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Schwerpunktbeitrag: Der Lärm der Demokratie

Veröffentlicht am 30. September 2013

Christian Grabau

Der Demokratie ist immer ein „Exzess“ (Rancière) eingeschrieben, ein Lärm der mannigfaltigen Interessen, Vorlieben und Strategien, den dieselbe Ordnung, die ihn hervorgerufen hat, wieder in geordnete Bahnen lenken will. Während in der attischen Demokratie versucht wurde, das Stimmengewirr architektonisch zu beherrschen, ist es in der Moderne vor allem die Pädagogik, welche das Einvernehmen in die Körper und Herzen der Staatsbürger einschreiben und die Macht der Sprache zähmen soll. Dass ihr das nicht abschließend gelingen kann und sich der Lärm immer wieder Gehör verschafft, ist das demokratische Paradox, welches Regierungen ebenso beunruhigt wie die politische Philosophie. Das ist der Einsatzpunkt des Beitrags, der zu zeigen versucht, was passiert, wenn die Vielstimmigkeit plötzlich anhebt, Mehrdeutigkeiten für Überraschungen sorgen und Orte, die dafür eigentlich nicht vorgesehen sind, zu politischen Bühnen werden, auf denen sich Leute treffen, die sich eigentlich nichts zu sagen haben.

Emile und das „Übel des überstürzten Sprechenlernens“
In seiner Studie Fleisch und Stein hat Richard Sennett zwei Sprechsituationen in der attischen Demokratie ausgemacht, die beide auf ganz unterschiedliche Weise eine „Gefahr für die Sprache“ darstellten. Die eine ist mit dem offenen Platz, die andere mit dem Theaterraum verknüpft, mit dem „Stimmengewirr“ auf der einen, der erhitzenden Rede auf der anderen Seite. Die Agora, der zentrale Platz Athens, war ein Ort hektischer Betriebsamkeit. Die Bürger kamen und gingen, bewegten sich durch die Massen, stießen aneinander, blieben stehen, bildeten Gruppen, unterhielten und zerstreuten sich wieder. Bei der Bewegung im städtischen Raum ist der Zufall immer mit im Spiel. Wem man begegnet, wohin es einen treibt, welche Gesprächsfetzen das Ohr finden, welche Geschichten (oder Bruchstücke von ihnen) man mitbekommt, lässt sich kaum voraussehen. Was für den Flaneur reizvoll sein kann, ist für die Politik ein Skandal. Sie verlangt Aufmerksamkeit, Kontinuität und Ordnung. „Die Athener schufen deshalb“, berichtet Sennett, „einen Ort für die dauerhafte Wahrnehmung der Sprache im Beratungshaus (bouleuterion) auf der westlichen Seite der Agora; dort wandten sie ein Gestaltungsprinzip an, das dem der Gleichzeitigkeit des offenen Platzes entgegengesetzt war.“ (Sennett 1997, 71) Das Prinzip erinnerte an das Theater und war somit eines der Trennung. Während auf der Agora die Rollenverteilung situativ und zufällig war, gab es im Theater Zuhörer auf der einen und Redner auf der anderen Seite. Die zur Bühne gewendeten ansteigenden Sitzreihen lenkten den Blick auf den Redner, der darauf zählen konnte, gehört zu werden. Die Anordnung verstärkt nämlich seine Worte, während sich die der Zuschauer auf dem Weg nach unten verlieren. (Vgl. ebd., 74) Die unvorhergesehene Begegnung wird von einem geordneten Blick- und Hörarrangement abgelöst, das, wie Sennett anmerkt, ambivalente Effekte hatte: Die Zuhörer wurden zu „Gefangenen der einzelnen Stimmen“ (ebd., 83), was wohl ihre Aufmerksamkeit lenken, gleichzeitig aber auch gefährliche Leidenschaften entfachen konnte. Die Kraft der Rhetorik gefährdete aufs Neue die geordnete Aushandlung der kollektiven Angelegenheiten. Die „Macht der Vernunft“ ließ sich augenscheinlich nicht „in die Stadt hineinbauen“ (ebd., 82).
Die Massen, die das Wort ergreifen, werden zur ständigen Beunruhigung der demokratischen Regierung, die immer wieder versuchen wird, ihr Sprechen in Bahnen zu lenken. So ist die Frage, ob sich die „Macht der Vernunft“ nicht in die Körper und Herzen der Menschen einschreiben ließe, ein Einsatzpunkt moderner Pädagogik. Bei Rousseau, der als einer ihrer maßgeblichen Wegbereiter gilt, lässt sich dies besonders gut nachverfolgen. Gleich, ob man den Emile oder den Gesellschaftsvertrag zur Hand nimmt, ist auffällig, wie sehr Sprache, Rede und Lärm Rousseau Sorge bereiteten. „Langandauernde Wortgefechte“ und „Uneindeutigkeiten“ sind ihm Anzeichen für den Verfall des Gemeinwesens. (Vgl. Rousseau 1966, 152) Wo die Rede anschwellt, „verstummt der allgemeine Wille“ (ebd., 150). Wo hingegen Einmütigkeit herrscht, ist jede Wortergreifung entbehrlich: Im weise regierten Staat spricht der, der ein Gesetz vorschlägt, immer allen aus dem Herzen, „und es ist nicht erst von Kabalen und Beredsamkeitsergüssen die Rede, um etwas zum Gesetz zu erheben, […].“ (Ebd., 150) Die Herrschaft des allgemeinen Willens ist mit der Ruhe, das Anwachsen der Privatinteressen mit dem Lärm verknüpft. Hier macht Rousseau zwei Sprechsituationen aus, die denjenigen in Athen ähneln. Neben dem Streit, der die Authentizität der volonté générale untergräbt, ist dies die lautstarke Akklamation einer Vergötterung oder Verfluchung. Die Zustimmung zum allgemeinen Willen ist also sowohl den lärmenden politischen Zänkereien als auch den johlenden Beifallsbekundungen entgegengesetzt, also dem geschäftigen Treiben auf den öffentlichen Plätzen auf der einen und den von der Hitze der Worte erregten Körpern im Auditorium auf der anderen Seite. Was die schlechte Einmütigkeit von der guten unterscheidet, ist das Wuchern der Rede. Während der Lärm ein Merkmal der Entfremdung ist, erscheint die sanfte Wortlosigkeit als Element ländlicher Übersichtlichkeit und Einfachheit. Dort, wo sich die Landleute treffen und die öffentlichen Angelegenheiten „unter einer Eiche entscheiden“ (ebd., 149), braucht es weder Argumente noch Redekunst.
