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Schwerpunktbeitrag: Was lässt uns moralisch handeln? Zur Debatte zwischen Internalisten und Externalisten

Veröffentlicht am 29. September 2014

Foto Döring

Foto Königs

Sabine Döring / Peter Königs

Angenommen, Sie beobachten, wie jemand seine Brieftasche verliert. Da niemand anders in der Nähe ist, könnten Sie die Brieftasche vermutlich einstecken, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Sie könnten die Brieftasche auch einfach liegen lassen, wenn Sie an Geld nicht interessiert sind. Was könnte Sie dazu bewegen, dennoch dafür zu sorgen, dass der Eigentümer seine Brieftasche zurückerhält? Genau betrachtet stellen sich hier gleich zwei Fragen:
1.         Gibt es jenseits des Eigeninteresses einer Person normative Gründe, die es rechtfertigen, moralisch zu handeln?
2.         Was motiviert eine Person dazu, moralisch zu handeln?

In beiden Fragen stehen sich in der Philosophie der Gegenwart sogenannte „Internalisten“ und „Externalisten“ gegenüber. Internalisten bezüglich normativer moralischer Gründe – auch „Rationalisten“ genannt – behaupten, dass die Moral uns notwendigerweise normative Gründe gibt: Es gehöre zur Bedeutung bestimmter moralischer Begriffe wie moralischer Richtigkeit, moralischer Verpflichtung oder moralischen Sollens, dass es einen guten Grund gibt, ihnen entsprechend zu handeln. Da normative Gründe Handlungen rational machen (rechtfertigen), ist Moral damit ein Spezialfall praktischer Rationalität. Von Externalisten wird dies bestritten: Sie leugnen die rationale Autorität der Moral.

Vom Internalismus und Externalismus bezüglich normativer moralischer Gründe zu unterscheiden sind Internalismus und Externalismus bezüglich moralischer Motivation. In dieser zweiten Debatte geht es darum, ob moralische Urteile notwendigerweise zum Handeln motivieren. Internalisten bejahen diese Frage, Externalisten verneinen sie. Für den Internalismus spricht, dass Diskrepanzen zwischen moralischem Urteil und tatsächlichem Handeln der Erklärung bedürfen. Sollten wir hier und jetzt aufrichtig äußern, dass wir Glücksspiel für moralisch verwerflich halten, und Sie erwischten uns heute Abend im Spielcasino, bedürfte das einer Erklärung, etwa dergestalt, dass wir gelogen haben oder uns zumindest über unsere eigenen Überzeugungen nicht im klaren waren. Man könnte auch vermuten, dass wir willensschwach sind oder einfach nur referiert haben, was allgemein für moralisch gehalten wird. Entscheidend ist, dass in diesem Fall unser Handeln eine Erklärung verlangt, weil wir davon ausgehen, dass unsere moralischen Urteile einen direkten Einfluss auf unser Handeln haben.

Wie aber motiviert uns die Moral? Kann es überhaupt Motive jenseits dessen geben, was wir immer schon wollen? Ein klares Nein auf diese Frage gibt David Hume. Ihn und seine Nachfolger eint die weit über die Philosophie hinaus verbreitete Auffassung, dass Vernunft und Wissen allein nicht zum Handeln motivieren können. Stattdessen gehe alle motivierende Kraft von den „konativen“ Einstellungen der handelnden Person aus, die in ihrer Gesamtheit den „kognitiven“ Urteilen der Vernunft entgegengestellt und technisch als „Pro-Einstellungen“ bezeichnet werden, oftmals auch schlicht als „Wünsche“. Gemäß der Standardinterpretation sind Wünsche dabei rein funktionale Handlungsdispositionen.

