Strich als Scheitern aller. Das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral war eindeutig gescheitert; und seitdem fehlte der Moral der uns vorausgegangenen Kultur – und anschließend auch unserer eigenen – jede öffentliche, gemeinsame logische Grundlage oder Rechtfertigung.“[59]
Warum das Projekt der Aufklärung zur Rechtfertigung der Moral scheitern musste?
MacIntyre räumt ein, dass die bisherigen Ausführungen zum Scheitern des Vorhabens, die Moral zu rechtfertigen, lediglich auf „das Scheitern einer Folge bestimmter Gedanken“[60] hindeuten könnten, so dass man nur darauf warten müsste, „bis sich ein noch klügerer Kopf der Schwierigkeiten annähme“[61] Doch er sieht die Probleme grundlegender und die Philosophen der Aufklärung als „Erben eines ganz speziellen und besonderen Systems moralischer Überzeugungen, eines Systems, dessen innere Widersprüche das Scheitern des von ihnen geteilten philosophischen Vorhabens von vornherein unumgänglich machte.“[62] Dazu mehr im nächsten Teil dieser Reihe.
© Birgit Heitker
[1] Vgl. z.B. folgende Nachrufe: https://www.deutschlandfunkkultur.de/alasdair-macintyre-nachruf-100.html, https://www.sueddeutsche.de/kultur/alasdair-macintyre-nachruf-philosophie-li.3259252?reduced=true, https://www.herder.de/communio/gesellschaft/ein-nachruf-auf-alasdair-macintyre-moral-in-der-krise/.
[2] Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt 2006, 57.
[3] Ebd.
[4] Ebd., 58
[5] Ebd.
[6] „Die bedeutendsten Gestalten überhaupt waren Deutsche: Kant und Mozart. Doch was die geistige Vielfalt und intellektuelle Reichweite angeht, überbieten nicht einmal die Deutschen David Hume, Adam Smith, Adam Ferguson, John Millar, Lord Kames und Lord Monboddo.“ (Ebd.)
[7] Vgl. ebd., 58 f.
[8] Ebd., 59.
[9] Ebd.
[10] Ebd. Anmerkung der Verfasserin: Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang an das emotivistische Selbst aus Teil 2 dieser Reihe, das beliebige Standpunkte einnehmen und sich damit auch von jeder Situation distanzieren kann, in die es geraten ist, sowie von jeder Eigenschaft, die es eventuell besitzt, und das in der Lage ist, ein Urteil darüber von einem rein universellen und abstrakten Standpunkt aus zu fällen, vollkommen losgelöst von aller sozialen Besonderheit.
[11] Vgl. ebd., 59 f. MacIntyre führt aus, dass es im Lateinischen wie im Altgriechischen kein Wort gegeben habe, das sich korrekt mit unserem Wort „moralisch“ übersetzen ließe bzw. es kein solches Wort gab, bis unser Wort „moralisch“ ins Lateinische zurückübersetzt wurde. Natürlich lasse sich das Wort etymologisch auf moralis und seinen griechischen Vorläufer ethikos zurückverfolgen, doch dies habe bedeutet „zum Charakter gehörend“, wobei der Charakter eines Menschen nichts weiter gewesen sei als seine „vorgegebenen Neigungen, sich konsequent auf eine ganz bestimmte Art und keine andere Art zu verhalten, auf eine ganz bestimmte Weise zu leben“. (Ebd., 60).
In seinem ursprünglichen Gebrauch im Englischen (moral) habe das Substantiv dann als „Moral“ eines Textes die praktische Lehre bezeichnet, die es enthielt; „praktisch“ sei der Bedeutung des Wortes „moralisch“ am nächsten gekommen. In der weiteren Geschichte wurde das Wort Bestandteil des Ausdrucks „moralische Tugend“ und stand später für sich alleine, wobei seine Bedeutung kontinuierlich enger geworden sei.
Erst im 16. und 17. Jahrhundert aber habe der Begriff „Moral“ erkennbar eine moderne Bedeutung bekommen und könne in den hier maßgeblichen Zusammenhängen gebraucht werden.