Gleich, ob es sich um einen Streit oder um die einmütige Akklamation handelt, ist der Lärm der Versammlungen eine zivilisatorische Entartung. Das Gestammel, das Rousseau für städtisch wie für weibisch hält, und das Gejohle der Menge sind zwei Seiten des zivilisatorischen Barbarentums. (Vgl. Schneider 1997, 160) Hier wird der Pädagoge Rousseau ansetzen. Emile soll auf dem Land, fernab der Zivilisation aufwachsen. Die Sprache, die er dort lernt, ist einfach, klar und deutlich. Das „konfuse Gestammel der Stadtkinder“ (Rousseau 1963, 177) entspricht dabei offensichtlich der Zänkerei verfallender Staatswesen, während Emile ebenso wenige Worte braucht wie die Bürger, die dem Gemeinwillen zuneigen. Im Emile erscheint das Sprechen überhaupt verknüpft mit dem eigenen Vorteil. Was notwendig ist, erkennt der Erzieher, das Kind muss sich nur äußern, wenn es etwas will, was nicht notwendig ist. Die Erziehung Emiles wird darauf abzielen, das Sprechen weitgehend entbehrlich zu machen, indem das eigene Wollen der Notwendigkeit angeglichen wird. Wer der Notwendigkeit gehorcht (wie die Gesetzgeber im guten Staat; vgl. Rousseau 1966, 149f.), bedarf weder der instruierenden oder überzeugenden Rede, die an ihn gerichtet ist, noch der eigenen Wortergreifung, um zu widersprechen. „Ein Kind darf nicht aufs bloße Wort gehorchen; nichts ist für das Kind gut, als das, was es als solches fühlt.“ (Rousseau 1963, 377) Der Erzieher darf nicht instruieren, sondern soll dem Zögling aus dem Herzen sprechen. Die Identität von Notwendigkeit und Fähigkeit, von Sollen und Wollen, ist das Ziel, welche Emiles Erziehung leiten wird. Emile soll nur wollen, was ihm möglich, und auf das verzichten, was ihm nicht möglich ist. Nichts anderes bedeutet es für Rousseau, mit sich selbst identisch zu sein. „Dass sich Emile dem ,Gesetz der Möglichkeit und Unmöglichkeit’ beugt, ergibt sich aus dem Arrangement, um dessen Charakter Emile nicht weiß, das alles, was als möglich oder unmöglich erscheint, diktiert.“ (Schäfer 2002, 98) Der Erzieher gestaltet Situationen so, dass sie unter dem Schein der Freiheit die Handlungen Emiles vorbahnen. Seine Freiheit beruht darauf, keine Alternativen zu haben, und hierbei kommt der einfachen und eindeutigen Sprache eine Schlüsselrolle zu. Die Verbindlichkeit der Situation muss mit einer Verbindlichkeit der Sprache korrespondieren. Die Eindeutigkeit der Begriffe verbürgt die Eindeutigkeit der Situation, die der Erzieher geschaffen hat, und damit die Berechenbarkeit der Reaktion Emiles. Mehrdeutigkeiten – von Situationen wie auch von Begriffen – bringen die Einbildungskraft auf Abwege und gefährden die Identität von Wollen und Können. Emile hat zu lernen, fordert Rousseau deshalb, „das Wort in der ganzen Einfachheit seiner ursprünglichen Bedeutung“ (Rousseau 1963, 343) zu benutzen. Nur der entfremdete Mensch spielt mit Wörtern und Bedeutungen. „Emile ist seine Sprache. In ihr drückt er sich unvermittelt aus.“ (Schäfer 2002, 42) Identität setzt eine eindeutige Sprache voraus. Ihr Verfall beginnt wie der des Staates mit Uneindeutigkeiten, Missverständnissen und Täuschungen: „Das größte Übel des überstürzten Sprechenlernens der Kinder besteht nicht darin, daß die ersten Sätze, die man ihnen sagt, und die ersten Worte, die sie sprechen, für sie ohne jeglichen Sinn sind, sondern darin, daß sie für sie, ohne daß wir es bemerken können, einen anderen Sinn haben, als wir beabsichtigen; so daß, obwohl sie uns scheinbar ganz richtig antworten, sie zu uns sprechen, ohne uns verstanden zu haben und ohne daß wir sie verstünden. Gewöhnlich liegt es an solchen Mehrdeutigkeiten, daß uns die Kinder manchmal durch Äußerungen in Überraschung versetzen, denen wir Vorstellungen zuschreiben, die sie gar nicht gemeint haben.“ (Rousseau 1963, 179)

Das demokratische Paradox
