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Matthäuspassion. Über den rätselhaften Versuch Hans Blumenbergs, Gott für die Moderne zu retten.

Veröffentlicht am 22. Juni 2023

Von Nicola Zambon

Verzeihen Sie mir, wenn ich mit einer persönlichen Anekdote beginne. Vor einigen Jahren habe ich zufällig in Bologna ein Buch in die Hand genommen, La Passione secondo Matteo, wie die italienische Übersetzung vom Original – Matthäuspassion – lautet. Ich habe das Buch kurz durchgeblättert und bin zufällig über eine der wenigen Stellen in seinen Werken gestolpert, an denen der Autor Hans Blumenberg sich autobiographisch äußert. Die Passage ist berühmt. An einer Wand in seinem Gymnasium in Lübeck war der Bibelspruch zu lesen „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang“. Eine Furcht, die der ehemalige Gymnasialschüler nicht als jene des Menschen vor Gott verstanden hatte, sondern als die Furcht, die Gott selbst vor seinem eigenen Geschöpf und dessen Ebenbildlichkeitswunsch empfinden musste. Offenbar ein Missverständnis, das allerdings, in den späteren Wörtern Blumenbergs, „Tenor“ seiner theologischen Einstellung geblieben ist.[1] (MP: 30)

Diese Zeilen waren die ersten, die ich von Blumenberg überhaupt gelesen hatte, und ich fand sie beeindruckend. Ich habe mir das Buch gekauft, es gelesen – und kein Wort davon verstanden. Lange Zeit erschloss sich mir das Werk überhaupt nicht, und zwar – wie ich rückblickend vermute – deshalb, weil dessen sprachliche Textur so ausgefeilt und dicht ist, dass man den Text oft wiederholt lesen muss, allein um die grammatikalische und syntaktische Struktur nachzuvollziehen. Zudem sieht die Matthäuspassion wie ein Quodlibet aus, so, als sei sie ein Sammelsurium von Textminiaturen, Anekdoten und kleinen Erzählungen, voller Abschweifungen, Querverbindungen, Umwegen. Es handelt sich um eine kontrapunktische Zusammenstellung von familiären Anekdoten und theologischen Spekulationen, tiefgreifenden Philosophemen und gnostischen Häresien, Mythen und Dogmen, Possen und Dramen, Religion und Kunst. Es ist eine Wunderkammer mythologischer, theologischer, religiöser Trouvaillen, die zur Schau gestellt werden, ohne aber, dass der Sammler sich allzu große Mühe gemacht hätte, so scheint mir wenigstens, eine lesbare oder ersichtliche Ordnung reinzubringen.

Eine Frage des guten Geschmacks

Was aus der ersten Lektüre – allem Unverständnis zum Trotz – noch blieb, war eine Faszination, eine Neigung zum Wieder- und Weiterlesen, die nachwirkend blieb, und zwar so sehr, dass ich durch meine persönlichen Irrungen und Wirrungen dazu kam, über Hans Blumenbergs Denken meine Dissertation zu schreiben. Woraus diese Faszination letztendlich erwuchs, kann ich nicht so richtig sagen. Es war vielleicht die mir soweit unbekannte Virtuosität dieser Sprache: Eine Art ästhetischer Reiz also, oder wenn man so will, eine Affinität oder gar guter Geschmack. Immer mal wieder bin ich auf dieses Buch zurückgekommen, oft nur um Episoden, Glossen und Anekdoten zu lesen. Die nächsten Zeilen verstehen sich als eine Fortsetzung der Überlegungen zu diesem Buch, wobei ich mich zunächst mit der Frage beschäftige, die auch in der Überschrift des Beitrags gestellt ist, mit dem rätselhaften Versuch Hans Blumenbergs also, Gott für die Moderne zu retten. Dass Blumenberg einen solchen Versuch unternimmt: diese Behauptung ist mehr Teaser als These. Wie er das tut, worin dieser Versuch besteht und was dies bedeutet: das ist das Rätsel, das ich mit meiner Interpretation zu lösen erproben möchte. Dazu ist es zunächst nötig, dem theoretischen Rahmen Kontur zu geben.

