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Negative Offenbarung
Wir*[1] sind Zeug*innen einer negativen Offenbarung: Der Zukunftshorizont verdunkelt sich mehr und mehr. 3,3 bis 3,6 Milliarden Menschen leben in Umständen, die durch die ökologische und klimatische Krise „hochgradig gefährdet“ sind, so nachzulesen im Bericht des Weltklimarates. Jeden Tag sterben bis zu 150 Tier- und Pflanzenarten aus. Die ökologische und klimatische Katastrophe ist nicht etwas, das noch aussteht. Jeden Tag werden wir* Zeug*innen neuer katastrophischer Enthüllungen. Wir* leben wahrhaft in apokalyptischen Zeiten. Wobei das Wort „Apokalypse“ hier nicht für die göttliche Offenbarung steht, sondern für deren Negation.[2]
Die Erde ist als Schöpfung das Ur-Medium der Offenbarung der biblischen Gottheit. Sie ist ein Lebenshaus. Durch die Schöpfung offenbart sich G-tt[3] als eine das Leben liebende Gottheit. Diese Gottheit schickt keine Fluten mehr. Sie verweigert sich jeglicher Katastrophendidaktik. All das ist uns bekannt, aber haben wir* es auch erkannt?[4] Der Zustand der Schöpfung, den wir* geschaffen haben, lässt daran zweifeln. Er drückt eine Verachtung G-ttes aus, mehr noch: Er steht für die Zerstörung göttlicher Offenbarungswirklichkeit.
Und wie reagiert die katholische Kirche, wie reagieren wir* Theolog*innen hierzulande? Allenfalls zögerlich. Ja, es gibt viele Papiere, Verlautbarungen, Predigten, in denen Laudato si zitiert wird, sogar ein „Umweltbericht“ (2021) wurde von der Bischofskonferenz veröffentlicht. Unzählig sind die Forderungen zur „Bewahrung der Schöpfung“. Es gibt viele einzelne, auch beindruckende Umweltaktionen. Themen wie Klimaschutz, Nachhaltigkeit, Biodiversität sind mittlerweile Bestandteil theologischer Debatten. Auch das Leid der Tiere tritt zunehmend in den Blick. Aber seien wir* ehrlich: All die Worte, Forschungen, Debatten und Aktionen haben bislang keine Taten hervorgebracht, die der Höhe der Herausforderung angemessen wären. Dabei lautet der Schöpfungsauftrag: „mit Gott um das Leben (zu) kämpfen“ (E. Zenger).[5]
Was offenbart das über uns? Können wir* uns angesichts der Zerstörungen noch redlich als Zeug*innen der Offenbarung begreifen? Erfahren wir* Schöpfung noch als Offenbarung, als Widerfahrnis? Oder besteht unsere Beziehung zur Schöpfung in einer „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ (R. Jaeggi), in Entfremdung? Braucht es nicht gerade jetzt eine Theologie, die der Offenbarung als Widerfahrnis Ausdruck verleiht, und eine Kirche, die Offenbarung als widerständige Präsenz lebt? Kann, wer von Schöpfung als Offenbarung spricht, von der „kapitalistischen Sachherrschaft“[6] schweigen, welche die Natur zur amorphen Verfügungsmasse degradiert, uns von ihr entfremdet und den Anspruch, den die Schöpfung an uns richtet, neutralisiert hat?