Was es politisch bedeutet, wenn Mehrdeutigkeiten für Überraschungen sorgen, lässt sich vor allem dann ablesen, wenn Orte, die dafür eigentlich nicht vorgesehen sind, zu politischen Bühnen werden, auf denen sich Leute treffen, die sich eigentlich nichts zu sagen haben. Ein solcher Ort scheinen die Straßen Petrograds im Februar des Jahres 1917 gewesen zu sein: „Am Donnerstag, dem 23. Februar, stieg die Temperatur in Petrograd auf frühlingshafte 5 Grad unter Null. Die Menschen erwachten aus ihrem Winterschlaf, um die Sonne zu genießen und sich an der Jagd nach Nahrungsmitteln zu beteiligen. Auf dem Newski-Prospekt wimmelte es von Leuten, die etwas kaufen wollten. Das milde Wetter sollte bis zum 3. März anhalten – dem Tag, an dem das zaristische Regime stürzte. […] Es war, als ob die Menschen auf der Straße plötzlich durch ein weites Netzwerk von unsichtbaren Fäden miteinander verbunden wären, und das war es auch, was ihren Sieg gewährleistete.“ (Figes 2008, 334) Alexander Kluge hat dieses Phänomen im Anschluss an Jean-Paul Sartre eine „fusionierende Gruppe“ genannt. Die gemeinsame Praxis verbindet für einen kurzen Moment Menschen, die im Alltag völlig getrennte Leben führen. Kluge berichtet von einem Taschendieb, der über der Hitze des Gefechts das Stehlen, und einem Anwalt, welcher über der Wucht der Geschehnisse seine Rechtschaffenheit vergaß. (Vgl. Kluge 2011, 138f.) Menschen verstehen einander und verstehen sich doch nicht richtig. „Die Revolution ist – neben anderem – das Erleben eines Ereignisses des Einverständnisses und zugleich millionenfaches Missverständnis.“ (Adamczak 2012, 109) Was hier in Gang gesetzt wurde, zeigt ein seltsames, aber folgenreiches Missverständnis in der russischen Provinz Kasan. Die Bauern drängen auf die Umverteilung des Landes, während die provisorische Regierung zunächst eine gesetzliche Regelung schaffen möchte. Bis dahin will sie das adelige Land unangetastet lassen. Weil die alte Polizei zerschlagen ist, setzt sie Bezirkskomitees ein, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die Geschichte ging anders weiter, die Länder wurden enteignet und aufgeteilt. Ironischerweise verstanden die Komitees durchaus, dass die Landverteilung auf gesetzlicher Grundlage erfolgen sollte, und erließen kurzerhand eine solche. Am 13. Mai beschloss die Bauernversammlung in Kasan, die Ländereien der Provinz der eigenen Kontrolle zu unterstellen. Andere folgten ihr. „Die Bauern glaubten, diese Resolutionen ihrer Versammlungen besäßen den Status von ‚Gesetzen‘, und benutzten sie, um in den Sommermonaten weitere Landnahmen zu autorisieren. Den Unterschied zwischen der Erklärung eines allgemeinen Prinzips durch ihre eigene Bauernversammlung, die ja eigentlich nur eine öffentliche Organisation war, und der vollen Bekanntgabe von Regierungsgesetzen verstanden sie nicht.“ (Figes 2008, 391)
Es sollte nicht das einzige Missverständnis bleiben. Die Frage, wer Gesetze erlassen durfte, war ebenso strittig wie die, wer denn nun das Volk war, das sich von nun an selbst regieren sollte. Ein junger Offizier schrieb an seinen Vater: „Zwischen uns und den Soldaten liegt ein Abgrund, den man nicht überbrücken kann. Was immer sie von uns als einzelne denken mögen, wir bleiben in ihren Augen die barins (Herren). Wenn wir von ‚dem Volk‘ sprechen, denken wir an die Nation als Ganzes, aber sie verstehen darunter nur das einfache Volk. Nach ihrer Meinung hat nicht eine politische, sondern eine soziale Revolution stattgefunden, bei der wir die Verlierer und sie die Gewinner sind.“ (Zit. n. ebd., 403f.) Orlando Figes, der den Brief in seiner Geschichte der russischen Revolution zitiert, schreibt hierzu: „Die Bauernsoldaten teilten offensichtlich nicht die ‚staatsbürgerliche‘ Sprache ihrer Offiziere. Sie betrachteten die Revolution nicht in denselben Begriffen von bürgerlichen Rechten und Pflichten.“ (Ebd., 404)
Das Zerbersten der alten Ordnung produzierte zahlreiche solcher Missverständnisse, die nicht einfach auf einer Ungenauigkeit der Sprache beruhten, sondern auf einer Uneinigkeit darüber, wer überhaupt sprechen, wer entscheiden kann: Die Bauern reklamieren für sich, ihre eigenen Gesetze erlassen zu dürfen. Sie setzten sich als das Volk ein. Bini Adamczak hat diesen vielen kleinen und dem einen großen Missverständnis, dass alle einander verstehen würden, einen Essay gewidmet, der neben einigen komischen Episoden vor allem die Versuche rekonstruiert, dem Stimmengewirr Einhalt zu gebieten und „die aufgerufene Vielstimmigkeit der Revolution wieder zum Verstummen zu bringen“ (Adamczak 2012, 111). Die Radikalität und Brutalität, mit der das in Russland geschah, mochte sich von anderen Regierungsweisen unterscheiden – an die Stelle der Vielstimmigkeit das Einvernehmen zu setzen, ist genuiner Antrieb einer gesellschaftlichen Ordnung, die den Dämon des „demokratischen Exzesses“, den Lärm der massenhaften Wortergreifung, hervorgebracht hat und der von nun an beständig sein Haupt zu heben droht (vgl. Rancière 2011).