Die Mehrdeutigkeit der Passion

Was ist dieses Werk? Bereits der Titel, Matthäuspassion, ist mehrdeutig. Er verweist auf ein christliches Evangelium, auf eine musikalische Gattungsbezeichnung, schließlich auf die grandiose Komposition Johann Sebastian Bachs von 1729, ebenso wie auf die Wiederentdeckung dieses Werks, die wir Felix Mendelssohn-Bartholdy und Carl Friedrich Zelter verdanken, ein volles Jahrhundert rätselhafter Amnesie nach ihrer Uraufführung. Verkörpert der Titel zahlreiche Schichten, so wirkt diese Vielschichtigkeit wie ein erster Kommentar zur impliziten Leitfrage der Matthäuspassion Blumenbergs – der Frage nämlich, wie sich von religiösen Denkfiguren sprechen lässt, ohne das Feld zu betreten, auf dem die Schlacht zwischen Aufklärung und Theologie ausgetragen wurde. Im Kern, so kann man die unterschiedlichen Leitfäden des Werks in einer vorläufigen Formel zusammenfügen, lässt sich Blumenbergs Matthäuspassion als kritische Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben verstehen, die allerdings nur anhand eines ästhetischen Erlebnisses stattfinden konnte. Denn diese Auseinandersetzung wäre nicht denkbar gewesen ohne die Wirkung der Musik Bachs auf den Philosophen und zugleich auf die Person Hans Blumenberg. Bachs Musik bietet Blumenberg lebensweltlichen Anlass, die Virulenz religiöser Denkfiguren erneut zum affektiven Ausdruck zu verhelfen. Gerade darum thematisiert Blumenberg theologische Probleme der Passionsgeschichte an einer ausgezeichneten musikalischen Komposition. Was Theologie und Metaphysik abgeht, darüber verfügt die Musik: ein Sensorium für die Zweideutigkeit des lateinischen Wortes Passion, „Leid und Leidenschaft“ (MP: 306). Just die musikalische Erschütterung durch die Hörerfahrung aktualisiert die Passionsgeschichte, überbrückt ihre Klüfte, überspringt oder übertönt die Frage nach historischer oder theologisch-metaphysischer Legitimierung angeblich höherer Wahrheiten: Sie provoziert eine Art affektive Deutung, die wie eine erste Hermeneutik wirkt. Leiden und Leidenschaft meint also ästhetische Affektion: Passion als Musik, für Musik.

Die Kontingenz des Ästhetischen

Einer ästhetischen Affektion eignet die absolute Singularität individueller Erfahrung, und diesem ästhetischen Moment „eine Fassung zu geben“ erfordert bereits „ein Äußerstes“ (MP: 15). Die Musik hinter der Schrift, die Empfindungen hinter der Musik, der Mensch hinter den Empfindungen und deren Spontaneität: Gefühle, Affekte, Motivationen gehen oft bereits bei der Reflexion, spätestens bei der Niederschrift verloren. „Wir können das Erlebnis nicht rekonstruieren, das hinter den überlieferten Äußerungen steht“ (MP: 69), so Blumenberg zu Nietzsches Eindruck über die Baseler Aufführung der Matthäuspassion von 1874 – den Verdacht dabei erweckend, er spreche auf subtile Art weniger von Nietzsche als von sich selbst. Wie aus der Kontingenz einer Musikerfahrung eine innere Notwendigkeit sich erst aufbaut, dann lebensbestimmend wird, wie aus dem Neigungswinkel eines Daseins das Bild einer Welt hervorzutreten vermag: Dieses kontrapunktische Wechselspiel zwischen Kontingenz und Notwendigkeit, Partikulärem und Allgemeinem ist das unausgesprochene und ja, auch irritierende Rätsel dieses Buchs. Sein Geheimnis und zugleich seine verborgene Logik, seine in Latenz geschützte Kunst: „Das Wichtigste, was einer zu sagen hat, proklamiert er nicht immer laut“.[2]

Warum berührt mich Bach so tief, selbst wenn ich an Gott nicht glaube? Blumenbergs Buch ist die Antwort auf diese Frage, ein Versuch, diese überraschende Selbstentfremdung verständlich zu machen. Die ästhetische Erfahrung gibt Anstoß zum Nachdenken und Nachsinnen, zum Erinnern und Verarbeiten: Aus dem Hörerlebnis heraus gewinnt nicht nur die Musik von Johann Sebastian Bach, sondern die Passionsgeschichte und ihre Rezeption wieder an Prägnanz und Kontur. Aus dem Partikulären tritt das Allgemeine hervor, aus dem ‚Neigungswinkel eines Daseins‘, um Celan zu bemühen, das Bild einer untergegangenen Kulturwelt, eines Christentums, das Christentum von Bach und seinen Zeitgenossen, meine ich, das uns so, wie es damals war, nicht mehr gegenwärtig ist.

Theologische Unzugänglichkeit und ästhetische Affektion

Das ist Blumenbergs implizite Ausgangsthese: Bei den Aufführungen von Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion wird einem Publikum aus Gläubigen und Ungläubigen ein Geschehen vorgeführt, auf das es sich einlassen mag, und zwar trotz aller Unverständlichkeiten, die es den modernen Hörerinnen und Hörern zumutet. Diese Unverständlichkeiten bestehen vor allem darin, dass in der Passionsgeschichte Gott von dem Menschen und dessen Sünden so übermäßig beleidigt wird, dass nur das Opfer seines Sohnes ihm Genugtuung zu verschaffen vermag – ein Opfer aber, das Blumenberg nunmehr als „erbitterte Forderung nach einer unfasslichen Sühne“ vorkomme (MP: 14). Diese Vorstellung ist wesentlich für Bachs Passionsverständnis und kann nicht „aus den Prämissen des Werks exstirpiert werden“ (MP: 14); gleichwohl bleibt sie, wie Blumenberg schreibt, für das „nachchristliche“ Jahrhundert (MP: 9) rein hypothetischer Natur, so wenig lässt sich diese rätselhaft gewordene Theologie mit dem Horizont gegenwärtiger Lebenswelt verbinden.

