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„Wie bitte geht Gerechtigkeit?“ – Zum 4. Festival der Philosophie Hannover

Veröffentlicht am 11. März 2014

Das Thema des 4. Festivals der Philosophie lautet „Wie bitte geht Gerechtigkeit?“. Es wird bewusst nicht gefragt: „Was ist das – die Gerechtigkeit?“. Auf dem Festival soll nämlich nicht distanziert und abstrakt über Gerechtigkeit gesprochen werden. Wenn wir abstrakt von der Gerechtigkeit sprechen, geht jede konkrete Verantwortung unter. Wir müssen also die Frage so stellen, dass uns das, wonach wir fragen, so trifft, dass es uns betrifft. Deshalb fragen wir: „Wie bitte geht Gerechtigkeit?“.

Wenn wir diese Frage als echte Frage stellen und nicht bloß als eine rhetorische Frage, deren Antwort eigentlich schon feststeht, dann muss die Frage so gestellt werden, dass wir uns auf die Suche nach einer Antwort machen, und zwar auf eine Suche, bei der keineswegs klar ist, was denn am Ende dabei herauskommt, ja, ob überhaupt etwas dabei herauskommt.

Wer heute nach der Gerechtigkeit fragt und diese Frage wirklich ernst nimmt, der nimmt sie nur ernst, wenn ihm das, wonach er fragt, nicht selbstverständlich ist. Nur derjenige nimmt die Frage ernst, der nicht mehr weiß, was denn heute Gerechtigkeit ist. Alles andere wäre intellektuelle Spielerei. Die Frage „Wie bitte geht Gerechtigkeit?“ setzt die Einsicht voraus, dass wir heute nicht sicher zu sagen vermögen, was eigentlich „Gerechtigkeit“, genauer: gerechtes Handeln ist. Das zeigt auch ein Blick auf die gegenwärtige gesellschaftliche Situation: Trotz vieler Gerechtigkeitsdiskurse nimmt Ungerechtigkeit wieder zu. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Nicht zuletzt aus diesem Grund melden sich in den letzten Jahren vermehrt Stimmen zu Wort, die die Diskurse über Gerechtigkeit kritisch befragen, weil sie ein Missverhältnis sehen zwischen dem ungerechten Zustand in der Welt und den stetig anwachsenden Theorien über Gerechtigkeit.

Es war die Politikwissenschaftlerin Judith Shklar, die in den Diskursen über Gerechtigkeit diverse Gefahren witterte: nicht nur die Gefahr einer Selbstzufriedenheit der über die Gerechtigkeit Reflektierenden, sondern auch die Gefahr der Verrechtlichung und „Vergerechtlichung“ (B. Schlink), der schleichenden Delegation der Verantwortung des Individuums für gerechte Verhältnisse an die Gerichte. Am Problematischsten erschien ihr jedoch, dass in den Diskursen über Gerechtigkeit wie selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass derjenige, der wisse, was gerecht sei, auch wisse, was ungerecht sei. Ungerechtigkeit wäre somit nichts anderes als Ausdruck fehlender Gerechtigkeit. Shklar fürchtete, dass die Gerechtigkeitstheorien am Ende die Ungerechtigkeiten und die mit ihnen einhergehenden Herausforderungen aus dem Blick verlieren würden. Sie forderte deshalb eine Theorie der Ungerechtigkeit ein.

Wer wissen will, was heute Gerechtigkeit heißt und wie Gerechtigkeit geht, der muss einen „lebendigen Sinn für Ungerechtigkeit“ (B. Liebsch) besitzen. Ein solcher Sinn setzt nicht Distanz zu den Problemen voraus, sondern beruht auf Nähe. Nähe bedeutet Fühlen. „Fühlen heißt, in etwas involviert zu sein.“ (A. Heller) Der Schmerz, den man fühlt, deutet an, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ein lebendiger Sinn für Ungerechtigkeit setzt Leidempfindlichkeit voraus. Sie ist die Basis für Compassion („Mitleidenschaft“, J. B. Metz). Der Sinn für Ungerechtigkeit enthält bereits den Anspruch, etwas dagegen zu tun. Des Weiteren gilt: Wer Ungerechtigkeit zur Sprache bringt, treibt notwendigerweise Gesellschaftskritik.

