InDepth – longread: Ich sehe, dass das falsch ist. Ein kurzer Einblick in die Philosophie der moralischen Wahrnehmung

Dr. des. Larissa Berger

Angenommen, man geht um die Ecke und nimmt eine Katze wahr. Man sieht, dass die Katze schwarz ist sowie eine bestimmte Form hat, und man hört sie Miauen. Es liegt eine ganz normale Wahrnhemungssituation vor. Nun stelle man sich aber die folgende geänderte Situation vor: Man geht um die Ecke und nimmt wahr, dass Jugendliche die Katze mit Benzin übergießen und anzünden.[1] Die allermeisten von uns werden dieser Situation gegenüber nicht moralisch indifferent sein: Wir sehen diese Situation und uns ist dabei unmittelbar bewusst, dass die Jugendlichen etwas moralisch Falsches tun. Dies erfordert kein großes Nachdenken. Wir wissen einfach um die Falschheit der Handlung der Jugendlichen. Aber wie genau gelangen wir zu diesem Wissen? Wie lässt sich unser unmittelbarer Zugriff auf die moralischen Eigenschaften der wahrgenommenen Situation philosophisch einholen?

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InDebate: Emotionen und Demokratie

Jürgen Manemann

Demokratie ist mehr als eine Regierungsform. Sie ist eine Lebensform. Und sie ist vor allem eins: ein Ereignis. Zur Demokratie befähigt werden wir durch unsere Leidempfindlichkeit, welche die Voraussetzung dafür ist, nicht nur das eigene Leid, sondern auch das Leid Ander*er wahrzunehmen. Demokratie zeichnet sich überdies durch eine Differenzsensibilität aus, die der Motor von Pluralität ist (für ausführliche Literaturhinweise zum Folgenden siehe Manemann 2019).

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Schwerpunktbeitrag: Moralisches Fühlen

Christian Thies

Wer sich aus philosophischer Sicht mit moralischen Gefühlen beschäftigen möchte, muss zunächst klären, was unter diesem Begriff zu verstehen ist. Das ist nicht einfach, denn philosophiegeschichtlich, empirisch-wissenschaftlich und lebensweltlich werden sehr unterschiedliche Ausdrücke verwendet, unter anderem „Empfindung“, „Affekt“ und „Emotion“. Als Grundbegriff eignet sich „Fühlen“. Das substantivierte Verb betont den prozessualen Charakter dieser Dimension menschlichen Daseins und verhindert vielleicht das Missverständnis, es handele sich um neurobiologisch, psychologisch und soziokulturell klar abgrenzbare Entitäten. Das Adjektiv „moralisch“ wird hier deskriptiv verwendet. Im weiteren Sinne soll es das Fühlen bezeichnen, das sich positiv oder negativ auf andere Personen oder soziale Situationen richtet; im engeren Sinne ist moralisches Fühlen ein unabdingbarer Bestandteil jedes sozialen Handelns. Weiterlesen

Schwerpunktbeitrag: Unbedachte Güte und die Ungerührtheit der Welt. Überlegungen zur zwischenmenschlichen Praxis des Umgangs mit moralisch wirksamen Gefühlen1

Foto Pape

Helmut Pape

I. Vorbemerkung, Klärung der Fragestellung und eine These

Die motivierende Rolle von Gefühlen ist für viele Moraltheoretiker häufig Anlaß zur Erfindung argumentativer Strategien, die im Namen der Rationalität deren Wirksamkeit leugnet oder durch Vernunft ersetzen will. Im Nachdenken über die moralische Richtigkeit des Handelns, so heißt es, sollten Gefühle keine Rolle spielen. Auch Kant z. B. hat immer wieder klar für die Ausschaltung motivierender Gefühle plädiert. Er hielt sie nicht für geeignet, um als Motivationen im moralischen Denken eine Rolle zu spielen. In der Grundlegung der Metaphysik der Sitten sagt Kant in diesem Sinne über den durch Mitempfinden motivierten Menschenfreund, daß dieser erst dann eine Chance hätte, sich moralisch zu verhalten, wenn er moralisch gefühllos geworden ist: Weiterlesen