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Keine Angst vor Dogmatismus!

Veröffentlicht am 3. Juni 2013

Wenn heute von Dogmen und Dogmatikern oder Dogmatikerinnen gesprochen wird, geschieht dies meist im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Dogmatismus an Personen oder Gruppen. Dieser Vorwurf trifft nicht nur Geistliche der katholischen Kirche, sondern auch Feministinnen, Umwelt- und Parkschützer, gewerkschaftliche „Betonköpfe“ und generell „Hardliner“ aller Couleur. Positionen oder Personen, die so bezeichnet werden, gelten als engstirnig, autoritär und letztlich undemokratisch.

Das Beharren auf der unumstößlichen Wahrheit der eigenen Position scheint unvereinbar mit dem rationalen Diskurs. Dogmatismus widerspricht scheinbar dem weltanschaulichem Relativismus, wie ihn beispielsweise Hans Kelsen in seiner Demokratietheorie als eine Grundlage demokratischen Miteinanders beschreibt. Denn dieser Relativismus führe erst dazu, eine staatliche Zwangsordnung, wie auch die Demokratie sie darstelle, so einzurichten, dass „auch die Minderheit, weil nicht absolut im Unrecht, nicht absolut rechtlos, jederzeit selbst zur Mehrheit werden kann. Das ist der eigentliche Sinn jenes politischen Systems, das wir Demokratie nennen…“  (Kelsen 1929: 227). In der Demokratie solle eben „jede Wahrheit und jeder Wert – so wie der Mensch, der sie findet – allzeit bereit sein […] abzutreten und anderen Platz zu machen“ (Kelsen 1929: 225). Der Rekurs auf unumstößliche Wahrheiten lässt sich mit einer solchen Grundhaltung tatsächlich schwer vereinbaren. Dennoch sind Dogmatikerinnen und Dogmatiker keine Gefahr für die Demokratie, sondern im Gegenteil deren notwendige Voraussetzung. Dogmatische Überzeugungen, seien Sie nun religiöser, sozialer, politischer oder ästhetischer Art, hindern nicht daran, andere Überzeugungen zu tolerieren, wenn sie auch nicht für richtig befunden werden. Sie hindern auch nicht daran, sich einer als falsch empfundenen Mehrheitsentscheidung trotzdem zu beugen. Das Unterliegen im politischen Streit freilich führt die Dogmatikerinnen und Dogmatiker dazu, um so vehementer für die eigene Position zu werben. Und gerade dieses Festhalten und Verteidigen der eigenen Position trotz Niederlage ist es, dass die für Demokratien notwendige Dynamik in den politischen und sozialen Prozess bringt. Und auch wenn Dogmatiker für ihre Positionen Mehrheiten gewinnen bedeutet dies nicht automatisch eine Entrechtung der Minderheit. Denn Recht haben und Rechte haben sind, anders als Kelsen meint, zwei unterschiedliche Dinge. Die Grundlage demokratischer Politik ist die Anerkennung anderer Überzeugungen, nicht die Aufgabe der eigenen. Dogmatikerinnen und Dogmatiker, die eine solche Haltung pflegen, werden trotz ihrer festen Überzeugungen nicht autoritär. Die Kritik am Dogmatismus, wie an den „-ismen“ generell schüttet das Kind mit dem Bade aus, zielt daneben und letztlich auf jegliche Überzeugung. Denn kaum jemand wird sich finden lassen, die oder der nicht an irgend einem Punkt von einer letzten Überzeugung ausgeht, die sie oder er nicht mehr weiter begründen kann, an der sie oder er jedoch entschlossen, quasi dogmatisch, festhält.

Der Vorwurf des Dogmatismus verschiebt eine Auseinandersetzung von der inhaltlichen auf eine formelle Ebene. Entscheidend ist dann nicht mehr, was die Dogmatikerin oder der Dogmatiker vertritt, ob die Argumente richtig oder falsch sind, sondern, wie ein Argument vertreten wird. Das ist nur konsequent, wenn „große Erzählungen“ verabschiedet sind und es um den Austausch von Standpunkten statt um Wahrheitsansprüche geht. Gleichsam ist eine solche Logik nicht unproblematisch.

Denn auch „undogmatische“ Typen sind nicht automatisch toleranter. Wenn keine Haltung und kein Glaubenssatz mehr unbedingte Gültigkeit besitzt, kann dies freilich zu einer Sicht auf die Welt führen, die von steter Reflexion und kritischem Hinterfragen geprägt ist. Menschen, die so eingestellt sind, haben kein Interesse, anderen die eigenen Ansichten aufzuzwingen. Eine Verabschiedung letzter Wahrheiten kann aber auch in eine Form des ethischen Nihilismus führen, in dem handlungsleitende Überzeugungen und Werte nach Belieben wandelbar sind. Gerade die Ablehnung dogmatischer Positionen übrigens ebnet meist der Willkür des aktuellen Sachzwanges den Weg. Andere Überzeugungen sind dann nur Störfaktoren, die, weil dogmatisch und ideologisch, nicht beachtet werden müssen. So lassen sich beispielsweise technokratische oder expertokratische Entscheidungsmuster (die freilich hochideologisch sind) post-ideologisch und mit Verweis auf die pragmatische Ablehnung starrer Dogmen begründen. Oder die Richtigkeit einer Entscheidung wird von inhaltlichen Kriterien abgekoppelt und schlicht in diese selbst gelegt, so dass, was immer auch entschieden wird, richtig ist, weil es entschieden wird. Durch die Loslösung von inhaltlichen Kriterien ist hier auch keine Auseinandersetzung mit inhaltlichen Positionen mehr von Nöten.