[12] Ebd.
[13] Ebd., 61.
[14] Ebd.
[15] Ebd.
[16] Ebd.
[17] Ebd.
[18] Vgl. ebd., S. 62.
[19] Ebd., 61.
[20] Ebd., 62.
[21] Ebd.
[22] Ebd.
[23] Ebd.
[24] Ebd.
[25] Ebd., 65.
[26] Ebd.
[27] Vgl. ebd.
[28] Ebd.
[29] Ebd., 66.
[30] Ebd.
[31] Vgl. ebd. MacIntyre weist darauf hin, dass insbesondere Kants Abhandlung über den Gottesbeweis sowie Kants Moralphilosophie der wesentliche Hintergrund für Kierkegaards Behandlung des Ethischen gewesen seien.
[32] Vgl. ebd.
[33] Ebd.
[34] Vgl. ebd. MacIntyre urteilt: „Das Projekt der rationalen Rechtfertigung der Moral ist daher nur ein Projekt zur Entwicklung eines rationalen Tests, der die Maximen, die den Willen als wahrhaften Ausdruck des Sittengesetzes binden, von den Maximen unterscheidet, die dem Sittengesetz nicht auf diese Weise entsprechen.“ (ebd.)
[35] Ebd.
[36] „Kant selbst hat selbstverständlich keine Zweifel, welche Maximen tatsächlich Ausdruck des Sittengesetzes sind; rechtschaffene, einfache Männer und Frauen mußten nicht auf die Philosophie warten, um sich sagen zu lassen, worin ein guter Wille bestand, und Kant zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß die Maximen, die er von seinen rechtschaffenen Eltern gelernt hatte, diejenigen waren, die durch einen rationalen Test erhärtet werden mußten. Der Gehalt der Moral Kants war demnach in derselben Weise konservativ wie der Gehalt der Moral Kierkegaards – und das überrascht kaum. Obwohl die lutherische Kindheit Kants in Königsberg hundert Jahre vor der lutherischen Kindheit Kierkegaards in Kopenhagen lag, werden beide durch dasselbe moralische Erbe gekennzeichnet.“ (Ebd., 66 f.)
[37] MacIntyre führt hierzu weiter aus: „Außerdem wäre jedes Gebot, das dazu bestimmt wäre, unser Glück zu garantieren, Ausdruck eines Gesetzes, das nur bedingt gilt; es würde vorschreiben, das und das zu tun, wen und insoweit Das-und-das-Tun tatsächlich das Glück als Ergebnis hätte.“ (Ebd., 67.)
[38] „Denn die zweite traditionelle Ansicht, die Kant ablehnt, besteht in der Prüfung einer gegebenen Maxime oder eines Gebots darauf hin, ob sie von Gott befohlen ist. Nach Kants Ansicht kann aus der Tatsache, daß Gott uns befiehlt, das und das zu tun, niemals folgen, daß wir das und das tun sollten. Um gerechtfertigter Weise zu einem solchen Schluß zu kommen, müßten wir wissen, daß wir immer tun sollten, was Gott befiehlt. Aber letzteres können wir nicht wissen, es sei denn wir besäßen selbst einen moralischen Wertmaßstab, der unabhängig von Gottes Geboten ist und mit dessen Hilfe wir die Taten und Worte Gottes beurteilen und so als moralisch befolgenswert ansehen können. Aber wenn wir einen solchen Maßstab besitzen, sind die Gebote Gottes natürlich überflüssig.“ (Ebd., 67 f.)
[39] Ebd., 68.
[40] Ebd.
[41] Vgl. ebd.