Aus der Humeschen Theorie der Motivation ergibt sich eine moralskeptische Auffassung, wenn man sie mit der These verbindet, dass ein normativer praktischer Grund, der eine Handlung rechtfertigt, in dem Fall, dass eine Person tatsächlich aus ihm handelt, die Handlung zugleich erklären können muss. Diese weit verbreitete „Identitätsthese“ setzt voraus, dass normative praktische Gründe motivierende Kraft haben. Entbehrten sie dieser, könnte ihre faktische Handlungswirksamkeit immer nur durch ein externes, d. h. dem Grund bloß äußerliches Motiv erklärt werden. Wir würden niemals etwas einfach deshalb tun, weil wir es für richtig halten. Die Identitätsthese soll genau diese Möglichkeit des Handelns aus einem Grund (und nicht bloß in Übereinstimmung mit diesem) gewährleisten, die den Kern unserer Vorstellung rationalen Handelns ausmacht. Wenn nun erstens ein normativer praktischer Grund motivierende Kraft haben und die Handlung des Akteurs in dem Fall, dass er aus diesem Grund handelt, auch erklären können muss, und zweitens ein Akteur allein durch seine Wünsche zum Handeln motiviert werden kann, dann folgt, dass alle praktische Begründung von Wünschen ausgehen muss. Bernard Williams, der dieses „Motivationsargument“ formuliert, nennt die sich auf diesem Wege ergebenden normativen Gründe „interne Gründe“ und unterscheidet sie von bloß vermeintlichen „externen Gründen“ ohne Anbindung an die subjektive motivationale Verfassung des Akteurs. Da es externe Gründe nach Williams nicht geben kann, hätte ihm zufolge in dem Eingangsbeispiel der Finder nur dann einen Grund, die Brieftasche zurückzugeben, wenn vernünftige Überlegung im Ausgang von seinen Wünschen dies geböte. Jenseits dieser kontingenten Wünsche gäbe es keinen normativen Grund und keine Moral.

Während die Identitätsthese bestenfalls abgeschwächt, schwerlich aber preisgegeben werden kann, sind die Einwände gegen die Humesche Theorie der Motivation und die Konklusion des Motivationsarguments Legion. Offen bleibt nicht nur, warum wir davon ausgehen sollen, dass am Anfang einer jeden Begründungskette notwendig ein Wunsch stehen muss und nicht ebenso gut eine rationale Einsicht den Auftakt machen kann. Insbesondere fragt sich, inwiefern im Ausgang von rein funktionalen Handlungsdispositionen überhaupt normative Gründe etabliert werden können. Warren Quinn liefert das meistdiskutierte Gegenbeispiel: Radioman, der den Drang verspürt, jedes beliebige Radio einzuschalten, ohne dabei der Handlung selbst oder dem, was sie herbeiführen würde, irgendeinen Wert beizumessen, indem er etwa Musik oder Nachrichten hören oder einfach nur die Stille vermeiden wollte. Nach Quinn zeigt dieses Beispiel, dass Wünsche Handlungen zwar erklären, nicht aber rational machen können: Selbst wenn durch die Handlung der bizarre Wunsch des Akteurs erfüllt wird, hätte dieser sich nicht besser irgendwie davon befreien sollen?

Ist aber Radiomans Drang überhaupt ein Wunsch? Viele Philosophen, unter ihnen Thomas M. Scanlon, fechten grundsätzlich die Interpretation von Wünschen als rein funktionalen Handlungsdispositionen an. Ihrer Analyse nach implizieren Wünsche begrifflich die Bewertung des Gewünschten als gut. Der Humeaner kann dieser Analyse klarerweise nicht zustimmen. Denn damit hängt, ob eine Person einen Handlungsgrund hat, nicht länger davon ab, ob die Handlung einen Wunsch von ihr erfüllt. Vielmehr ist die Person umgekehrt erst dann zu einer Handlung motiviert, wenn sie die Handlung als gut bewertet. Erst diese Bewertung liefert ihr einen Grund und zugleich ein Motiv für die Handlung.

Sofern Wünsche in dieser Analyse zu Werturteilen werden, hätten damit Urteile für sich genommen motivierende Kraft. Während Kantianer und andere Anti-Humeaner ebendies behaupten, hält Scanlon die Motivationsfrage für falsch gestellt. Statt zu fragen, ob rationales und moralisches Handeln durch Wünsche oder Urteile motiviert sei, müssten die irreduziblen normativen Gründe verstanden werden, die solchem Handeln zugrunde liegen; die Motivationsfrage erledige sich damit von selbst. Neben dieser umstrittenen These bietet aber gerade Scanlon eine Interpretation von Wünschen an, die ein von Grund auf neues Bild praktischer Rationalität und Moral ermöglicht.

