Impulsvortrag, gehalten im Haus am Dom/Frankfurt a.M. am 27. Juni 2025
1943 – Dietrich Bonhoeffer sitzt in Untersuchungshaft „in der Militärabteilung des Gefängnisses Berlin-Tegel“[1]. In dieser Situation treibt ihn die Frage um, wie das alles hat geschehen können. Ein zentraler Faktor ist für ihn „Dummheit“. Er schreibt:
„Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen, es läßt sich mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden (…). Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen. Niemals werden wir versuchen, den Dummen durch Gründe zu überzeugen; es ist sinnlos und gefährlich.“[2]
Dummheit hat jedoch für Bonhoeffer nichts mit einem Defizit an Intelligenz zu tun. Es handelt sich ihm zufolge um einen „menschlichen Defekt“. Menschen würden „dumm gemacht“ bzw. sie lassen „sich dumm machen“.[3] Dabei zeigten Menschen, die „abgeschlossen und einsam lebten“ seltener diesen Defekt „als zur Gesellung neigende oder verurteilte Menschen und Menschengruppen“.[4] Dummheit ist Bonhoeffer zufolge ein „soziologisches Problem“[5], eine „psychologische Begleiterscheinung bestimmter äußerer Verhältnisse“[6]. Für Bonhoeffer reicht es, genau hinzusehen, um zu erkennen, dass „jede starke äußere Machtentfaltung (…) einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt“[7]. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem „soziologisch-psychologische[n] Gesetz“[8]. Durch den „überwältigenden Eindruck der Machtentfaltung“ würde „dem Menschen seine innere Selbständigkeit geraubt“[9]. Und er fährt fort: „So zum willenlosen Instrument geworden, wird der Dumme auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfähig, dies als Böses zu erkennen.“[10]
Bonhoeffer zufolge wird der Kampf gegen die Dummheit nicht mit Argumenten geführt. Im Gegenteil! Wer der Dummheit mit Argumenten begegnet, löse beim Gegenüber „Bockigkeit“ aus. Der Versuch, Dumme in einen argumentativen Diskurs hineinzuziehen, läuft Gefahr, die Dummheit geradezu anzufeuern. Auch der Versuch, eine Beziehung zum Dummen aufzubauen, verfange nicht. Es gebe nur ein Mittel im Kampf gegen die Dummheit, und das sei die Befreiung, genauer die „innere Befreiung“. Aber diese setzte die äußere Befreiung voraus.[11]
Die Dummen sind allerdings nicht das einzige Problem. Wer über die Ausbreitung des Bösen spricht, der – so lässt sich in Anlehnung an Bonhoeffer sagen – darf auch nicht von den sogenannten „Vernünftigen“ schweigen. Bonhoeffers Blick auf diese Gruppe war von enttäuschender Ernüchterung geprägt. Ihnen warf er „Versagen“ vor.[12] Ihre naive Verkennung der Wirklichkeit, ihr Versuch, etwas Vernunft in das „aus den Fugen geratene Gebälk“[13] zu bringen, hätte nichts auszurichten vermocht. Die Folge: „Enttäuscht über die Unvernünftigkeit der Welt, sehen sie sich zur Unfruchtbarkeit verurteilt, treten sie resigniert zur Seite oder verfallen haltlos dem Stärkeren.“[14] Diese „naive Verkennung“ könnte auch, um einen Ausdruck von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zu benutzen, als die „Dummheit des Gescheitseins“[15] bezeichnet werden.
Aber nicht nur die sogenannten „Vernünftigen“ verfallen Bonhoeffers Verdikt. Er wendet sich auch gegen den „ethischen Fanatiker“[16]. Dieser hält dem Bösen die „Reinheit eines Prinzips“ entgegen mit der Folge: dass er „wie der Stier (…) auf das rote Tuch [stößt] statt auf dessen Träger, ermüdet und unterliegt. Er verfängt sich im Unwesentlichen und geht dem Klügeren in die Falle.“[17] „Klugheit“ steht hier für die extreme Hintertriebenheit des bösen Strategen.