Als „gute“ demokratische Ordnung gilt gemeinhin diejenige, die den Exzess in Bahnen lenkt, einklammert oder aufschiebt. Aber sie ist vor dem, was sie erweckt hat, zu keinem Zeitpunkt sicher. Demokratie, die Abwesenheit eines Grundes für die Herrschaft, bedeutet immer den „Ruin der demokratischen Regierung“ (Rancière 2011, 15). Dort, wo Herrschaft der Zustimmung bedarf (sie also nicht auf reinem Zwang beruht), sieht sie sich mit einem Paradox konfrontiert. Mit der Zustimmungsfähigkeit setzt sie nämlich eine irreduzible Gleichheit voraus, welche die Frage provoziert, warum die, die regieren, regieren, und die, die regiert werden, regiert werden. Eine Situation, in der diese Frage nicht länger aufgeschoben, sondern virulent wird, nennt Jacques Rancière „Politik“. Demokratie ist dann keine politische Ordnung, keine Regierungsform, sondern „der Keil der Gleichheit, der objektiv und subjektiv im Herrschaftskörper steckt und verhindert, daß sich Politik in bloße Polizei verwandelt.“ (Rancière 2012, 93) Wenn Polizei der Name für alle Mechanismen ist, die jene Ordnung des „Sichtbaren und Sagbaren“ organisieren, „die dafür zuständig ist, dass diese Tätigkeit sichtbar ist und jene andere es nicht ist, dass dieses Wort als Rede verstanden wird, und jenes andere als Lärm“ (Rancière 2002, 40), dann ist Politik der seltene Akt, der diese Ordnung durchkreuzt. Sie aktualisiert für einen Moment die irreduzible demokratische Gleichheit, indem sie sie mit der herrschenden Ungleichheit konfrontiert. Die Aufteilung des Sinnlichen wird gestört, die Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkweisen, welche den Individuen zugewiesen sind, bekommen Risse.
Das heißt aber auch, dass das, was Demokratie ist, nicht genauer zu bestimmen ist. Sie bedeutet zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten etwas anderes. Stets signalisiert sie aber die Möglichkeit des Bruchs mit der gegebenen Ordnung, insofern sie auf deren Kontingenz verweist, auf die Grundlosigkeit der Herrschaft, die sich nicht mehr auf eine Bestimmung jenseits des Faktums der Herrschaft selbst beziehen kann. Wer herrscht, steht nicht auf sicherem Grund. Demokratie ist die Brüchigkeit der Ordnung selbst. Die Zuordnung von Positionen und Seinsweisen wird prekär. Als „Subjektivierung der Politik“ ist Demokratie dann gerade nicht gebunden an eine Identität, an eine bestimmte demokratische Seinsweise. Sie ist der Bruch mit einer Art und Weise zu denken und zu handeln, also „eine Ent-Identifizierung, das Losreißen von einem natürlichen Platz“ (ebd., 48), nicht die Bejahung eines Eigenen, ein Mitsichselbstgleichwerden, sondern ein Anderswerden. Es ist „nicht ihr Ethos, ihre ‚Seinsweise‘, die die Individuen zur Demokratie [befähigt], sondern der Bruch mit diesem Ethos, der erfahrene Abstand der Fähigkeit des sprechenden Wesens [zu] jeder ‚ethischen‘ Harmonie des Machens, des Seins und des Sagens.“ (Ebd., 111) Der Ruin der demokratischen Regierung ist auch immer der Ruin der stabilen Identität.
Demokratie ist nicht das Ziel, zu dem nur der richtige Weg zu wählen wäre. Das gilt sowohl für die Frage, wie demokratische Politik zu gestalten ist, als auch für das Problem, welche individuellen Dispositionen das Individuum für die Demokratie geeignet machen – das Problem also, was demokratische Identität ist und wie sie entsteht. Die Frage, die Rancière provoziert, lautete eher: Wann und wie entstehen demokratische Situationen? Wie kommt es, dass „einer der Gesprächspartner eines seiner Elemente (seinen Ort, sein Objekt, seine Subjekte…) anzuerkennen verweigert“? (Ebd., 68)
Er wird sie, das lässt sich vorwegschicken, nicht beantworten. Weil die Politik, welche die irreduzible demokratische Gleichheit für einen Moment aktualisiert, indem sie sie mit der herrschenden Ungleichheit konfrontiert, singulär ist – selten und lokal –, lassen sich ihre Bedingungen nicht bestimmen. Das entreißt sie den Führern und Experten: Wenn niemand wissen kann, wie Politik möglich ist, kann es niemanden geben, der es besser weiß als alle anderen. Sie können nicht aufklären über, sondern nur künden von (vgl. Rancière 2009, 150).