Nach Scanlon sind Wünsche präreflexive Wertungen, die unsere Aufmerksamkeit steuern: Ein Wunsch fokussiere unseren Blick auf jene Aspekte, die wir wegen unseres Wunsches geneigt sind, als Grund anzusehen. Scanlon weist so darauf hin, dass all unser praktisches Überlegen immer schon von vorgängigen Wertungen ausgeht, vermittels derer wir aus dem Raum der Gründe ganz bestimmte auswählen. Kraft seines Wunsches, mehr Geld zu besitzen, könnte der Finder der Brieftasche lediglich oder jedenfalls primär diejenigen Aspekte sehen, die dafür sprechen, sie unbemerkt in seinen Besitz zu bringen. Hätte er andere Wünsche – gar etwa den von Scanlon in seinen frühen Schriften postulierten Wunsch, nur aus solchen Gründen zu handeln, die niemand vernünftigerweise zurückweisen kann –, nähme er (auch) andere Aspekte wahr.

Gegen Scanlon, der bestreitet, dass präreflexive Wertungen unabhängig von normativen Gründen zum Handeln motivieren können, schreiben andere (etwa Mark Johnston und die Autorin dieses Beitrags) diesen Wertungen selbst motivierende Kraft zu und deuten sie zugleich als Kognitionen, die normative Gründe aufspüren können und hierin sogar manchmal unseren Urteilen überlegen sind. So verstanden lassen sich präreflexive Wertungen mit Emotionen identifizieren, sofern diese, wie heute gängig, als wahrnehmungsähnliche Wertungen analysiert werden, vermittels derer wir Dinge unmittelbar als gefährlich, ärgerlich, beschämend, bewundernswert oder auch ungerecht erfassen. Offen bleibt allerdings, ob damit Emotionen selbst normative praktische Gründe liefern oder ob sie zunächst Werturteile und über diese dann normative bzw. Verpflichtungsurteile rechtfertigen, die dann ihrerseits erst Gründe geben.

Wie auch immer diese Frage beantwortet wird, sind es in diesem Bild die Emotionen, die uns zum Handeln bewegen. Damit sind wir einerseits wieder bei Hume selbst, der anders als heutige Humeaner nicht Wünschen, sondern Emotionen motivierende Kraft zuschreibt. Anders als bei Hume werden allerdings Emotionen, indem sie mit Wahrnehmungen verglichen oder sogar identifiziert werden, kognitiv reinterpretiert. Und noch in einer anderen Hinsicht ist dieses Bild zugleich neu und alt, nämlich insofern als der Wahrnehmung eine ausgezeichnete Rolle für die Moral zugebilligt wird. Werden in der neuzeitlichen Ethik Handlungen an Prinzipien (wie dem Kategorischen Imperativ oder dem utilitaristischen Prinzip) getestet, scheint es wieder wie bei Aristoteles möglich, unmittelbar zu „sehen“, was gut oder richtig ist – wobei dieses Sehen die Motivation immer schon miteinschließt.

Gibt uns die Moral aber überhaupt normative Gründe? Setzen wir voraus, dass Emotionen nur auf dem Weg über Verpflichtungsurteile Gründe geben können, und kehren wir damit zu der rationalistischen These zurück. Deren Richtigkeit entscheidet sich an der Person der Amoralistin. Die Amoralistin erkennt an, dass sie moralische Pflichten hat, fragt aber: „Was gehen mich diese Pflichten an? Welchen Grund habe ich, moralisch zu sein?“ Externalisten bezüglich normativer Gründe bestehen darauf, dass die Amoralistin eine sinnvolle und völlig berechtigte Frage stellt und folglich der Internalismus bzw. Rationalismus, der ja eine begriffliche Verknüpfung von Moral und normativen Gründen behauptet, falsch sein muss. Rationalisten entgegnen, dass die amoralistische Frage unsinnig sei und davon zeuge, dass die Bedeutung moralischer Termini nicht verstanden ist.