Wider die „kapitalistische Sachherrschaft“
Die Philosophin Eva von Redecker hat diese Herrschaft eindrücklich analysiert: Kapitalismus ist ein „Spaltungswerkzeug“ (C. J. Robinson), das doppelt spaltet: „Der erste Schnitt, der seine Ordnung bestimmt, ist vom Eigentum gesetzt und verläuft zwischen Sachherrscher_in und als verfügbar ausgestanztem Objekt. Der zweite Schnitt zerteilt das Objekt der Sachherrschaft. Die Verwertungsabsicht zieht eine Trennlinie zwischen Ware und Auswurf, zwischen Wert und Nichtigem.“[7] Kapitalismus bringt also mehr hervor als Profit und Waren[8]:
„CO2, Produktionsabfälle, Verpackungen (und nach kurzer Zeit oft auch die abgenutzte Ware selbst) werden fallengelassen, aufgegeben, abgestoßen. Was die Verwertung eigentlich tut, ist, Güter in Waren und Ausschuss zu spalten. Anders als der Mehrwert kehren die von den Waren abgespaltenen Dinge aber gerade nicht zum Ausgangspunkt zurück. Delfinmägen sind von Plastikmüll verstopft, nicht die Trichter des Kapitals. Freie Marktwirtschaft eben, frei von Windschutzhecken, die das Wüten des Marktes einschränken würden.“[9]
Dieser extraktivistische Kapitalismus hat auch unser Verständnis von Offenbarung beschädigt. Müssen wir* nicht mit Johann Baptist Metz selbstkritisch fragen, ob unsere Schöpfungstheologien auch deshalb in eine manifeste Krise gekommen sind, weil wir* sie schließlich als Hintergrund extraktivistischer Weltgestaltungsprozesse ausgebildet haben?[10] Wenn wir* als Fundamentaltheolog*innen und Dogmatiker*innen die damit einhergehenden theologischen Herausforderungen nicht unterlaufen wollen, sollten wir* die Auseinandersetzung damit nicht arbeitsteilig an die Sozialethik und theologischen Gesellschaftswissenschaften delegieren. Andernfalls laufen wir* Gefahr, uns klammheimlich aus der Zukunft dieser Welt und der Welt der Zukunft zu verabschieden[11], während gleichzeitig um uns herum neue Philosophien entstehen, die für das Leben kämpfen, sich neue Klimagerechtigkeitsbewegungen ausbreiten und mit ihnen neue gesellschaftliche Formationen, die in neuen, resonanten Weltbeziehungen wurzeln. Von Redecker sieht in diesen neuen Klimagerechtigkeitsbewegungen den Beginn einer „Revolution für das Leben“, die ihren Ausgang nimmt „von einer Mobilisierung für akut bedrohte Leben“ und die „für die Aussicht auf geteiltes, gemeinsam gewahrtes und solidarisch organisiertes Leben“[12] kämpft.
Wenn wir* heute von Offenbarung sprechen, dann sollten wir* von dieser Revolution reden, weil sie das Milieu profaner Offenbarungserfahrungen ist, erschließen sich doch in ihr Möglichkeiten des Neuen.[13] In dieser „Revolution für das Leben“ werden Menschen mit offenbarenden Ereignissen konfrontiert, die in der „Ehrfurcht vor dem Leben“ gründen und zu einem tieferen Verständnis dessen führen, was Leben als – um einen Ausdruck von Donna Haraway zu verwenden – „Mit-Werden“[14] heißt.
Ehrfurcht vor dem Leben
Albert Schweitzer berichtet von „Erschließungsereignissen“[15], in denen er von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ ergriffen wurde. Für Emmanuel Lévinas beginnt alle Ethik mit der unterbrechenden Erfahrung eines Antlitzes, damit, dass wir* durch die Erfahrung der tiefen Verwundbarkeit anderen Lebens regelrecht entwaffnet und in die Verantwortung gezogen werden. Solche Ereignisse können sich aber nur innerhalb einer „lebendigen Beziehung zu lebendigem Leben“[16] einstellen.
Als ein geradezu epiphanisches Ereignis schildert Schweitzer seine Entdeckung des Begriffs „Ehrfurcht vor dem Leben“ während einer Flussfahrt zur Station N’Gômô im Jahr 1915:
„Monatelang lebte ich in einer stetigen inneren Aufregung dahin. Ohne jeglichen Erfolg ließ ich mein Denken in einer Konzentration (…). Ich irrte in einem Dickicht umher, in dem kein Weg zu finden war. Ich stemmte mich gegen eine eiserne Tür, die nicht nachgab. (…) Schon war ich erschöpft und mutlos. Wohl sah ich die Erkenntnis, um die es sich handelt, vor mir. Aber ich konnte sie nicht fassen und aussprechen. In diesem Zustande mußte ich eine längere Fahrt auf dem Fluß unternehmen. (…) Geistesabwesend saß ich auf dem Deck des Schleppkahnes, um den elementaren und universellen Begriff des Ethischen ringend, den ich in keiner Philosophie gefunden hatte. (…). Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das Wort ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ vor mir. Das eiserne Tor hatte nachgegeben: der Pfad im Dickicht war sichtbar geworden.“[17]