„I would prefer not to“
Das ist das Paradox des Politischen, der Politik als unbedingter Unterbrechung, das gleichzeitig eines der politischen Philosophie ist. Weil sie keine Bedingungen für politisches Handeln ermitteln kann, droht sich der Begriff der Politik zu entleeren. Das hat auch mit einer Skepsis gegenüber der Rede zu tun, aber einer, die ganz andere Quellen hat als Rousseaus Abneigung gegenüber den Fallstricken der Sprache. In welchen Zungen reden überhaupt diejenigen, die das Wort ergreifen? Können die Beherrschten nicht nur in der Sprache der Herrscher sprechen? Ist nicht jeder politische Streit in die Netze der Macht verstrickt? Hier kommt Bartleby ins Spiel. Bartleby wird in Herman Melvilles gleichnamiger Erzählung als Anwaltsgehilfe eingestellt, als Kopist. Der Leser weiß wie der Notar, der ihn einstellt, nichts über ihn. Er arbeitet still, aber eifrig, bis er eines Tages auf die Anweisung, etwas zu erledigen, „I would prefer not to“ antwortet. Er wird diese Formel im Laufe der Geschichte oft wiederholen, in verschiedenen Variationen. Was den Notar aber vor allem verstört ist, dass Bartleby bleibt. Die Formel ist keine Kündigung. Sie ist auch nicht der Prolog zu Forderungen, die der Kopist stellt. Bartleby bleibt einfach. Er wiederholt die Formel und er bleibt. Er isst, er trinkt, er wohnt sogar in der Anwaltskanzlei. Auch als der Notar umzieht, verlässt er die Räume nicht. So sehr sich der Notar auch bemüht, etwas über Bartleby herauszubekommen: Viel ist es nicht. Bartleby scheint keine Geschichte zu haben. (Vgl. Melville 2004)
Die zeitgenössische politische Theorie hat die Erzählung in Beschlag genommen. An die Stelle der detaillierten und streng chronologischen Bildungsgeschichte Rousseaus tritt die befremdliche Novelle Melvilles, die nichts erklären, sondern nur verstören will. Gleichzeitig, das ist diesen Theorien des Politischen gemein, nimmt das Gespür für Drastik zu. Bevor reiner Tisch gemacht werden kann, muss die Welt in möglichst dunkle Farben getaucht werden.
Weil es immer um den Einschnitt geht, den radikalen Bruch, sind Ton und Tenor entsprechend düster. Lasst, die ihr drin seid, alle Hoffnung fahren. Einer der meistdiskutierten politischen Flugschriften der letzten Jahre, Der kommende Aufstand des Unsichtbaren Komitees, setzt so ein: „Unter welchem Blickwinkel man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist aussichtlos. Das ist nicht die unwichtigste ihrer Eigenschaften.“ (Das Unsichtbare Komitee 2010, 5) Wichtig ist sie, weil sie den Hoffenden die Hoffnung und den Gläubigen den Glauben nimmt. Wenn eine Lösung nicht in Sicht ist, heißt es, den Blick ganz neu auszurichten. Wenn alles Stehende verdampft, bleiben nur die Bewegung und die Suche nach dem Neuen. „Noch zu warten ist Wahnsinn. Die Katastrophe ist nicht das, was kommt, sondern das, was ist.“ (Ebd., 75) Die Gesellschaft des Spektakels, auf die sich das Autorenkollektiv ebenso bezieht wie auf Giorgio Agamben, bietet keinen Ausweg bis auf einen, der gar keiner ist: den Notausgang. So ergibt sich die Notwendigkeit, die Welt in möglichst düsteren Farben zu malen. Es muss ein Feuer ausbrechen, um diese Ausgänge, die durch eine leuchtende Verneinung ihrer selbst markiert sind,[1] als Ausgänge zu erkennen. Wer durch sie heraustritt, muss sich zuvor der Hoffnung entledigt haben, noch etwas retten zu können. Das ist der Einsatzpunkt Bartlebys. Tiqqun, die mit dem Unsichtbaren Komitee eine Schnittmenge bilden dürften, rufen seine Formel – „I would prefer not to“ – auf dem Höhepunkt des Bürgerkrieges auf. (Vgl. Tiqqun 2012, 147) Sie ist Zeichen einer totalen Verweigerung, die sich nicht mehr in die Rückkopplungsschleifen der Macht einfügen lässt.[2] Jenseits der Macht zu sein, ist auch die Bestimmung von Giorgio Agambens Schreiber, den er zum Fixstern der „eigentliche[n] Sphäre der Politik“ (Agamben 2001, 9) macht, nämlich einer radikalen, „reinen“ Aussetzung der Regierungsmaschinerie. Für Slavoj Žižek öffnet Bartleby „den Raum für eine magische passive Revolution“ (Žižek 2012, 135), welche das Spiel von Macht und Gegenmacht selbst zersetzt. Gilles Deleuze wiederum liest (den vorangegangenen Interpreten ganz ähnlich, übersetzt nur in die eigene Sprache) Melvilles Erzählung als Konflikt um die Vaterfunktion, die von Bartleby radikal ausgehöhlt wird. „Ich möchte lieber nicht“ ist ein Ausdruck, der sich „der sprachlichen Form entzieht, den Vater seiner mustergültigen Sprechweise beraubt und ebenso dem Sohn seine Möglichkeit nimmt, zu reproduzieren oder zu kopieren.“ (Deleuze 1994, 30) Die Formel ist unerbittlich, sie „wirkt verheerend und verwüstend, und läßt nichts übrig.“ (Ebd., 12) Sie lässt weder das gelten, auf das sie sich bezieht – was sie verneint –, noch erschließt sie eine Alternative. Das einzige, wofür sie einsteht, ist ein „Nichts an Willen“ (ebd., 14), also, in den Worten Agambens, „reine Potenz“, die in der Schwebe zwischen den Alternativen von Bejahung und Verneinung verharrt.