Aufgrund dieser Ausprägungen „undogmatischer“ Positionen ist meine These: demokratiekompatibler als so manche (vermeintlich) undogmatische Position ist ein Dogmatismus, der fähig ist, zwischen Recht haben und Recht bekommen zu unterscheiden. Ein solcher Dogmatismus provoziert durch das unkritische Festhalten an der Wahrheit Kritik und Hinterfragen. Als herausfordernde Wahrheiten sind Dogmen Motoren demokratischer Diskussion.

Dominik Hammer (c)

Kelsen, Hans, 1929: Vom Wesen und Wert der Demokratie (2. Auflage), S. 149-228 in: Jestaedt, Matthias, Lepsius, Oliver (Hrsg.): Hans Kelsen. Verteidigung der Demokratie. Abhandlungen zur Demokratietheorie, 2006, Mohr Siebeck Tübingen

4 Kommentare

  1. Hallo Dominik Hammer! Was Sie sagen, ist absolut richtig, aber heute leider gegen den Pluralismus-Mainstream kaum noch durchzusetzen. Ich spreche da aus eigener Erfahrung. Ich habe nämlich vor Jahrzehnten in der Wissenschaftstheorie die Unverzichtbarkeit der dogmatischen Denkform vergeblich verteidigt. Mein Referenzautor war der Bonner Philosoph Erich Rothacker, der 1954 in der Mainzer Akademie einen Vortrag mit dem Titel „Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften und das Problem des Historismus“ gehalten hat (veröffentlicht im gleichen Jahr). Dort klärt er den Begriff der dogmatischen Denkform und kommt zu dem Schluß, dass die Dogmatik die inhaltliche Quelle unseres gesamten Wissens ist. Würde mich interessieren, was Sie von Rothackers Argumentation halten.

    • Lieber Herr Fellmann,

      vielen Dank für Ihren Kommentar und für den Hinweis auf den Rothacker-Text, den ich mir in Kürze zu Gemüte führen werde. Leider scheint sich kaum jemand mehr auf den Neo-Pluralismus Ernst Fraenkels zu beziehen. Denn Fraenkel stellte die Bedeutung eines nicht-kontroversen Sektors als wichtigen Bestandteil der pluralistischen Demokratie heraus. Statt der Erkenntnis, dass Demokratie und Pluralismus selbst auf dogmatischen Grundlagen wie eben dem nicht-kontroversen Sektor ruhen, werden Dogmen heute wie beschrieben als undemokratisch wahrgenommen. Das ist umso bedauerlicher, als für den Pluralismus Konsens und Konflikt einer Rolle spielen. Und diese beiden Elemente sind eben nur verbürgt, wenn sich neben den „Realos“ der Parteien und Verbände auch die „Fundis“ einbringen, wenn Pragmatiker*innen und „Zealots“ sich in die politische Diskussion einschalten. Diese Erkenntnis spielt für ein heute in Deutschland weit verbreitetes Verständnis von Pluralismus keine Rolle. Und das ist ein Problem von Belang für das politische System der Bundesrepublik. Denn in der Ablehnung der „Dogmen“ setzt sich letztlich ein Anti-Parteien-Affekt fort, den Fraenkel schon in den 1950er Jahren kritisiert und den der zitierte Kelsen bereits 1929 als antidemokratisch erkannt hat. Der pluralistische Mainstream, von dem Sie schreiben, ist leider lediglich dem Selbstverständnis nach pluralistisch. Ich bin gespannt darauf, zu lesen, was Rothacker zur dogmatischen Denkform schreibt.

      • Lieber Herr Hammer,
        schönen Dank für den Hinweis auf Ernst Fraenkel, von dem ich noch nichts gelesen habe (bin ja auch kein Politologe). Werde mich aber mit ihm beschäftigen, da ich sehr daran interessiert bin, welches Regierungssystem zu meinem Menschenbild passt. Sobald ich dazu komme, bekommen Sie eine Rückmeldung – falls InDibate schon geschlossen ist, per email.

        • Lieber Herr Fellmann,

          ich freue mich auf Ihre Einschätzung. Die Beschäftigung mit Fraenkel ist sehr zu empfehlen, wenn man sich, wie Sie, für den Zusammenhang von Menschenbild und Regierungssystem interessiert. Fraenkel geht auf diesen Zusammenhang beispielsweise in folgendem Text ein:

          „Die Ordnungspolitische Bedeutung der Verbände“ , abgedruck unter anderem in: Ernst Fraenkel. Gesammelte Schriften, Band 5, Demokratie und Pluralismus, Nomos Verlag, Baden Baden, S.297-313

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