Schweitzer beschreibt den eigenen Körperzustand als müde, seine Gemütslage als verzagt, mutlos – ein geschwächtes Ich. In der Situation dieser Ich-Schwäche steht ihm plötzlich diese Maxime vor Augen,[18] gleichzeitig weiß er sie allerdings auch empirisch widerlegt, kenne doch die Natur, so Schweitzer, eine solche Ehrfurcht nicht: „Sie bringt tausendfach Leben hervor in der sinnvollsten Weise und zerstört es tausendfach in der sinnlosesten Weise.“[19] Nur der distanzierte Blick, der aufs Ganze zielt, vermag darin einen Sinn zu erkennen, weil er das einzelne Leid im Leben der Art aufgehoben weiß.[20] Nicht so Schweitzer: Er nahm die Wucht des Leidens der einzelnen Existenz und die Sinnlosigkeit wahr.[21]
Es ist diese tiefe Beziehung zum Leben, in der „die unmittelbarste und umfassendste Tatsache des Bewusstseins“ erfahrbar wird, die in Schweitzers Worten lautet: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“[22] Das ist für Schweitzer kein „ausgeklügelter Satz“. Er schreibt:
„Tag für Tag, Stunde für Stunde wandle ich in ihm. In jedem Augenblick der Besinnung steht er neu vor mir. Wie aus nie verdorrender Wurzel schlägt fort und fort lebendige, auf alle Tatsachen des Seins eingehende Welt- und Lebensanschauung aus ihm aus.“[23]
Diese Erkenntnis lässt sich weder abstrakt deduzieren noch normativ zwingend einfordern.[24] Sie gründet in „Erschließungsereignissen“[25]. Solche Ereignisse sind nicht spezifischen Menschen vorbehalten, sondern werden auf unterschiedliche Art und Weise von allen Menschen gemacht. Die Erinnerung an sie wird jedoch immer wieder verdrängt, ja sogar neutralisiert, um sie vergessen zu machen[26], ist sie doch eine ständige Provokation für eine Zivilisation, die auf Extraktivismus gründet.[27]
Die Ehrfurcht vor dem Leben ist „tatsächlich denknotwendig, nämlich für das Denken notwendig – aber nicht etwas, was wir notwendigerweise denken müssen“[28]. Das Widerfahrnis der Ehrfurcht vor dem Leben entspringt einer Moralität, die nötigt. Dazu führt Schweitzer aus:
„Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgend etwas Lebendigem Schaden zu tun. Er fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient, und auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist. Das Leben als solches ist ihm heilig. (…) Heute gilt es als übertrieben, die stete Rücksichtnahme auf alles Lebendige bis zu seinen niedersten Erscheinungen herab als Forderung einer vernunftgemäßen Ethik auszugeben. Es kommt aber die Zeit, wo man staunen wird, daß die Menschheit so lange brauchte, um gedankenlose Schädigung von Leben als mit Ethik unvereinbar einzusehen. Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt.“[29]
Profane Offenbarung
Wer von der Ehrfurcht vor dem Leben ergriffen wird, erfährt eine befreiende Kraft, die in die Lage versetzt, neu und anders auf Welt und auf sich zu schauen. Es sind solche Situationen, in denen sich Menschen als unersetzbar, als unvertretbar, als in Verantwortung Gerufene erfahren. Der Begriff „Offenbarung“ bezeichnet genau das. Es sind solche Offenbarungen, die Menschen überwältigen, ohne sie zu beherrschen. Über diese Offenbarungen können Menschen nicht verfügen, da sie zu ihnen kein äußerliches Verhältnis haben und sich von ihnen auch nicht einfach zu distanzieren vermögen. Menschen erfahren sich in solchen Situationen als auf Offenbarung Angewiesene.[30]
In der Erfahrung der Ehrfurcht vor dem Leben überschneiden sich profane und religiöse Offenbarungserfahrungen. Beide sind – mit einem Wort von Metz – Ausdruck der „Zustimmungsfähigkeit zur Welt“, beide sind Formen des Sinnvertrauens gegenüber dem Ganzen der Welt ohne Verdrängung oder Verklärung „der Negativität des erfahrbaren Leidens“[31]. Solche Zustimmungen lassen sich nicht herstellen. Sie werden nicht, so Metz, durch Produktion, Technik und Arbeit hervorgebracht.[32] Sie vermögen sich allenfalls einzustellen. Diese Zustimmungen können „durchaus die Figur des revolutionären Protestes annehmen“[33]. Offenbarung ist heute in Gefahr, weil dieses „Ja der Zustimmung (…) durch die wachende Erfahrung der Schöpfungsgefährdung bedroht“ ist[34].