Die Intuitionen über die Bedeutung moralischer Terme gehen hier offensichtlich auseinander, und letztlich ist ja auch die Amoralistin des Externalisten nichts weiter als die Artikulation solcher Intuitionen. Lässt sich der Streit dennoch lösen? Eine Möglichkeit bestünde darin, dem Problem über einen Umweg beizukommen, indem wir die Reaktion auf amoralisches Verhalten betrachten. Folgendermaßen ließe sich für die rationalistische These argumentieren: Auf völlig irrationales und unverständliches Verhalten reagieren wir mit Befremden. Unser Befremden repräsentiert die Handlung als irrational. Da wir auch auf amoralisches Verhalten mit Befremden reagieren, ist die rationalistische These korrekt.

Zwei Beispiele: Stellen wir uns zunächst ein Verhalten vor, dass wir umstandslos und eindeutig als praktisch irrational einstufen würden. Eine Person möchte an einem heißen Sommertag ein Eis kaufen. Sie steht an der Eisdiele, geht dann jedoch weiter und erklärt, dass ihr einfach nicht klar ist, warum sie Grund hat, ein Eis zu kaufen. Hier liegt ein klarer Verstoß gegen praktische Rationalität vor, auf den wir mit Befremden reagieren.

Betrachten wir nun die externalistische Amoralistin: Sie sieht, wie jemand seine Brieftasche verliert. Sie (an-)erkennt, dass es ihre moralische Pflicht ist, den Betroffenen darauf aufmerksam zu machen bzw. dafür zu sorgen, dass die Person ihre Brieftasche zurückerhält. Sie selbst hat auch kein Interesse an dem Geld. Statt aber die Brieftasche aufzuheben und zurückzugeben, lässt die Amoralistin sie einfach liegen und erklärt, dass ihr nicht klar ist, warum sie Grund hat, dafür zu sorgen, dass die Person ihre Brieftasche zurückerhält. Auch dieses Verhalten finden wir befremdlich, und auch hier repräsentiert unser Befremden das Verhalten als rätselhaft bzw. irrational.

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir nicht mit Verwunderung oder Empörung reagieren. Empört wären wir, wenn die Amoralistin sich aus Boshaftigkeit vorsätzlich über das von ihr anerkannte moralische Gebot hinwegsetzen würde; aber bei der Amoralistin scheint Empörung gar nicht zu greifen. Ebenso wenig würden wir ihr Verhalten mit Verwunderung quittieren. Verwunderung impliziert, dass wir vermuten, dass für die Handlung noch sinnvolle Gründe gegeben werden können, die uns lediglich unbekannt sind. Zugegeben: Die Handlung könnte uns zunächst verwundern. Wir fragen uns, warum die Person die Brieftasche nicht einfach zurückgegeben hat. Wir erwarten also, dass es einen Grund für das Verhalten gibt, etwa dass sie völlig gedankenverloren war oder den Kontakt mit fremden Menschen scheut. Wenn wir dann jedoch erfahren, dass der Amoralistin schlechterdings unklar war, welchen Grund sie hatte, die Brieftasche zurückzugeben, wird aus Verwunderung Befremden. Das Verhalten erscheint uns befremdlich, eben weil es unverständlich und irrational auf uns wirkt.

Mögen unsere sprachlichen Intuitionen vage sein: Auf konkrete amoralische Verhaltensweisen reagieren wir mit Befremden, mit einer kognitiven Emotion, die das Verhalten als irrational repräsentiert. So machen uns unsere emotionalen Bewertungen auch klar, dass wir Rationalisten sind.

Sabine Döring ist Professorin für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Universität Tübingen.

Peter Königs ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Sabine Döring.

(c) Sabine Döring, Peter Königs

Erstveröffentlichung in FIPH-Journal Nr. 19 (Frühjahr 2012), S. 22-23.

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1 Kommentar

  1. Eine alte Frage.

    Mir scheint am plausibelsten:

    Der Mensch, die Gesellschaft(en) koennen nur

    – evolutuv bedingt –

    ueberleben, wenn sie statt nur egoisich

    auch altruristisch „ausgestattet“ sind…..

Beitragsthemen: Moral

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