Die Arbeit der Kritik

Dass die Glaubwürdigkeit des christlichen Dogmas mit der Durchsetzung der Bibelkritik bis ins Mark erschüttert worden ist, liegt laut Blumenberg allerdings nur zum Teil an der christlichen Traditionsgeschichte. Die Kluft zwischen moderner Welt und christlicher Theologie ist vielmehr das Resultat einer Zäsur, die spätestens seit Baruch Spinozas Stellungnahme gegen die Theologie als Wissenschaft und die Theokratie als Staatsform entstand, dann mit der Aufklärung endgültig auseinanderklaffte. Die Bibelkritik habe an den philosophischen und historischen, theologischen und metaphysischen Dissonanzen, ja Widersprüchlichkeiten der evangelischen Geschichten gearbeitet und sie dabei jener Konsistenz beraubt, die ihr durch eine geduldige und jahrhundertlange Tradition zukam. Eine Konsistenz, die nie auf „Widerspruchsfreiheit“ oder bloß auf „Wahrscheinlichkeit“ (MP: 37) beruhte, sondern vielmehr auf der Einheit des Gefüges ihrer narrativen Materialien: Zitat an Zitat, Bild an Bild wurde sie gefügt, als wäre das Gotteswort „eben doch das eines einzigen Urhebers, der sich nur aus zweckmäßigen Gründen so vieler Sprecher, so sich vermehrender Quellen, Urquellen und Bearbeiter bedient hätte“ (MP: 21). Bereits Spinoza hatte gezeigt, inwiefern die Bücher des Alten Testaments kein einheitliches Werk, sondern das Produkt vieler Verfasser sind, und zudem in seinen Aussagen voller interner Widersprüche: Die uns vorliegende Form verdanke sich einer verdorbenen Überlieferung und späteren Redakteuren, die uns eine Materialsammlung hinterlassen, ohne sie in eine vernünftige Ordnung gebracht zu haben.

Geschichte und Geschichten

Auch unter dem minutiösen Handwerk der Bibelkritik habe sich allerdings nichts daran geändert, dass wir „den Bibelleser durch zwei Jahrtausende hindurch als den Konsumenten eines einzigen Autors wahrnehmen, der alles verbürgt und erschließt, was da an unübersehbar Heterogenem vor ihm liegt“ (MP: 21): Leserinnen und Leser waren und sind womöglich immer noch die „unersättliche Klientel“ (MP: 23) einer nachträglich rekonstruierten Autorschaft. Denn „es wäre ganz unerträglich für den Leser“, so Blumenberg, sollte der hinterlistige Gartenherr der Genesis nicht mehr identisch sein mit dem „auf alle fremden Götter herabdonnernden Vulkanisten“ vom Sinai (MP: 27), oder der Gott, der Abraham das Sohnesopfer gegen den Widder erlässt, mit dem, der, um sein Wort einzuhalten, den eigenen Sohn als Opferlamm sich darbringen lässt; oder mit dem, den Jesus noch den Abend vor seinem Tod als abba, als Vater – oder eher: Papa – angesprochen hatte. Und all diese wiederum mit jenem Gott, dessen Majestät so groß und rein wurde, dass er – nach dem berühmten Wort von Anselm von Canterbury – schon gar nicht mehr gedacht zu werden vermag.

Möchte man Sinn und Bedeutung einer Geschichte erfassen, so setzt dies eine gewisse Konsistenz der Erzählung voraus, denn ansonsten bleibt nur eine heterogene Sammlung disparater Materialien, die kein Verständnis ermöglichen: Wo Konsistenz fehlt, da ist es unmöglich, eine Geschichte zu erzählen, schließlich deren Prägnanz gelten zu lassen. Gerade dies wurde durch die kritische Methode destruiert und auseinandergenommen: die Möglichkeit, die Pluralität der Texte der Tradition noch als sinneinheitlichen Text lesen zu können. Sie sind zu bloßen historischen Dokumenten oder, noch schlimmer, zu Reliquien einer Wahrheit geworden, die heute keine Signifikanz oder keinen Wert mehr haben kann. Denn wer würde noch glauben, so die implizite, impertinente, ja, freche Frage Blumenbergs, dieser Gott habe sich für unsere Sünde geopfert?