Der Zustand der Schöpfung ist unannehmbar. Die Grenzen des Erträglichen sind überschritten. Aber gerade diese negative Offenbarung kann uns auf die Spur von Erwartungen bringen, an denen sich unser theologisches Verständnis von Offenbarung erneut messen lassen sollte, nämlich an Schöpfung als Offenbarungswirklichkeit.
Ohne die Erfahrung der Mitgeschöpflichkeit anderen Leben gibt es kein Verständnis von Schöpfung als Offenbarung. Ist diese Erfahrung zerstört, wird unser Verhalten zerstörerisch.[35] Und umgekehrt gilt: Ist unser Verhalten zerstörerisch, ist unsere Erfahrung von Offenbarung zerstört. Schöpfungsoffenbarung entspringt einer Schöpfungscompassion. Schöpfungscompassion ist eine „Mitleidenschaft“ (J.B. Metz), die sich dadurch auszeichnet, dass sie aufgrund der Nähe, die sie zu Menschen, Tieren, Pflanzen und zu allem, was sie wahrnimmt, besitzt, nicht nur ein Wissen hat, sondern auch eine Erfahrung, mit der die Erkenntnis einhergeht, dass dieser Mensch, der mir begegnet, nicht bloß ein Alter Ego, sondern einzigartig ist; dass dieses Tier nicht bloß Vieh ist; dass diese Pflanze nicht bloß Gewächs ist – sondern, dass dieser Mensch, dass dieses Tier, dass diese Pflanze etwas ist, das jeweils sein*ihr Leben leben will.[36]
„Revolution für das Leben“
Diese Compassion zielt auch und gerade politisch darauf ab, wie Metz gefordert hat, „daß wir ‚anders leben‘ lernen, damit andere überhaupt leben können“[37]. Hier knüpft die „Revolution für das Leben“ an. Revolution wird dabei – und das ist das Neue an dieser Revolution – als eine „Beziehungsweise“ (B. Adamczak) verstanden. Revolution steht für eine Wechselwirkung zwischen Gesellschafts- und Selbsttransformation. Im Lichte dieser Revolution erscheint der Kapitalismus „als Gefüge von ineinandergreifenden Beziehungsweisen, lebendiger wie dinglicher. Die Warenbeziehung etwa, die die komplexen Beziehungsweisen des Gelds, des Kredits, des Kapitals voraussetzt und in sich aufnimmt, erscheint dann als eine, die Menschen verbindet, indem sie sie trennt.“[38]
Wenn Revolution eine Beziehungsweise ist und der Kapitalismus als „ein Gefüge von ineinandergreifenden Beziehungen“[39] wahrgenommen werden muss, dann besteht die Möglichkeit, den extraktivistischen Kapitalismus durch die Stiftung neuer Beziehungsweisen bis zu seiner Unkenntlichkeit zu zivilisieren, mithin zu überwinden.
Anders als die Revolutionen, die wir* aus der Geschichte kennen, zielt die „Revolution für das Leben“ auf einen „allgegenwärtige[n] Umbau des Alltags“, um sich der „Zerstörungswut der kapitalistischen Gesellschaft in den Weg“ zu stellen.[40] Es geht nicht um eine Revolution, die zerstört, sondern um eine Revolution, die rettet, und zwar dadurch, dass sie sich, wie von Redecker fordert, „der in sachlicher Sachherrschaft verlorengegangenen Welt an[nimmt]“[41]. Sie wendet sich gegen Rücksichtslosigkeit, gegen die Perspektive unendlicher Steigerung. Sie will nicht Schranken niederreißen, sondern das Bewusstsein für menschliche und planetare Limitationen und Suffizienz schaffen.[42] Dabei geht es nicht darum, für diese Revolution zu sterben, sondern – wie von Redecker im Anschluss an Frances Beal schreibt – „für die[se] Revolution zu leben“, das heißt, „die schwierigere Aufgabe zu übernehmen, unsere alltäglichen Lebensmuster zu ändern.[43] Diese Revolution denkt vom Alltag her das Ganze neu. Wenn wir* mit unserer Alltagssituation beginnen, dann ändert sich auch der Blick auf das Ganze. Immer noch beherrschen Effizienz und Wachstum die klimapolitischen Debatten. Der Blick vom Alltag her bricht diese Verengung auf, sind doch die alltäglichen Herausforderungen der ökologischen und klimatischen Katastrophe weniger durch Effizienz als durch Suffizienz gekennzeichnet.[44]
Diese Revolution hat in unterschiedlichen Feldern bereits begonnen. Sie gründet in der Erkenntnis, dass die Erde „(…) kein Eigentum ist, sondern Leben“[45], dass das Land, auf dem wir* leben, nicht „Besitzobjekt“ ist, „sondern“ – wie von Redecker schreibt – „ein Territorium, das immer schon geteilt [ist], und zwar mit allem, was darauf und davon lebt“[46].