Das Problem, auf das der „Bartleby Hype der frühen 00er Jahre“ (Rebentisch 2009, 104) antwortet, ist das der Macht und das des Diskurses, also der Unmöglichkeit, einen Anfang zu machen, ohne sich in dem Spiel von Reden und Gegenreden, Kräften und Gegenkräften zu verfangen. Es ist das Problem der Wortergreifung, das Michel Foucault auf eine so bemerkenswerte Art direkt zu Beginn seiner Inauguralvorlesung zum Thema macht, noch bevor es als solches benannt hat. Der Redner, der auf die Bühne tritt und das Wort ergreift, ist schon längst von ihm „umgarnt“ worden. (Vgl. Foucault 1991, 9) Das Wort zu ergreifen ist also so doppeldeutig wie seine Stimme abzugeben, und es ist diese Doppeldeutigkeit, die Bartleby, dieser Mann ohne Bindungen und Referenzen, aufheben soll, indem er die Sprache selbst zersetzt. Die Macht der Sprache stellt für die scharfe Abgrenzung des Politischen von der Politik (in der Terminologie Rancières: Politik und Polizei) nämlich ein Problem dar. „Daß über einen Begriff des Politischen nachgedacht wird, erklärt sich aus dem Eindruck, daß das, was in seiner institutionellen und medialen Aufführungspraxis als Politik bezeichnet wird, nicht alles, eben nicht ‚das ganze Politische‘ sein kann. Denn was in der Gegenwart der liberalen Gesellschaften als Politik vermittelt wird, sind im wesentlichen Teilprozesse eines Funktionssystems, das sich verselbstständigt zu haben und im institutionell ablaufenden Interessenabgleich mit mehr oder minder eingeschränktem Handlungsspielraum zu erstarren scheint. Der Begriff des Politischen jenseits dieser als Gesamtheit der Politik verstandenen Prozeduren wäre dann ein kritischer Begriff, der von der ‚bloßen Politik‘ positiv abgehoben wird.“ (Bedorf 2010, 232f.) Dabei hat dieser Gegenbegriff zur Politik weder einen Grund noch ein Ziel, das heißt, „daß das Politische, gleichgültig, ob es als Raum, Ereignis oder leerer Ort konzipiert wird, wesentlich Kontingenz ist.“ (Ebd., 233) Es gibt kein Wissen von dem Politischen, das tradiert werden könnte, und damit auch kein Wissen, das einen privilegierten, nämlich wissenden Standpunkt von einem unwissenden trennt: Der Begriff des Politischen soll das Experten- und Führertum sabotieren, auch und gerade das gut gemeinte. Er gründet dabei ganz wesentlich auf den Erfahrungen der Generation, die 1968 auf der Straße war. Pierre Bourdieu notierte etwa mit Blick auf das Aufeinandertreffen von Studenten und Arbeitern, „daß der Akt des Wortergreifens, von dem während und nach den Mai-Ereignissen so viel die Rede war, immer ein Ergreifen der Worte der anderen ist oder vielmehr: ihres Schweigens – […].“ (Bourdieu 1992, 300) Foucault gibt zu Protokoll, die Geschichte der Besiegten zu schreiben, sei ein reizvolles Unterfangen, dass aber die Niederlage perpetuiere, weil es wiederhole, was ihnen zugefügt wurde: dass man ihnen die Stimme nimmt und in ihrem Namen spricht. (Vgl. Foucault 2003, 505) Die „Wortergreifung“ als politischer Akt (im Sinne des Politischen) hat hier ihren Ort, denn sie ist immer die unvorhergesehene Wortergreifung durch diejenigen, die eigentlich keine Stimme haben – wie die Bauern in Kasan, die nicht warten wollten, bis ihre Repräsentanten Gesetze aushandeln. Das Problem wird sein, die Unbedingtheit und Offenheit dieser Wortergreifung zu denken, die erst eine Störung der Ordnung möglich machen. „Und wenn sie [die Besiegten] dennoch sprächen, täten sie es nicht in ihrer eigenen Sprache. Man hat ihnen eine fremde Sprache aufgezwungen. Sie sind nicht stumm. Und sie sprechen auch keine Sprache, die man nur nicht gehört hätte und die anzuhören man sich nun verpflichtet fühlte. Eben weil sie unterworfen worden sind, hat man ihnen eine Sprache und fremde Begriffe aufgezwungen. Die aufgezwungenen Ideen sind die Narben der Unterdrückung, der sie ausgesetzt waren. Narben und Spuren, die ihr Denken und selbst noch ihre Körperhaltung prägen.“ (Ebd.)