Zugang durch die Musik

Verlorengegangen sind nicht nur die Glaubensprämissen, die sich in der christlichen Welt um den Tod des Gottessohnes gebildet hatten „wie ein Kristall um einen Kern“ (MP: 121), sondern auch der lebensweltliche Horizont, der die Bedeutsamkeit dieser Bildwelt zu evozieren vermochte. Gleichwohl besitzen „die Bilder und Gleichnisse, die heiligen Geschichten und Reden, die Sprüche und Choräle der Bachgemeinde, die aus unserem Horizont entschwunden“ (MP: 8) sind, eine Prägnanz, die sich der Rezeptionsgeschichte verdankt, aller theologischen Unverständlichkeit zum Trotz. Diese Aura kam den Texten der Tradition kraft der „Mittäterschaft der Zeit“ (MP: 37) zu und hat, darin liegt die Pointe, nur bedingt mit der Wahrheit der frohen Botschaft zu tun, die in ihr – anscheinend – offenbart wird.

Muss man, scheint Blumenberg sich zu fragen, auf das narrative Material der Tradition endgültig verzichten und sich auf die Armut metaphysischer Sprache bescheiden? Und wenn nicht, unter welchen Voraussetzungen sind diese Materialien als Text noch lesbar? Aber auch andersherum: warum sollte eigentlich all das noch für uns bedeutsam sein? Müssten wir über diesen Verlust an dogmatischer Unterstellung doch nicht erleichtert sein? Kurz: Sollte das alles nicht bereits selbstverständlich, ja obsolet, redundant geworden sein, zumal nach dem Ende dieses Gottes, nach seinem von Nietzsche, nach ihm immer wieder proklamierten Tod?

Doch. Aber laut Blumenberg wächst gerade kraft der Musik die Bereitschaft, diesen verlorenen, bloß „hypothetisch“ (MP: 17) gewordenen Gott trotz der uneinholbaren Distanz als den seinen anzunehmen, wenn auch nur für die Dauer der Aufführung. Der Musik von Johan Sebastian Bach gelingt es, den Vollzug der Passionsgeschichte zu vermitteln, nicht indem sie von den Hörerinnen zu glauben fordert, aber doch „für Stunden wenigstens, zuzugestehen, einzuräumen, gelten zu lassen“ (MP: 35). „Affinität“ und guter „Geschmack“ (MP: 9), wie Blumenberg etwas provozierend behauptet, sind die einzige plausible Bedingung für den modernen Menschen, sich auf ein Geschehen wie das der Passion einzulassen. Einzig durch den „ästhetischen Reiz“ (MP: 9) vermag die Passionsgeschichte affektiv zum Ausdruck zu gelangen, dem Hörer das Gewicht dieses Gottes spürbar zu machen.

Neugewonnene Physiognomik

Musik hat mit der Empfänglichkeit für Allegorien und Mythen, Metaphern und Bilder, kurzum: mit der Unbegrifflichkeit zu tun. Bereits im 1954 erschienen Aufsatz Kant und die Frage nach dem gnädigen Gott‘ hat Blumenberg die Wertigkeit dessen hervorgehoben, was er das physiognomische Moment der Religion genannt hat: „[Die Religion] bedarf zutiefst eines Gesichtes, sie verzagt vor dem physiognomisch Unfassbaren, vor dem, was zu rein ist, als dass es Gestalt annehmen, Fleisch werden könnte.“[3] Im Hinblick auf die mehr als dreißig Jahre später veröffentlichte Matthäuspassion sind diese Behauptungen nicht überholt: Dort wie hier macht Blumenberg Gottes Physiognomie zum Sinnbild seiner Verständlichkeit, seine Abwehr gegen den menschlichen Blick zur Metapher seiner Undurchschaubarkeit. Nicht von ungefähr hat Blumenberg das physiognomisch Unfassbare mit dem Neutrum, dem grammatikalisch Identitätslosen gleichgesetzt, etwa in Arbeit am Mythos: „Ist das Andere erst durch den Anderen besetzt, beginnt an ihm die Arbeit der physiognomischen Erfassung“.[4] Dabei hat Physiognomik es weder mit einer unmittelbaren noch mit einer metaphorisch vermittelten Schau Gottes zu tun, sondern mit der Konstruktion und Fixierung seiner Identität: Gewinnt Gott so etwas wie einen Charakter, d.h. (philosophisch gesprochen) Attribute, die ihn auf sein Wesen festlegen, so ermöglicht dies Vertrautheit und Zuverlässigkeit.

Gegen Kant, der den Anthropomorphismus der Religion zugunsten des reinen Vernunftglaubens überwunden sehen wollte, argumentiert Blumenberg 1954, dass der christliche Gott der „Vehikel bedarf“, um „wirklich“[5] – und das heißt hier: wirksam – sein zu können. Diese Vehikel sind nichts anderes als Metaphern, Symbole, Bilder: keine naiven, zu überwindenden Vorformen der Begrifflichkeit also, sondern eigenständige, würdige Formen der Unbegrifflichkeit. Eigentümlich am Christentum sei gerade, dass es „für mehr als ein Jahrtausend Verbindungen von Dogma und Bild, von Begriff und Anschauung, von Abstraktion und Erzählung“ schuf.[6] Das Christentum ist Sache der Bilder: Feuerbachs These lässt sich in neuem Licht lesen.