Es ist an der Zeit, dass wir* Teil dieser „Revolution für das Leben“ werden. Zum einen, weil diese Revolution uns an die eigene Schöpfungstradition erinnert, daran, dass die Erde nur Leih-Gabe ist. Zum anderen ist die Praxis der Befreiung das Medium und Material der Offenbarung Gottes.[47] Wobei es allerdings immer zu bedenken gilt, dass Befreiungsgeschichte zwar Heilsgeschichte ist – aber damit noch nicht automatisch Offenbarungsgeschichte. Gott ist Gott, nicht einschließbar oder begrenzbar in menschlichen Befreiungsbewegungen.[48]
Wenn wir* die Schöpfung weiterhin dem Extraktivismus ausliefern, verlieren wir* auch die Hoffnung, denn diese setzt „den Glauben an die Welt als Schöpfung Gottes voraus“[49]. Die Hoffnung, auf die wir* verpflichtet sind, wird nur als „Solidarität der Gesamtschöpfung“[50] lebendig.
Neuschöpfung und Apokalypse
Unsere Welt ist ihrem Ende so nahe, dass sie nach einem neuen Anfang verlangt. Theologisch stellt sich vor dem Hintergrund der Revolution für das Leben meines Erachtens die Aufgabe, die Bewahrung der Schöpfung auch von der Neuschöpfung, von der Apokalypse, her zu verstehen.[51] Die Apokalypse visioniert den neuen Himmel und die neue Erde nicht jenseits des Diesseits, sondern im Diesseits. Dabei weiß der Visionär Johannes um die Bedeutung der Körperlichkeit. So weist er auf die basale Bedeutung der Tränen hin: Gott „wird alle Tränen von ihren Augen abwischen“. Es ist zu betonen, dass diese Geste Gottes und die Vision vom neuen Himmel und der neuen Erde nur denen gilt, die Tränen in den Augen haben, die mitleiden mit den von der Erhitzungskatastrophe bedrohten Menschen und nichtmenschlichen Lebewesen.[52]
Wer den Himmel suchen will, muss sich tief in das Geschehen auf der Erde verstricken lassen und auch die Erfahrung von der „Verfinsterung des Himmellichts“ und vom Schweigen Gottes machen. So heißt es in der „Apokalypse“: „Und als das Lamm das siebente Siegel auftat, entstand eine Stille im Himmel etwa eine halbe Stunde lang.“ (8,2) Aber genau in diesem Schweigen, in dieser Stille könnte die Aufforderung zum Handeln liegen. Die Stille im Himmel bedeutet, so sieht es Pablo Richard, dass die Stunde der Erde gekommen ist.[53] Die Stille im Himmel steht für die Aufforderung zum Handeln.
Aber vielleicht ist alles zu spät. Vielleicht müssen auch wir* uns ernsthaft fragen, ob G-tt die Menschheit nicht scheitern lässt. So heißt es beispielsweise in einer Parabel aus dem Mittelalter:
„In einem elenden Dorf in Mittelpolen stand eine kleine Synagoge. Als der Rabbi eines Abends durchs Dorf ging, trat er in die Synagoge ein und sah Gott in einer dunklen Ecke sitzen. Er fiel auf sein Angesicht und rief: ‚Herr Gott, was tust du hier?’ Gott antwortete ihm weder mit Donner noch im Wirbelwind, sondern mit einer kleinen Stimme: ‚Ich bin müde, Rabbi, ich bin auf den Tod müde.’“[54]
Für den Sprachphilosophen George Steiner erzählt die Parabel davon, „daß Gott (…) sein Ebenbild nicht mehr im Spiegel der Schöpfung erkennen konnte (…). Er hat die Welt ihren eigenen unmenschlichen Anschlägen überlassen und wohnt nun in einem andern Winkel des Universums, so fern, daß seine Boten uns nicht einmal mehr erreichen können.“[55]
Als ich kürzlich diese Parabel an anderer Stelle zitierte, meldete sich ein Leser zu Wort und fragte: „Und wenn – was wäre die Konsequenz? Setzen wir uns mit Gott in die Synagogenecke und warten müde auf den Tod?“.