Wer so beginnt, nach Gerechtigkeit zu fragen, der setzt bei Theodor W. Adornos Erkenntnis an, dass das wirkliche Medium der Gerechtigkeit die Ungerechtigkeit ist. Dieser Satz ist in einem zweifachen Sinn zu verstehen:

Eine liberale Politik versteht Gerechtigkeit im Sinne der Gleichheit. Gleichheit heißt, jeden gleich zu behandeln, jedem die gleichen Chancen zu eröffnen. Wenn jedoch der Andere immer durch die Brille der Gleichheit betrachtet wird, so erscheint er immer als der verallgemeinerte Andere. Dadurch wird jedoch der Andere seiner Einzigartigkeit, seiner Andersheit und damit seiner Identität beraubt. In diesem Sinne gilt, dass das wirkliche Medium der Gerechtigkeit immer auch die Ungerechtigkeit ist.

Damit der konkrete Mensch in den Fokus der Politik kommt, muss das Verständnis von Gerechtigkeit als Gleichheit immer wieder aufgebrochen werden durch den Versuch, dem konkreten Anderen gerecht zu werden. Dazu bedarf es, wie der Philosoph Christoph Menke gezeigt hat, eines individuellen Gerechtwerdens: „Individuelles Gerechtwerden heißt hier, mit dem anderen gegen das zu reagieren, wogegen er leidend und klagend reagiert.“ Durch den darin erhobenen Imperativ der Anerkennung wird die Theorie und Praxis von der Gerechtigkeit bzw. Gleichheit in der liberalen Gesellschaft immer wieder neu im Blick auf den konkreten Menschen in seiner unendlichen Würde befragt. Und so ergeht die Forderung, die Eigenperspektive des Individuums zu berücksichtigen. Durch das Hörbarwerden der Klagen des Anderen, mit denen dieser auf eine eingewöhnte Gleichheitspraxis reagiert, wird Gerechtigkeit immer gerechter. Auch in diesem Sinne gilt: „Das wirkliche Medium der Gerechtigkeit ist die Ungerechtigkeit.“ (Adorno)

Wenn wir heute von Gerechtigkeit sprechen, dann reicht es nicht aus, sich damit zu befassen, welche Ansprüche als normativ gerechtfertigt und gerecht zu betrachten sind, wie B. Liebsch dargelegt hat. Der lebendige Sinn für Ungerechtigkeit macht Leid, das bislang ungesehen und ungehört blieb, sichtbar und hörbar.

Gerechtigkeit wird zur Selbstgerechtigkeit, wenn sie glaubt, den Sinn für Ungerechtigkeit aufgehoben zu haben. Sie muss auf einem lebendigen Sinn für Ungerechtigkeit beruhen, und nicht nur das: sie muss auch einen Sinn für „unaufhebbare Ungerechtigkeit“ (B. Liebsch) besitzen, für Ungerechtigkeit, die nicht wieder gut gemacht werden kann. Letztlich verlangt der Sinn für Ungerechtigkeit, wie der Philosoph Cornel West gefordert hat, das Tragische wahrzunehmen und ihm standzuhalten. Die Dimensionen des Tragischen gehören nämlich konstitutiv zum humanen Leben. Voraussetzung eines lebendigen Sinns für Ungerechtigkeit ist, dass der Mensch „in Geschichten verstrickt“ (W. Schapp) ist. Dazu muss er /sie sich jedoch dem Leben aussetzen, das heißt sich einsetzen. Bob Dylan hat es in seinem Song “Gotta serve somebody” auf den Punkt gebracht:

… you’re gonna have to serve somebody, yes indeed

You’re gonna have to serve somebody,
Well, it may be the devil or it may be the Lord
But you’re gonna have to serve somebody.

Lit.:
– Burkhard Liebsch, Der Sinn der Gerechtigkeit im Zeichen des Sinns für Ungerechtigkeit, in: I Kaplow/ C. Lienkamp (Hg.), Sinn für Ungerechtigkeit. Ethische Argumentationen im globalen Kontext, Baden-Baden 2005, 11-39.
–   Jürgen Manemann, Yoko Arisaka, Volker Drell, Anna Maria Hauk, Prophetischer Pragmatismus. Eine Einführung in das Denken von Cornel West. Mit einem Gespräch zwischen Cornel West und Eduardo Mendieta, München 2. Auflage 2012.
–  Jürgen Manemann, Wie wir gut zusammen leben. 11 Thesen für eine Rückkehr zur Politik, Ostfildern 2013.
–  Avishai Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Frankfurt 2012.
–   Judith Shklar, Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl, Frankfurt 1997.

© Jürgen Manemann

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