Musik und memoria

Die Passionsgeschichte wird erst dann wieder zugänglich, wenn man mit der Unbegrifflichkeit umgehen kann – doch sich darauf einzulassen sei für die Moderne alles anderes als selbstverständlich. Dazu bedarf es, so Blumenberg, der „theologischen Großzügigkeit“ (MP: 38) der Musik, welche dem erstarrten Dogma der Theologie und den wasserdichten Systemen der Metaphysik entgegenarbeitet. Denn sie ist Gegenstück zum Begriff und dessen kategorialer Eindeutigkeit – zum Verzicht auf die Möglichkeiten des Konjunktivs zugunsten des Dogmatismus des definitorischen Imperativs.

Und noch mehr: Die Musik überschreitet den biblischen Text, dessen theologische Defizienz und narrativer Lakonismus sie überbietet. Sie ist eine Übertönung dessen, was der sprachlich gefassten Narration nicht möglich ist: „Dieses Mehr macht in Bachs Passion die Differenz zwischen dem Wort und der Musik aus. Lässt man den kanonischen Rang des Textes auf sich beruhen, transzendiert der Ton alles, was ihm unterlegt wird.“ (MP: 15) Denn das ‚Verständlichste‘ daran, so lässt sich Nietzsche paraphrasieren, ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen werden – kurzum: die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht geschrieben werden kann. Die Musik desorientiert, weil sie eben aufgrund ihrer konzeptuellen Unbestimmtheit, ihres Mangels an Begrifflichkeit zum ausgezeichneten Instrument wird für die Befreiung des Erlebens und des Erinnerns, des Nachsinnens und des Nachbedenkens – eines ergriffenen, weil unbegrifflichen Begreifens.

Musik als Sinnbild der Rezeption

Musik, ja, Kunst überhaupt, kann die Geschlossenheit und Starrheit des Dogmas sprengen, das durch die Bemühung um Eindeutigkeit variationsunfähig und deswegen rezeptionsresistent geworden ist. Rezeption kann aber nicht ohne einen Spielraum an möglichen und verschiedenen Lesarten stattfinden, ohne jene Kreativität also, die sich nur in und durch Variationsfähigkeit entfaltet. Unbestimmtheit meint das wesentliche Merkmal der Kunst, die sich der Arbeit der Rezeption bedient. Wie sie sich deren bedient – dies erklärt Blumenberg bereits in Arbeit am Mythos:

Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit. Diese beiden Eigenschaften machen Mythen traditionsgängig: ihre Beständigkeit ergibt den Reiz, sie auch in bildnerischer oder ritueller Darstellung wiederzuerkennen, ihre Veränderbarkeit den Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung. Es ist das Verhältnis, das aus der Musik unter dem Titel Thema mit Variationen in seiner Attraktivität für Komponisten wie Hörer bekannt ist.

Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 40.

Von Belang ist dieser Passus aus Arbeit am Mythos nicht nur, weil Blumenberg die Musik zum Sinnbild der Rezeption macht. Hier, wie auch anderswo, betont er den Zusammenhang zwischen Musik und Kult. In Bezug auf die Matthäuspassion wird die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Musik und Liturgie bzw. Musik und Religion geschärft. Was beide verbindet, sei die Ritualität. Das Ritual der Musik spiegelt sich im Ritual des Textes, denn nicht umsonst trägt Blumenbergs Schrift denselben Titel wie die Komposition. Was aber zugleich heißt: Die Musik bedingt den Textselbst. Dem äußeren Anschein nach ist Matthäuspassion eine Sammlung von Textminiaturen, Anekdoten und kleinen Erzählungen, voller Abschweifungen, Querverbindungen, Umwegen – doch eben nur dem Anschein nach. Vielmehr sind diese in einer gemeinsamen Partitur als Variationen, Einschübe und Reprisen angeordnet, die das thematische Hauptmotiv kontrastiv vorantreiben, indem der Chor moderner Quellen und Autoren (Rilke und Nietzsche, Goethe und Benjamin, Wittgenstein und Freud, Dürrenmatt, Kierkegaard, Kafka, Scholem u.a.) den Chor der antiken Texte und Heiligen Schriften wie ein controcanto konterkariert, die Spannung zwischen irdischem Moll und himmlischem Dur reproduzierend, die der Doppelchor von Bachs Passionsmusik aufrechterhält. Aus dieser Polyphonie entfaltet sich die narrative Textur, die zugleich das Fortspinnen der Rezeption am Gewebe der Tradition nachahmt. Blumenbergs Matthäuspassion ist eine narrative Mimikry: indem er seine Schrift als musikalische Faktur komponiert, schafft er eine hochkomplexe und doch harmonische Symphonie, deren Einheit erst im Ritus des Lesens zu entstehen vermag. Matthäuspassion ist ein Text, dessen musikalische Qualität an der Art des Studiums erfahren werden kann, das er abverlangt und sich jeder oberflächlichen Lektüre entzieht, so wenig wie Bachs Matthäuspassion als Hintergrundmusik gehört zu werden verträgt.

Matthäuspassion als Quodlibet?