Deshalb muss Bartleby ein Mann ohne Geschichte und ohne Eigenschaften sein. Er ist eine Figur ohne „Stigmata vergangener Ereignisse“ (Foucault 2002, 174), welche die Wahrnehmung strukturieren und das Denken in Bahnen lenken. Bartlebys Formel treibt einen Keil zwischen die Möglichkeiten und den Akt, der selegiert, indem er eine Möglichkeit realisiert und derart die anderen unmöglich macht. Das meint Agambens „reine Potenz“. Sie bezeichnet einen Zustand, in dem noch alles möglich und noch nichts entschieden ist. Bartleby entzieht sich dem Problem des Anfangens. Hier wird auch eine Ambivalenz offenkundig: Indem Agamben seine Herrschafts-Paradigmen immer auch historisch-konkret verortet – Oliver Marchart schreibt, er setze sie „nicht allein als ontologisch-transzendentale Operatoren ein, sondern füllt sie mit ontisch-empirischem Gehalt“ (Marchart 2010, 232) –, scheint die Geschichte so abgedichtet, ohne „Risse und Schründe“ (Adorno), dass jeder Widerstand, jede Möglichkeit, anders wahrzunehmen, anders zu denken oder zu handeln, nicht von dieser Welt sein kann.

Der blinde Fleck des Politischen
Wenn im Emile eine Macht der Erziehung offengelegt wird, welche die Gefahren der Sprache bannen und die Möglichkeit des Vernehmens ohne Einvernehmen, der Vielstimmigkeit ver-schließen soll, wie kann dann eine Pädagogik aussehen, welche diese Möglichkeit offen hält? Diese Frage scheint ein blinder Fleck der Theorien des Politischen zu sein, zumindest dann, wenn sie das politische Moment außerhalb von Machtstrukturen verortet. Selbst Rancières Lehrmeister markiert nur eine Unterbrechung der pädagogischen Maschine.[3] Das Misstrauen gegenüber der Rede ist zugleich eines gegenüber der Pädagogik. Wenn die Macht des Diskurses darin besteht, dass die Sprache immer eine bestimmte Interpretation der Welt auferlegt, dann ist es die Erziehung, die den Diskurs in die Kinder einschreibt. (Vgl. Foucault 1991, 29f.) Eine Sprache zu lernen und zu sprechen heißt auch immer, sich in eine soziale Ordnung einzufügen, sie zu verinnerlichen. Es heißt auch, das ist der Gegenstand Bourdieus, eine Position im gesellschaftlichen Gefüge einzunehmen und die „passenden“ Wahrnehmungs- und Handlungsweisen einzuüben. Die Art und Weise zu sprechen verrät die gesellschaftliche Herkunft, sie lässt nicht nur den anderen, sondern einen selbst erkennen, wo man hingehört. Bourdieu geht nun davon aus, dass eine Pädagogik, die der Reproduktion der sozialen Ungleichheit widerstreitet, die faktische Ungleichheit in Rechnung stellen muss. Wenn die Ungleichheit sich in der Art und Weise zu denken, zu sprechen und zu handeln einnistet, kann sie nicht anders, als sich in gewissem Sinne gegen die Zöglinge zu richten, indem sie „den Fluss des Selbstverständlichen“ (Meyer-Drawe 2012, 202) unterbricht. Rancière hält Bourdieu nun vor, dass eine Pädagogik, die Ungleichheiten beschreibt, sie zugleich festschreibt. Sie markiere einen Abstand von Gebildeten und Nicht-Gebildeten, den zu überwinden erfordere, dass die Unterprivilegierten sich als solche erkennen. Gerade das ver-setze sie aber in Abhängigkeit, weil der aufgeklärte, wohlmeinende Pädagoge[4], der die Un-gleichheit aufdeckt, das Vertrauen in ihre Intelligenz zerstöre.
