Dominik Hammer/Jürgen Manemann
Sozialethiker sehen ihre Aufgabe bekanntlich darin, sich mit der Gestaltung gesellschaftlicher Institutionen und Rahmenbedingungen im Hinblick auf ein Mehr an Gerechtigkeit zu befassen. Dabei verstehen sie das Soziale aber oft als ein objektives Gebilde, dessen Formen von den einzelnen Menschen letztlich unabhängig sind. Genau hier lauern Gefahren:
Um nämlich gerechte Verhältnisse zu schaffen, braucht es Menschen, die in Politik und Gesellschaft für Gerechtigkeit streiten. Gerechtigkeitstheorien, die das engagierte Individuum aus dem Auge verlieren, bleiben deshalb im schlechten Sinne abstrakt, das heißt: Sie verändern nichts. Des Weiteren bedarf es Institutionen und Strukturen, in denen Werte wie Hoffnung, Gerechtigkeit, Toleranz einen höheren Stellenwert besitzen als das Überleben der eigenen Institution. Um die Gerechtigkeitsdiskurse für das noch nicht völlig vergesellschaftete Individuum und dessen Potenziale zu öffnen, ist die Sozialethik gut beraten, sich mit der Philosophie von Cornel West auseinanderzusetzen.
West wird nicht müde zu betonen, dass es für die Transformation der demokratischen Gesellschaft in eine gerechtere Gesellschaft des aufrechten Ganges bedarf. Die damit verbundene Haltung gründet in der Fähigkeit, zu lieben und einander anzunehmen. Cornel West philosophiert aus diesem Grund von unten her. Er setzt bei einzelnen Menschen und ihren Lebenserfahrungen an. Seine Philosophie ist eine zutiefst humane, das heißt für ihn, erdverbundene Philosophie, die in sokratischen Befragungen, prophetischer Weisheit und tragikomischer Hoffnung wurzelt. Die Basis des Zusammenlebens ist für ihn Liebe. An die Adresse der Politik gerichtet schreibt er: „You can’t lead the people if you don’t love the people.”; an die Aktivisten und Weltverbesserer: “You can’t save the people if you don’t serve the people.” Liebe ist für West die philosophische Kategorie schlechthin, Philosophie nichts anderes als Liebesweisheit. Als Motor sozialer Transformationen ist sie keine auf den Raum des Privaten reduzierte Kategorie: „Tenderness is what love looks like in private.“ – „Justice is what love looks like in public.“ Gerechtigkeit bedarf nämlich der permanenten Transformation, da sie mehr ist und tiefer greift als Gleichheit und Fairness. Gerechtigkeit zielt nicht nur auf den verallgemeinerten Anderen, sondern auf den konkreten Anderen in seiner Andersheit und Anderheit. Gerechtigkeit, die in Liebe wurzelt, besitzt für West eine spirituelle Dimension. Aus diesem Grund hätte Präsident Obama nach der Tötung bin Ladens nicht sagen sollen: „Es ist Gerechtigkeit geschehen“. Denn Krieg ist nicht der Kontext, in dem Gerechtigkeit geschieht. Obama habe die falsche Sprache benutzt. Das gilt auch für den Begriff des „Abschlusses“, den er benutzte. Was sollen die Angehörigen der Opfer der Terroranschläge dazu sagen? West zeigte sich skeptisch, ob diese durch den Tod bin Ladens Trost erfahren: „[…] als Hinterbliebener wirst du keinen tieferen Sinn im Leben eines geliebten Menschen finden, weil der Täter ermordet wurde.“
Wer Liebe zum Ausgangspunkt des Philosophierens macht, kann sich West zufolge nicht damit begnügen, Akademiker zu sein. Es reicht aber auch nicht aus, sich als „public intellectual“ zu begreifen. Die Aufgabe besteht darin, ein demokratischer Intellektueller zu werden, d.h., ein Intellektueller, der sich nicht nur in der Öffentlichkeit zu Wort meldet, sondern bei den Ängsten und Sorgen der Menschen ansetzt und diesen Stimme verleiht.
© Dominik Hammer / Jürgen Manemann
Buchtipps:
Cornel West: The Cornel West Reader, New York 1999.
Jürgen Manemann/ Yoko Arisaka/ Volker Drell /Anna Maria Hauk: Prophetischer Pragmatismus. Eine Einführung in das Denken von Cornel West, München 22013.
Videotipp:
Was ist Gerechtigkeit? Wer ist Cornel West? Wir erklären’s Euch! (Trickfilm des Philosophiekurses 12 des Gymnasiums Helene-Lange-Schule) https://www.youtube.com/watch?v=lB5caRl2cqw&feature=youtu.be
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