Blumenbergs Matthäuspassion ist, so lässt sich wohl sagen, eine musikalisch-narrative Inszenierung, deren Material humorvoll und suggestiv in ein Quodlibet zusammengefügt wird. Blumenbergs musikalische Narration verschleiert die Brüche, verknüpft Inkohärentes, führt zu Schlüssen höherer Ordnung: Was den Sinn der Musik ausmacht, soviel lässt sich durch eine Paraphrase von Adorno behaupten, ist nichts anderes als der Zusammenhang, den sie erschließt. Wie Bachs Musik die Diskrepanzen der Passionsgeschichte übertönt, sofern sie theologische Schwächen und narrative Inkongruenzen zu überbrücken vermag, so ist Blumenberg, mit Thomas Mann gesprochen, der raunende Beschwörer und Erzähler dieser einen Geschichte, aus vielfältigen Geschichten zusammengesetzt, in der Gott sich als einer darbietet. Dabei geht es nicht um die Auflösung der Dissonanzen der Bibel-, Passions- und Gottesgeschichte, sondern vielmehr um deren kontrapunktische Zusammenführung in Anekdoten und theologischen Spekulationen, Philosophemen und gnostischen Häresien, Possen und Dramen, Religion und Kunst, die sich wechselseitig ausbalancieren: Jerusalem gewinnt sein Profil durch Athen, Athen durch Rom, Rom durch Jerusalem; gnostische Mythen und christliche Lehre fußen aufeinander, verweisen auf die Patristik und auf die hellenistische Philosophie, und umgekehrt; die Apokalyptik bedarf der Eschatologie, der neuplatonische Kosmos des Himmels heidnischer Mythen.

Keine Mission

Blumenberg ist weder daran gelegen, alte oder veraltete Bedeutungssysteme der Theologie oder Metaphysik wieder einzuführen, noch den Glauben an deren Gott zu erneuern. Umso weniger plädiert er für eine Wiederkehr Gottes, wie man gelegentlich hört, als Therapie der Neuzeit. „Die Passion ist kein Martyrium“, mithin „kein Beweisstück für eine Wahrheit“, und schon gar „kein Wahrheitszeugnis“: Bach „missioniert nicht“ (MP: 223), und Blumenberg umso weniger. Ihm geht es vielmehr um das Reservoir von Bedeutungen oder Reflexionsmaterialien, das ‚Gott‘ birgt, und sei es nur in den zahllosen Erzählungen seiner Geschichte und Rezeptionsgeschichte. Bach war, darin kommt Blumenberg mit Adorno überein, nicht bloß ein Kirchenkomponist, „kein archaischer Handwerkmeister“, sondern, so Adorno, ein „Genius des Eingedenkens“.[8] Die gewaltige Schönheit seiner Musik, „aus der dogmatischen Ordnung entlassen“, sei eine rememorative, denn sie beschwöre, so Adorno weiter, die Erfahrung einer Welt, die dem Subjekt nicht bzw. nicht mehr „gegenwärtig“ und „leibhaftig“ sein kann: Aus der Musik Bachs, in ihr erklinge eine „Stimme des Humanen“, hier Adorno wieder, die ansonsten „zum Schweigen verdammt“ wäre.[9]

Gegen die Funktionalisierung der Geschichte

Anlässlich der Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises hielt Blumenberg 1978 einen Vortrag mit dem Titel Ernst Cassirers gedenkend, der 1981 im Bändchen Wirklichkeiten, in denen wir leben veröffentlicht wurde. Es ist kein Zufall, dass Blumenberg eine Laudatio an Cassirer ausgerechnet in Heidelberg hielt – an der Universität also, wo der Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer thronte. „Was bei Cassirer zu lernen bleibt“, so Blumenberg, „steckt gerade in dem, was ihm nicht gelungen ist, was aber in seiner Lebensarbeit und über diese hinaus als drängender Impuls bemerkbar ist“ – nämlich die Geschichte „nicht der Selbstbestätigung von Gegenwarten dienstbar zu machen“ oder zu unterwerfen.[10] Blumenberg warnt vor der „Mediatisierung“ und „Funktionalisierung“ der Vergangenheit für „die Aktualitätsbedürfnisse“ der Gegenwart: Wie der kategorische Kants verbietet dieser Imperativ, Menschen und Denkformen, Gewesen– und Gedacht-sein als Mittel dienstbar zu machen. „Ich verwahre mich dagegen, daß es unser ‚Interesse‘ und nur dieses sei, was uns zur Erkenntnis im Raume und in der Zeit legitimiert und motiviert.“[11] Vehement verwirft Blumenberg alle Versuche, die Geschichte zur wie auch immer gearteten Verwirklichung der Idealität auf Erden zu machen, sei diese apokalyptisch oder gnostisch, eschatologisch oder – als verzerrter Torso dieser Verwirklichung – säkularisiert wie in Fichtes Idealismus, in der Verweltlichung von Hegels absolutem Geist, in der Seinsgeschichte Heideggers – oder in der Geschichtsphilosophie des späten Husserls, deren säkulare Mission und eschatologischen Charakter Blumenberg kritisiert hatte.