[42] MacIntyre führt hierzu aus: „Kant selbst versucht zu zeigen, daß Maximen wie „Sage immer die Wahrheit“, „Halte immer deine Versprechen“, „Sei wohltätig zu denen, die in Not sind“ und „Begehe keinen Selbstmord“ seine Prüfung bestehen, während Maximen wie „Halte Versprechen nur, wenn es für dich von Vorteil ist“ scheitern. Aber um das auch nur andeutungsweise zu zeigen, muß er bekannt schlechte Argumente gebrauchen, deren Gipfel seine Behauptung ist, daß jeder, der sich für die Maxime entscheidet: „Wenn das Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeiten verspricht, es mir abzukürzen“, inkonsequent ist, weil ein solcher Wille jenem Lebenstrieb „widerspricht“, der jedem von uns eingepflanzt ist. Das ist so, als würde jemand behaupten, daß jeder, der sich für die Maxime entscheidet, „Ich trage immer kurzgeschnittene Haare“ inkonsequent sei, weil ein solches Wollen dem Wachstumstrieb der Haare „widerspreche“, der jedem von uns eingepflanzt ist.“ (Ebd., 68 f.)
[43] „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (zitiert nach: Andreas Müller, Aus Prinzip?, in: Johann S. Ach/Kurt Bayertz/Michael Quante/Ludwig Siep: Grundkurs Ethik Band I: Grundlagen, 2016, 111.)
[44] MacIntyre, 69.
[45] Ebd.
[46] Ebd.
[47] Ebd., 70.
[48] Ebd.
[49] „Der Gehalt der Moral Kants war demnach in derselben Weise konservativ wie der Gehalt der Moral Kierkegaards – und das überrascht kaum. Obwohl die lutherische Kindheit Kants in Königsberg hundert Jahre vor der lutherischen Kindheit Kierkegaards in Kopenhagen lag, werden beide durch dasselbe moralische Erbe gekennzeichnet.“ (Ebd., 67).
[50] Ebd., 70.
[51] Hume sei beispielsweise bereit gewesen, das traditionelle christliche Verbot des Selbstmords zu widerrufen, aber seine Ansichten über Versprechen und Eigentum seien ebenso kompromisslos wie die Kants gewesen. Diderot dagegen habe sich zwar zum Glauben bekannt, dass sich die wahre menschliche Natur in dem offenbart und ihr durch das gedient ist, was er als promiskuitive Sexualität der Polynesier beschrieben habe (vgl. ebd., 70f.); in Rameaus Neffe aber sei das moi, der philosophe, mit dem sich der ältere Diderot sehr identifiziert habe, ein „herkömmlicher, bourgeoiser Moralist mit ebenso biederen Ansichten über Ehe, Versprechen, Wahrheit und Gewissenhaftigkeit, wie sie jeder Anhänger von Kants Pflichtbegriff oder Kierkegaards Ethischem auch hat.“ (Ebd., 71).
[52] Der philosophe etwa vertrete die Ansicht: „Wenn wir im modernen Frankreich alle mit aufgeklärtem Blick unsere Wünsche verfolgen, werden wir auf die Dauer sehen, daß die konservativen Sittengesetze im großen ganzen die Gesetze sind, die durch die Berufung auf ihre Grundlagen Wunsch und Leidenschaft gerechtfertigt werden.“ (Ebd.) Dem entgegne der jüngere Rameau dreierlei: „Warum sollten wir ersten die Dauer in Betracht ziehen, wenn das Naheliegende genügend verlockende Aussichten bietet? Beinhaltet zweitens die Ansicht des philosophe nicht, daß wir selbst auf die Dauer der Sittengesetze nur befolgen sollten, wenn und soweit sie unseren Wünschen entsprechen? Und ist das drittens nicht der Gang der Welt, daß jeder einzelne, jede Schicht, nur die eigenen Wünsche im Auge hat und sich zu deren Befriedigung gegenseitig ausplündert?“ MacIntyre urteilt: „Wo der philosophe Grundsätze, die Familie, eine geordnete natürliche und soziale Welt sieht, sieht sie Rameau nur als künstliche Verkleidung von Eigenliebe, Versuchung und räuberischen Absichten.“ (Ebd.)
[53] Ebd., 72.
[54] Ebd.
[55] Vgl. ebd., 73.
[56] Vgl. ebd., 72.
[57] Vgl. ebd.
[58] Ebd.
[59] Ebd., 73 f.
[60] Ebd., 75.
[61] Ebd.
[62] Ebd.
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