Die apokalyptische Antwort auf diese Frage lautet: Jetzt ist die Stunde der Erde gekommen, endlich das Menschenmögliche zu tun. Um diese Gelegenheit zu ergreifen, müssten wir* Christ*innen – um mit Dietrich Bonhoeffer zu sprechen – so leben, als ob es G-tt nicht gäbe.
[1] Das „Wir*“, von dem ich im Folgenden häufig Gebrauch mache, ist mehr als ein Stilmittel, um Leser*innen zu adressieren. Es soll auch Warnung sein: Die Rede vom „Wir“ steht immer in der Gefahr, andere zu vereinnahmen oder auszuschließen. Das „Wir*“ soll dazu dienen, Leser*innen für die Rede vom „Wir“ kritisch zu sensibilisieren. Es hat somit auch die Funktion, die Unzulänglichkeit und das Ärgernis, die jeder Verallgemeinerung immanent sind, anzuzeigen. Es soll Fragen evozieren: Wer spricht hier, wie, warum, in welcher Situation und mit welcher Absicht von „Wir“? Es führt zudem ein Versprechen mit sich, das es einzulösen gilt: Diversität. Überdies steht das „Wir*“ für ein inklusives Wir.
[2] Der Vortragsstil wurde beibehalten. Dieser Text erscheint 2025 in dem Band „Widerständige Offenbarung“ (Reihe: „Questiones disputatae“) im Herder Verlag.
[3] Im Folgenden wird, wenn der Name gemeint ist, „G-tt“ geschrieben: a) um den Namen G-ttes JHWH nicht herabzusetzen, b) um zu betonen, dass G-tt größer ist als alles, was wir* von ihm sagen können, c) um daran zu erinnern, dass G-tt jenseits der Geschlechterdifferenzen steht. Es werden aber auch andere Begrifflichkeiten benutzt. Die Verwendung verschiedener Namen und Begriffe ist als Versuch zu verstehen, das Bilderverbot umzusetzen. In den biblischen Zitaten habe ich mich an die Übersetzung von U. Bail u.a. (Hg.), Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 32007 gehalten.
[4] „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“ (G. F. W. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt 1986, 35).
[5] Siehe zu diesem Abschnitt: J. Manemann, Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer, Bielefeld 2021, 39/40.
[6] Den Begriff „kapitalistische Sachherrschaft“ habe ich von Eva von Redecker übernommen: E. v. Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt 2020, 15.
[7] Redecker, Revolution, 14.
[8] Vgl. Redecker, Revolution, 14; Manemann, Revolutionäres Christentum, 63.
[9] Redecker, Revolution, 53.
[10] Vgl. J. B. Metz, Ein Bekenntnis zum Glauben in dieser Zeit. Vorlesungen zum Würzburger Synodendokument „Unsere Hoffnung“. Bd. 1: Theologische-Politische Grundperspektiven, Freiburg/ Basel/Wien 2022, 245.
[11] Vgl. J.B. Metz, Mystik der offenen Augen. Wenn Spiritualität aufbricht, Freiburg/Basel/Wien 2011, 205.
[12] Redecker, Revolution, 9.
[13] Vgl. E. Schillebeeckx, Menschen. Die Geschichte von Gott, Freiburg/Basel/Wien1990, 46.
[14] D. Haraway, Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt/New York 2018, 23.
[15] W. Theobald, Gibt es einen rationalen Kern der Lebensphilosophie Albert Schweitzers?, in: M. Hauskeller (Hg.), Ethik des Lebens. Albert Schweitzer als Philosoph, Zug 2006,173-188, 177.
[16] A. Schweitzer, Kultur und Ethik: in: ders., Kulturphilosophie, München 2007 (E-Book), Pos. 5169.
[17] A. Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, Hamburg 22020, 135–136.