Unverständnis spricht auch aus den Zeilen Bonhoeffers, die von den Menschen handeln, die immer noch glauben, selbst um „die Gefahr herumzukommen, bis es schließlich zu spät ist“[18]. Sie begründen, so Bonhoeffer, ihre Zurückhaltung ethisch: „Man will dem Schicksal nicht in die Räder greifen; innere Berufung und Kraft zum Handeln schöpft man erst aus dem eingetretenen Ernstfall; man ist nicht für alles Unrecht und Leiden in der Welt verantwortlich und will sich nicht zum Weltenrichter aufwerfen“. Aus psychologischer Perspektive diagnostiziert Bonhoeffer bei diesen Menschen, und das seien die meisten, einen „Mangel an Phantasie, an Sensitivität, an innerem Auf-dem-Sprunge-sein“[19]. Stattdessen üben sie sich in „solider Gelassenheit“, „ungestörte[r] Arbeitskraft und große[r] Leidensfähigkeit“[20]. Aber all diese Rechtfertigungen sollten nicht „darüber hinwegtäuschen, daß es diesen Menschen entscheidend an der Weite des Herzens mangelt.“[21]
Bonhoeffer warnt: „Tatenloses Abwarten und stumpfes Zuschauen sind keine christlichen Tugenden. Den Christen rufen nicht erst die Erfahrungen am eigenen Leibe, sondern die Erfahrungen am Leibe der Brüder, um derentwillen Christus gelitten hat, zur Tat und zum Mitleiden.“[22]
Für ihn war klar, „daß die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit ist.“[23] Diese Befreiung setze den Glauben voraus, „daß Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern daß er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“[24]
– Szenenwechsel –
17. Juli 2020 – der bekannte US-amerikanische Bürgerrechtler John Lewis stirbt.[25] Am Tag seiner Beerdigung veröffentlicht die New York Times seinen letzten Text. Ein politisches Testament, ein eindringlicher Aufruf an die Bürger*innen zur Zivilcourage: „Wenn du etwas siehst, das nicht rechtens ist, dann musst du etwas sagen. Du musst etwas tun.“ Und dann folgen Sätze, die in den folgenden Wochen immer wieder von unterschiedlichen Menschen an unterschiedlichen Orten zitiert werden: „Demokratie ist kein Zustand. Sie ist Tat […].“[26] Lewis‘ Demokratiedefinition erinnert an einen Vortrag, den der amerikanische Philosoph John Dewey 1939 hielt. Den Faschismus vor Augen plädierte dieser entschieden für die Demokratie als Lebensform. Für Lewis und Dewey war klar: Eine gefährdete Demokratie kann nur überleben, wenn sie sich immer wieder neu als Lebensform entdeckt. Dewey war davon überzeugt, dass das Herz und auch die letzte Garantie der Demokratie in freien Zusammenkünften von Nachbarn an der Straßenecke liegen, bei denen hin und her diskutiert wird, was diese in unzensierten Nachrichten des Tages gelesen haben. Für ihn war es offensichtlich, dass das verbriefte Recht der Meinungs- und Versammlungsfreiheit nichts bewirken kann, wenn im alltäglichen Leben die Kommunikation „durch gegenseitiges Misstrauen, durch Missbrauch, durch Angst und Hass erstickt wird“[27].
Wenn es das nicht mehr gibt, wenn wir Demokratie nicht mehr als Lebensform leben, dann ist die Demokratie als Regierungsform gefährdet.