Diesen Geschichtsphilosophien stellt Blumenberg ein Geschichtsethos entgegen, „das sich nicht auf die Bestätigung der Selektionsmechanismen in der Geschichte (denen ihr hoher Wert nicht abzusprechen ist) beschränken lässt.“[12] Der Selektion durch die Rezeption lässt Blumenberg eine Kultur der memoria entgegenwirken: Was dazu motiviert, den Geschichtsreichtum mit seinem einzigartigen und unwiederholbaren Charakter zu bewahren, ist die Gewissheit, mit Elias Canetti gesprochen, dass ‚Leben‘ nichts Anderes meint als ‚Überleben‘. Damit kommt memoria überein, was – vielleicht – in die Nähe dessen rückt, was Walter Benjamin und nach ihm Theodor W. Adorno unter ‚Eingedenken‘ verstanden haben. ‚Eingedenken‘ ist mehr als Erinnerung: Es benennt die Pflicht gegenüber denjenigen, die uns nicht mehr gegenwärtig sind, deren Stimmen nicht zum Schweigen zu verdammen. Denn wer einmal gehandelt und gelitten hat, war ein Mensch, der wir selbst hätten sein können, wären wir nicht auf kontingente Weise der, der er nicht gewesen ist. Fremderfahrung, d.h. Begegnung und Entdeckung mit und durch die Anderen, ist nicht nur die, die ich im Augenblick habe, sondern erst recht die, die ich in mir als Erinnerung verwahre. „Daß wir sagen können: ich erinnere mich nicht nur an mich, auch an diese und jene andere, macht eine entscheidende Bestimmtheit unseres Bewußtseins aus.“[13] So mag es sein, „daß man aus der Geschichte lernen kann – oder auch nicht. Das ist sekundär gegenüber der Obligation, Menschliches nicht verloren zu geben.“[14]

Gegen den Schwund der Erinnerung

Denn das ist die „Unbilligkeit der Zeit“, das Inhumane an Kontingenz und Sterblichkeit: dass der memoria immer schon Vergesslichkeit droht, dem Gewesen-Sein das Vergessen-Werden, der oubli. Was ist mit einer Idee, wenn keiner sie mehr denkt? Was ist mit der Vergangenheit, wenn keiner sich mehr ihrer erinnert? Der Korrosion, dem Schwund der memoria wirkt Blumenbergs Matthäuspassion entgegen, auf die ich abschließend eingehe. Sie widersetzt sich dem Vergessen des Gewesenen, das nur bleibt, sofern es erinnert wird. Am Leitfaden von Johann Sebastian Bachs musikalischer Umsetzung der Passionsgeschichte gelingt es Blumenberg Philosophie und Theologie, Kunst und Mythos so auszubalancieren, dass sie sich in einem fein austarierten Gefüge wechselseitig stützen: Die Reprise bestimmter Motive und Leitmetaphern, die Verschränkung von Zitaten und Textpartikeln, die subtile Entwicklung von Nebenaspekten und Randthemen bilden komplexe Konstellationen, die sich erst im Fortgang des Lesens zusammenfügen, in einen umfassenderen Zusammenhang einordnen lassen.

Die Musik ist wesentlich für das Verständnis der Passion, sofern sie etwas gegen die begriffliche Arbeit der Theologie oder Metaphysik zum Tönen bringt. In der Musik wird die Passion zum eigenen Erlebnis des Hörers, auch gegen die gescheiterte Allmacht des Gottesbegriffs:

Der beleidigte Gott wird der gescheiterte Gott sein. Dass die Allmacht mit der Welt die gotteswürdige Intention verfehlt – und nicht schon an ihr, sondern erst in ihr zerbricht –, ist Thema der Passion.

MP: 15

Ein Scheitern, das die Musik vollzieht, indem sie den Realismus der Passion, d.h. die Frage nach ihrer historischen Faktizität oder theologisch-metaphysischen Wahrheit ausklammert. Die Musik ist wesentlich für das Verständnis der Passion, sofern sie etwas gegen die Arbeit der Theologie oder Metaphysik zum Tönen bringt. In der Musik wird die Passion zum eigenen Erlebnis des Hörers: Ihr Klang erschließt das Leiden, die Konkretheit des Schmerzes:

Nur Leiden und Tod sind allen Evangelisten gemeinsam, sind durch die Kreuzesaffinität des ersten Theologen Paulus wie seiner Gefolgsleute Augustin und Luther zum Zentrum der christlichen Gedankenwelt geworden. Bach ist groß, weil er diese Zentrierung an sich genommen und zum Tönen gebracht hat.