[18] Es erschien ihm wie eine Offenbarung, obwohl er den Begriff bereits in einer Vorlesung 1912 benutzt hatte (vgl. Günzler, C., Art.: Albert Schweitzer, in Ott, K./Dierks, J./Voget-Kleschin, L. (Hg.), Handbuch Umweltethik, Stuttgart 2016, 80–85, 80.
[19] A. Schweitzer, Was sollen wir tun? 12 Predigten über ethische Probleme, Heidelberg 1986, 30f.
[20] Vgl. H. W. Ingensiep, Natur und Leben bei Albert Schweitzer – theoretisch betrachtet, in: Ethik des Lebens, 52–72, 59.
[21] Der Abschnitt findet sich in: J. Manemann, Rettende Umweltphilosophie. Von der Notwendigkeit einer aktivistischen Philosophie, Bielefeld 2023, 28.
[22] Schweitzer, Kultur und Ethik, Pos. 5259.
[23] Schweitzer, Kultur und Ethik, Pos. 5259.
[24] Vgl. W. Theobald, Gibt es einen rationalen Kern der Lebensphilosophie Albert Schweitzers?, in: Ethik des Lebens, 173-188, 177.
[25] Theobald, Lebensphilosophie, 177.
[26] Vgl. dazu: M. Hauskeller, Verantwortung für das Leben? Schweitzers Dilemma, in: Ethik des Lebens, 210-236, 213.
[27] Der Abschnitt stammt aus: Manemann, Rettende Umweltphilosophie, 30f.
[28] C. Ilies, Ehrfurcht statt Begründung? Albert Schweitzers Versuch einer Grundlegung der Ethik, in: Ethik des Lebens, 189-209, 206.
[29] Schweitzer, Kultur und Ethik, Pos. 5266-5279. Dieser Abschnitt findet sich in: Manemann, Rettende Umweltphilosophie, 36f.
[30] Vgl. J. Manemann, „Gott sagen heißt, dem Tod widerstehen!“. Die Herausforderung Leo Schestows, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 1.3/ 2004, 41-60, 57. Weiter: R. Bultmann, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament, in: ders., Glauben und Verstehen Bd. 3, Tübingen 41993, 1-34, 6.
[31] Metz, Bekenntnis zum Glauben, 237f.
[32] Vgl. Metz, Bekenntnis zum Glauben, 242,
[33] Metz, Bekenntnis zum Glauben, 243.
[34] Metz, Bekenntnis zum Glauben, 238.
[35] Vgl. R. D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung, Frankfurt 182015, 22.
[36] Vgl. Hauskeller, Suche nach dem Guten, 116/117. Der Abschnitt findet sich u.a. in: J. Manemann, Schöpfungscompassion – Aufbruch zu einer Exoduskirche, in: https://www.feinschwarz.net/schoepfungscompassion-aufbruch-zu-einer-exoduskirche/ (abgerufen: 13.09.24).
[37] J. B. Metz, Jenseits bürgerlicher Religion. Reden über die Zukunft des Christentums, München/Mainz 41980, 85.
[38] B. Adamczak, Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende, Berlin 2017 (E-Book), Pos. 3000.
[39] Adamczak, Revolution, Pos. 3000.
[40] Redecker, Revolution, 147.
[41] Redecker, Revolution, 194.
[42] Das ist kritisch gegen Helmuth Plessner formuliert: H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a. M. 72018, 17.
[43] Redecker, Revolution 147f.
[44] Vgl. zu diesem Abschnitt: J. Manemann, Rettende Umweltphilosophie,134. 138.
[45] Redecker, Revolution, 274.
[46] Redecker, Revolution, 271.
[47] Vgl. Schillebeeckx, Menschen, 29.
[48] Vgl. Schillebeeckx, Menschen, 33. 35.
[49] Metz, Bekenntnis zum Glauben, 37.
[50] Metz, Bekenntnis zum Glauben, 39.
[51] Die folgenden Ausführungen finden sich in: Manemann, Revolutionäres Christentum, 140-142.
[52] Vgl. P. Richard, Apokalypse. Das Buch von Hoffnung und Widerstand. Ein Kommentar, Luzern 1996, 236.
[53] Vgl. Richard, Apokalypse, 118.
[54] Zit. n.: G. Steiner, Der Tod der Tragödie. Ein kritischer Essay, Frankfurt a. M. 1981, 274.
[55] Steiner, Tod, 274.
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