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Der Kampf gegen die Dummheit ist ein Kampf
… gegen die Verkümmerung unserer Empfindungen
Bonhoeffer betont, dass Dummheit ein menschlicher Defekt sei. Horkheimer und Adorno zufolge ist dieser Defekt nicht zuletzt grundgelegt in negativen Erfahrungen, die Verkümmerungen des Empfindungsvermögens und des Geistes zur Folge haben.[28] Auch Bonhoeffer beklagt in seiner Zeit eine „Stumpfheit gegenüber fremden [und eigenem] Leiden“[29]. Gegen Tendenzen der Verkümmerung unseres (zwischen-)menschlichen und politischen Empfindungsvermögens, wie sie sich im Faschismus zeigen, braucht es Leidempfindlichkeit und Differenzsensibilität. Wenn hier von Leidempfindlichkeit gesprochen wird, dann geht es um eine Sensibilität, die nicht bei der Wahrnehmung des eigenen Leids stehen bleibt, sondern zur Wahrnehmung und Abschaffung des Leids Ander*er vorstößt.[30] Leidempfindlichkeit ist die Voraussetzung für eine Ethik des (Zusammen-)Lebens. Und sie ist tief in unsere individuelle Körperlichkeit eingesenkt. Ohne sie gibt es keine Demokratiepassion, keine Leidenschaft für Demokratie.
Eine weitere Fähigkeit, die uns vor der Verkümmerung unseres politischen Empfindungsvermögens schützt, ist Differenzsensibilität: die Fähigkeit, andere in ihrer Anderheit und Andersheit anzuerkennen. Differenzsensibilität gründet darin – um mit dem Philosophen Theodor Adorno zu sprechen – den besseren Zustand als den zu denken, „in dem man ohne Angst verschieden sein kann“[31]. Differenzsensibilität öffnet für die Erkenntnis, dass das wirkliche Volk nicht homogen, sondern – wie der italienische Philosoph Paulo Flores d’Arcais es definiert hat –: „das Ensemble der streitenden Individuen“ ist.
Diese Sensibilität widersteht jedem Versuch eines stigmatisierenden „Otherings“. Mit „Othering“ – „VerAnderung“ – ist die Markierung von Menschen als Ander*e bezeichnet, die ausschließlich auf einer beabsichtigten exkludierenden Konstruktion beruht. VerAnderung ist eine Praxis, die zwischen dem Eigenen und dem Fremden eine Grenzlinie einzieht, die Überschneidungen verhindern und so eine vermeintlich kulturelle Integrität bewahren soll. Die Markierung Ander*er in der verordneten Andersartigkeit ist keine Anerkennung, sondern Stigmatisierung.
… für das Unmögliche
Im Kampf gegen die Dummheit forderte Bonhoeffer eine äußere Befreiung um der inneren Befreiung willen. Befreiung bedeutet die Verhältnisse zu überschreiten, die uns bedrücken, erdrücken und unterdrücken. An der Zeit ist deshalb Politik als die Kunst des Unmöglichen. Politiker*innen sind immer wieder versucht, Politik auf sogenannte „Realpolitik“ zu reduzieren. Hier sehe ich eine große Gefahr für das gegenwärtige und zukünftige Zusammenleben. Eine solche Politik fördert Dummheit.
Wer von Realpolitik spricht, muss in der Lage sein, zu bestimmen, was „die Realität“ ist und welche Möglichkeiten in ihr enthalten sind. Dazu müssen die Grenzen der Realität bestimmt werden. Von Hegel können wir lernen, dass wir deshalb die Realität zumindest ein stückweit überschreiten müssen. Wer also tatsächlich das Mögliche Wirklichkeit werden lassen möchte, muss immer auch das Unmögliche wünschen. Wenn politisches Handeln nur als Kunst des Möglichen im Sinne der Realpolitik verstanden wird, wird es sich in der Aufrechterhaltung des Status quo erschöpfen und Möglichkeiten ungenutzt lassen. Das Unmögliche ist nicht das Gegenteil des Möglichen, sondern dessen Bedingung. Ohne eine Politik als Kunst des Unmöglichen gibt es keine Politik als Kunst des Möglichen.[32]
Politik als Kunst des Möglichen braucht Möglichkeitssinn. Möglichkeitssinn lässt sich aber nicht herstellen. Er kann sich nur einstellen. Voraussetzung dafür ist die Erfahrung von Veränderung. Adorno hat diese Erkenntnis in die Sentenz gepresst: „Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.“[33] Jede noch so kleine Veränderung, die wir handelnd ermöglichen, offenbart uns: Es ist mehr möglich!