MP: 78

Somit ermöglicht die Musik, wenn auch nicht zu verstehen, weshalb der gottverlassene Menschensohn am Kreuz leiden musste, so doch wenigstens mitzuleiden. Erst und nur die Musik bzw. deren Deutung vermag uns diese hermetische Geschichte zu enträtseln, sie in Hermeneutik zu überfuhren. Von dieser Art Hermeneutik hat Adorno geschrieben:

Wie das Ende, so greift der Ursprung der Musik übers Reich der Intentionen, das von Sinn und Subjektivität hinaus. Er ist gestischer Art und nah verwandt dem des Weinens. Es ist die Geste des Lösens. Die Spannung der Gesichtsmuskulatur gibt nach, jene Spannung, welche das Antlitz, indem sie es in Aktion auf die Umwelt richtet, von dieser zugleich absperrt. Musik und Weinen öffnen die Lippen und geben den angehaltenen Menschen los. […] Der Mensch, der sich verströmen läßt im Weinen und einer Musik, die in nichts mehr ihm gleich ist, läßt zugleich den Strom dessen in sich zurückfluten, was nicht er selber ist und was hinter dem Damm der Dingwelt gestaut war. Als Weinender wie als Singender geht er in die entfremdete Wirklichkeit ein.

Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik. (= Gesammelte Schriften, Bd.12), Frankfurt a.M., 2003., 122f.

Assoziationslust und phantasievolles Verweben

Ein Lösen, das kein Erlösen ist – nur Versöhnung mit dem, was da war. So vollzieht sich das Noch-wirklich-sein oder Wieder-wirklich-werden Gottes, wenn auch nur im Erzählen der Passionsgeschichte oder in der Ritualität der musikalischen Aufführung Bachs. Dass dieser sakrale Bilderreichtum noch einmal erzählbar wird, ist die Leistung der Musik. Darin, und ausschließlich darin, ist Gott für die Moderne gerettet: als memorative Erzählung, als Erinnerung an das, was war, und nicht mehr ist.

Gelassen kehrt der Unfolgsame [so Blumenberg über sich selbst, N.Z.] zu den Texten der Kindheit und Geistesfrühe zurück. Die Ahnung einer anderen Wirklichkeit geht ihm nach, die nicht ohne weiteres eine höhere zu sein beansprucht, aber für ihre Art von Realismus Unantastbarkeit gewonnen hat.

MP: 248

… und sei vielleicht alles auch nur, um dem Spürsinn der eigenen Jugend nachzugehen, dass die Furcht des Herrn die Furcht Gottes selbst vor seinen Geschöpfen ist.

Keine dekonstruktive, sondern vielmehr eine konstruktive Lektüre erfordert dieses Werk: die Fragmente, in die das alte Weltbild aufgelöst ist, müssen zunächst aufgesammelt, sodann zusammengefügt werden, als seien sie die Steinchen eines Mosaiks, das durch die Zeit erodiert und zusammengebrochen ist. So sind Anspielungen und Variationen, Berichtigungen und Ergänzungen, durch die Blumenberg sein Werk entfaltet, auch das ironische Nachspiel christlicher Exegese, der Figuraldeutung: Sie sind der Nachglanz der wechselseitigen Erhellungen, die in der Angewiesenheit von figura und implementum immer schon mit begriffen waren. Wie die Exegese sieht Blumenbergs Umgang mit den Texten der Tradition nach Assoziationslust und phantasievollem Verweben aus: Das Einzelne verweist über sich selbst hinaus und bezieht sich auf das Ganze, so wie umgekehrt das Ganze die Forderung nach dem Einzelnen in sich birgt. Alles ist auf alles bezogen, alles erinnert an alles: Bachs Musik gibt den Anstoß zu einer Rhetorik der memoria, die Blumenberg in der Matthäuspassion ausbuchstabiert.

© Nicola Zambon


[1] Blumenberg, Hans: Matthäuspassion, Frankfurt a.M. 1988, 30. Von nun an wird der Text durch die Sigle MP zitiert.
[2] Benjamin, Walter: „Zum Bilde Prousts“ [1929], in: ders.: Aufsätze, Essays, Vorträge (Gesammelte Schriften, Bd. II,1), hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M., 1991, S. 310-324, hier S. 314.
[3] Blumenberg, Hans: „Kant und die Frage nach dem ‚gnädigen Gott‘“, in: Studium Generale 7 (1954), S. 554-570, hier S. 570.
[4] Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 1979, S. 29.
[5] Blumenberg, Kant und die Frage nach dem ‚gnädigen‘ Gott, S. 570.
[6] Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 158.
[8] Adorno, Theodor W.: „Bach gegen seine Liebhaber verteidigt“, in: Kulturkritik und Gesellschaft I (Gesammelte Schriften 10.1), Frankfurt a.M., 1977, S. 138-151, hier S. 138, resp. 143. (Hervorhebung N.Z.)
[9] Ebd.
[10] Blumenberg, Hans: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart, 1981, S. 168.
[11] Ebd., S. 170.
[12] Ebd., S. 168.
[13] Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a.M. 1986, S. 96.
[14] Blumenberg, Wirklichkeiten, S. 170.

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Uneingestanden politisch? Eine rettende Kritik der Transformativen Wissenschaft

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