InDepth – longread: Subjektivierung, Artikulation und Repräsentation. Identitätspolitik konstruktivistisch gedacht

Identitätspolitik wird heute in der politischen Öffentlichkeit und der politischen Theorie auf ähnliche Weise kritisiert.[1] Ein zentraler Topos dieser Kritik ist, dass Identitätspolitik essentialisierend sei: Sie schreibe Subjekte auf deren soziale Position fest und ergehe sich in einer Politik der Partikularität, die zu Spaltungen der nationalen Bürgerschaft und des demokratischen Diskurses sowie zu Spaltungen innerhalb gesellschaftskritischer Bewegungen führe. Entgegen dieser einseitigen Kritik schlagen wir mit dem Konzept der „konstruktivistischen Identitätspolitik“ eine andere Deutung vor: Wir zeigen, dass politische Identitäten nicht essentialistisch aufgefasst werden müssen, sondern aus sozialen und politischen Konstruktionsprozessen hervorgehen; dass sie aktiv durch politische (Sub-)Kulturen und Bewegungen hergestellt, erlernt und praktiziert werden.

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InDepth – longread: Wider die Ironie. Mit Christoph Schlingensief

Anne Specht

Kein Ausspruch Schlingensiefs wäre anlässlich seines heutigen Geburtstages treffender als dieser: „Ich bin nicht der geworden, der ich sein wollte.“[1] Ein Mann, der so vieles war: Regisseur, Parteigründer, Talkmaster, Aktionskünstler und schlussendlich Krebskranker. Bis zu seinem frühen Tod im Alter von 49 Jahren regte Schlingensief Debatten an, löste Empörung aus, ließ die Grenzen dessen, was Kunst ist, bzw. zu sein hat, hinter sich. Die Dynamik der Auseinandersetzung mit seiner Person war wesentlich von der Frage motiviert, ob er sich dabei mit Inhalten auseinandersetze oder nur ein neues Medium zur Selbstdarstellung und öffentlichen Provokation ausprobiere. Jene Kontroverse lädt zur Diskussion eines philosophisch oft bemühten Begriffs ein. Denn wer Uneindeutigkeit und Vielseitigkeit als Wendigkeit deutet, bemüht das Bild der Ironie. Dies wird zur Anklage, wenn unterstellt wird, dass Ironiker*innen jede aufrichtige Einsicht zu ihrer Person verwehrten. Eine Weigerung, die die emotionale Rezeption Schlingensiefs erklären könnte – sofern er als Ironiker begriffen werden kann?

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InDepth – longread: Figuren des Müßiggangs in Literatur und Philosophie oder von der Kunst, Schildkröten spazieren zu führen

Nassima Sahraoui

Prélude zu den Krisen einer aus den Fugen geratenen Zeit

Der vorliegende Beitrag lädt ein zu einem – wenn auch vielleicht etwas disruptiven, gar widerständigen – Spaziergang durch die Literatur- und Philosophiegeschichte.[1] Anhand einer Relektüre einiger ausgewählter Figuren des Müßiggangs, wie Friedrich Schlegels Idylle über den Müßiggang oder Walter Benjamins Flaneur, möchte ich die Paradoxien unserer gegenwärtigen durchökonomisierten Welt entschlüsseln und eventuell Ansatzpunkte zur Formulierung einer Kritik an den Dynamiken und Zeitlichkeitsvorstellungen derselben ausfindig machen. Und in der Tat scheint in Anbetracht der durch die Corona-Pandemie auf das Dramatischste beschleunigten Krisensituation nichts aktueller als sich, einmal mehr, mit den herrschenden Zeitmodi auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung kommt also zur rechten Zeit, als die „Zeit aus den Fugen“ geraten ist, wie es Schlegel und Tieck in ihrer Übersetzung des berühmten Shakespeare-Zitats den Hamlet ausrufen lassen.

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InDebate: Corona und Ausgangsbeschränkungen

Marcus Döller

Es scheint dieser Tage einen liberalen Konsens darüber zu geben, dass ein Rückzug ins Private und Häusliche geboten sei. „Stay Home! Stay safe!“ – so lautet die Anrufung. Der Gedanke des Rückzuges ins Private und Häusliche markiert dabei freilich selbst schon eine privilegierte Perspektive. Der Rückzug ins Private, Geschützte, Isolierte macht dabei zweierlei strukturelle Fehler: Zum einen naturalisiert er das Private und das „Zuhause“ als einen Ort der Sicherheit und des Rückzuges, der für viele nichts anderes als die Hölle sein muss. Zum anderen setzt dieser Gedanke das Private dem Politischen und damit öffentlich Verhandelbaren entgegen. Beide Fehler sind Grundfehler, die dem Liberalismus eingeschrieben sind und nun auf falsche Weise reproduziert werden.

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