… für ein Wir, das nicht auf Ausschlüssen beruht.
Demokratie ist mehr als eine Regierungsform. Sie ist eine Lebensform. Aber nicht nur Institutionen können erstarren, auch Lebensformen. Deshalb ist es wichtig, dass Demokratie als Lebensform immer wieder durch Erfahrungen vitalisiert wird, in denen Demokratie als Ereignis aufblitzt.
Der Philosoph Raphael Glucksmann berichtet von einer Begebenheit mit der Schriftstellerin Ash Erdogan während der Revolutionstage im Gezi-Park 2013. Er erzählt: „Ich sage fast nie ‚Wir‘, außer in Bezug auf den Gezi-Park. Die einsame und an den Rand gedrängte Frau war plötzlich Teil einer Gruppe. Wohl deshalb war es ein so kostbarer Moment unseres Lebens: Jeder hat das gespürt. Man gab seine Identität am Eingang zum Park ab. Schriftsteller, Lehrer, dies oder jenes… Es gab ein starkes Gefühl von Einheit und Kameradschaft. Es ist schwer, sich in einer so ‚poetischen‘ Gruppe wie dieser einsam zu fühlen. Schon in den ersten Tagen haben die Leute ihr Zugehörigkeitsempfinden vergessen. Sie gehörten nun dem Platz und zueinander. Selbst der uralte Krieg zwischen Männern und Frauen hörte auf. Belästigungen gab es nicht. Es war fast, als hätten wir die Geschlechter abgelegt. Zwischen den Gruppen gab es keine Machtspiele. Es war unglaublich. Ein Moment kollektiver Gnade.“[34]
Der Philosoph Glucksmann sieht in solchen Ereignissen den „Versuch, ein ‚Wir‘ neu zu definieren, ohne andere auszuschließen.“[35]
In den Erfahrungen solcher Ereignisse findet sich das Antitherapeutikum gegen Dummheit.
© Jürgen Manemann
[1] D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus er Haft, München 121983, 10.
[2] Ebd., 14/15.
[3] Ebd., 15.
[4] Ebd.
[5] Ebd.
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] Ebd.
[10] Ebd., 16.
[11] Ebd.
[12] Ebd., 10.
[13] Ebd.
[14] Ebd.
[15] M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1986, 187.
[16] D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, a.a.O., 10.
[17] Ebd.
[18] Ebd., 21.
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Ebd.
[22] Ebd., 22.
[23] Ebd., 16.
[24] Ebd., 19.
[25] Dieser Abschnitt stammt aus: J. Manemann, Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer, Bielefeld 2021, 88-90.
[26] J. Lewis, Together, You Can Redeem the Soul of Our Nation, in: New York Times 30.07.2020
[27]  Siehe: J. Dewey, Creative Democracy – The Task Before Us, in: https://cms-cdn.lmu.de/media/10_phil/fakultaetswebsite-philosophie/downloads/dokumente-pdf/textbeispiel_dewey_creative_democracy.pdf (abgerufen am 07.03.2021).
[28] Vgl. M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1986, 228-230.
[29] D. Bonhoeffer, a.a.O., 21.
[30] Vgl. J. B. Metz, Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg/Basel/Wien 2006, 166-171. Ebenso: J. Manemann, Demokratie und Emotion. Was ein demokratisches Wir von einem identitären Wir unterscheidet, Bielefeld 2019, 68-69.
[31] Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt 1987, 131. Ferner: J. Manemann, Demokratie und Emotion, a.a.O., 68.
[32] Vgl. dazu: J. Manemann, Wie wir gut zusammen leben. 11 Thesen für eine Rückkehr zur Politik, Ostfildern 2013, 101-102.
[33] Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 31983, 391.
[34] R. Glucksmann, Die Politik sind wir! Gegen den Egoismus, für einen neuen Gesellschaftsvertrag, München 2019, 121f.
[35] Ebd., 123.
 
  
  Jürgen Manemann
Jürgen Manemann
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