Paulo Freire hatte dieses Problem zum Ausgangspunkt seiner „Pädagogik der Unterdrückten“ gemacht und dabei einige wichtige Hinweise auch für die Theorie des Politischen formuliert. Die armen Massen in den Randbezirken lateinamerikanischer Städte oder auf dem Land sehen sich selbst, wie ihre Unterdrücker sie sehen: als rückständig, bildungsunfähig und der Führung bedürfend.[5] Wenn sie eine Sprache lernen, dann ist es die Sprache der Eliten, die es ihnen nicht erlaubt, ihre Erfahrungen von Ausgrenzung und Not zu artikulieren. Alphabetisierungskampagnen müssen daher an die konkreten Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Bauern und Proletarier anschließen. Das bedeutet nicht, wie es in der heutigen Didaktik gerne heißt, sie dort abzuholen, wo sie stehen, sondern den Ort, an dem sie zu stehen verdammt sind, zum Problem zu machen. „Indem man bestimmte grundlegende Widersprüche aufgreift, muß man diese existentielle, konkrete und aktuelle Situation dem Volk als Problem darstellen, das herausfordert und eine Antwort verlangt, nicht bloß auf der intellektuellen Ebene, sondern auf der Ebene des Handelns.“ (Freire 1972, 104) Die „Aufteilung des Sinnlichen“ selbst soll thematisiert werden, um sie zu verändern, und man muss sie schon verändert haben, um sie zu thematisieren. Das pädagogische Verhältnis muss immer zugleich vorausgesetzt und entsetzt werden. Das macht es so schwierig, eine Erziehung zur Wortergreifung, eine Erziehung zur Demokratie zu denken. Sie müsste sich gegen die „Verinnerlichung des Schicksals“ (Bourdieu) richten, die eine Durchkreuzung der Ordnung erst möglich macht, und zugleich die Ordnung schon durchkreuzt, das hierarchische Verhältnis von Wissenden und Unwissenden schon entsetzt haben. Freire hat darauf bestanden, dass diese Entsetzung Element des Pädagogischen sein kann, wenn sie sich als politische Pädagogik versteht, als demokratische insofern, als sie die Wortergreifung der Ausgegrenzten ermöglichen und die herrschende Ordnung von Rede und Lärm auf diese Weise stören soll. Es ist eine seltsame, aber bedenkenswerte Pointe, dass auch Walter Benjamin, auf den sich Theoretiker des Politischen wie Agamben immer wieder beziehen, das pädagogische Verhältnis als ein „Unverhältnis“ (Sternfeld 2009) gedacht hat, in dem sich die Konstituierung einer Hierarchie mit ihrer Entsetzung verschränken. „Haben wir einmal begonnen, im Ort uns zurechtzufinden, so kann jenes früheste Bild sich nie wiederherstellen“ (Benjamin 1955, 72). In diesem Denkbild spiegelt Benjamin die Erfahrung wider, dass wir niemals an den Ort zurückkehren können, von dem aus wir uns in eine ungewisse Zukunft bewegt haben. Wir gewinnen, indem wir verlieren, so dass wir auch im Hinblick auf uns selbst das Wort ergreifen müssen angesichts einer unüberwindlichen Fremdheit. Dieses Dilemma verweist auf ein prekäres, vielleicht genuin demokratisches Moment, in dem wir als Denkende, Sprechende und Handelnde zur Disposition stehen, in dem also die Ordnungen des Verstehens zugleich vorausgesetzt und entsetzt sind – mit ungewissem Ausgang.

Zitierte Literatur
Adamczak, Bini (2012): Hauptsache Nebenwiderspruch. Geschlechtliche Emanzipation und russische Revolution. In: Gruppe INEX (Hrsg.): Nie wieder Kommunismus? Zur linken Kritik an Stalinismus und Realsozialismus. Münster, 107-125.
Agamben, Giorgio (1998): Bartleby oder die Kontingenz, gefolgt von Die absolute Immanenz. Übersetzt von Andreas Hiepko und Maria Zinfert. Berlin.
Ders. (2001): Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Aus dem Italienischen von Sabine Schulz. Zürich.
Ders. (2003): Die kommende Gemeinschaft. Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko. Berlin.
Bedorf, Thomas (2010): Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik. Berlin.
Benjamin, Walter (1955): Einbahnstraße. Frankfurt a.M.
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Freire, Paulo (1972): Pädagogik der Unterdrückten. Vom Verfasser autorisierte deutsche Übertragung von Werner Simpfendörfer. Mit einer Einführung von Ernst Lange. Stuttgart.
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[1] Im Englischen steht über Notausgängen „This is not an exit“, was wie eine verwaltungstechnische Variante von René Magrittes Ceci n’est pas une pipe anmutet. Die Tür, die in der Bezeichnung verneint wird, kann aber noch in einer anderen Weise als Bild für das Ende der Hoffnung, die Ausweglosigkeit, dienen. So sind „This is not an exit“ die letzten Worte in Bret Easton Ellis‘ American Psycho. Sie verweisen auf die ersten – einem Graffiti „scrawled in blood red lettering on the side of the Chemical Bank“ –, und besiegeln somit die Unmöglichkeit, dieser amerikanischen Hölle zu entfliehen: „ABANDON ALL HOPE YE WHO ENTER HERE“ (Ellis 1991, 3).
[2] Die Terminologie des Unsichtbaren Komitees/Tiqquns gehorcht zuweilen der Walter Benjamins, vor allem aber George Sorels (auf den sich auch Benjamin bezog), wenn dieser streng die Ausdrücke Macht, welche die Ordnung aufrechterhält, und Gewalt, welche die Zerstörung der Ordnung anstrebt, auseinanderhalten will, um „keinerlei Zweideutigkeit“ zuzulassen. (Vgl. Sorel 1981, 203)
[3] Der „unwissende Lehrmeister“ soll allerdings auch nicht mehr sein, Rancière ist sich seines Zeitkerns bewusst. Zudem geht es Rancière nur am Rande tatsächlich um Pädagogik. Er bringt Joseph Jacotot eher gegen den fortschrittsgläubigen Reformismus in Stellung, der die Emanzipation immer auf morgen verschiebt.
[4] Auch ein „fortschrittlicher Erklärender ist zuallererst ein Erklärender, das heißt ein Verteidiger der Ungleichheit.“ (Rancière 2009, 150)
[5] „Sie hören so oft, daß sie zu nichts nutze sind, nichts wissen und unfähig sind, etwas zu lernen – daß sie krank sind, faul und unproduktiv – so daß sie schließlich von ihrer eigenen Unfähigkeit überzeugt werden.“ (Freire 1972, 63)

Christian Grabau ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Allgemeine Pädagogik der Ruhr-Universität Bochum. Vor Kurzem erschien seine Dissertation: Leben machen. Pädagogik und Biomacht, München: Wilhelm Fink 2013.

(c) Christian Grabau

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