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Wurde das Denken 1945 befreit? Kontinuitäten und Zerrbilder der Philosophie in Deutschland

Veröffentlicht am 20. September 2023

Von David Palme

Letztes Jahr zum Jahrestag des Novemberpogroms hat Anne Specht, Mitarbeiterin des fiph, auf diesem Blog einen Beitrag zum Stand des Erinnerns in Deutschland veröffentlicht. Dieser Beitrag endete mit „Denkschritten“ – zu denen die Leser:innen eingeladen waren zu folgen. Diese waren gegen die Selbsttäuschungen der Bundesrepublik gerichtet und lauteten:

  1. Deutschland wurde 1945 nicht befreit, Deutschland wurde besiegt.
  2. Ich stamme von Täter*innen ab.

Beide Sätze reagieren auf Lebenslügen der Bundesrepublik. Vermutlich seit Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 vom 8. Mai als „Tag der Befreiung“ sprach, gibt es die Überlegung, ihn zum Feiertag zu erklären. Auch dieses Jahr wurde darüber diskutiert.[2] Specht weist darauf hin, dass dabei allzu gerne vergessen wird, dass die Mehrheit der Deutschen 1945 dies so nicht erlebte: für sie war die Kapitulation der Wehrmacht Niederlage. Eine Welt brach zusammen. Die Erfahrung der vermeintlichen „Stunde Null“ bedeutet für viele Deutsche nicht Aufbruch, sondern „den vollständigen Verlust der Zukunft“.[3] Manche wollten nicht einmal weiterleben. So auch der Breslauer Philosophie-Professor August Faust, der nach der Eroberung der Stadt durch die Rote Armee am 7. Mai 1945 sich in seiner Wohnung selbst erschoss.

Ich will die beiden „Denkschritte“ von Anne Specht nicht auf mich, sondern auf die Universitätsphilosophie in Deutschland anwenden. Im Folgenden werde ich daher zunächst fragen, inwiefern man davon sprechen kann, ob die Philosophie befreit oder besiegt wurde (1). Dies führt geradewegs in den zweiten Denkschritt, ob die gegenwärtige Philosophie von Täter:innen abstamme (2). Spoiler: Beide Fragen können bejaht werden. Daraus folgt die Notwendigkeit einer systematischen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Philosophie (3).

Wurde die Philosophie 1945 befreit oder besiegt?

Bei dieser Frage könnte man zunächst einwenden: Die Philosophie kann doch weder befreit noch besiegt werden. Schließlich hat sie ja gar nicht gekämpft – oder doch? Bei der Frage nach Befreiung oder Niederlage geht es darum, dass „die Mehrheit der Deutschen […] die Naziherrschaft unterstützt hatte.“[4] Wie verhielt sich das in der Philosophie? Vertreter:innen des Faches werden später im gleichen Maße wie die anderer Wissenschaften behaupten, sich nicht am NS beteiligt zu haben, sondern sich vielmehr ganz auf ihre Studien zurückgezogen zu haben. Mehr noch: Der NS habe sie an ihrer Forschung behindert, so dass sie selbst der Befreiung bedurft hätten. Allenfalls hätten sie getan, was nötig gewesen sei, um nicht selbst unter die Räder zu kommen – alles andere wäre lebensbedrohlich gewesen. In derartigen Behauptungen steckt ein wahrer Kern, aber es ist auch nur ein Teil der Wahrheit.

„Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften“

Als 1939 der Zweite Weltkrieg beginnt, ruft der Rektor der Kieler Universität, Paul Ritterbusch, den „Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften“ aus: Der Feind solle nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern auch in den Studierstuben besiegt werden. Der bereits erwähnte Philosoph August Faust erklärt dabei im Vorwort des von ihm im Rahmen des „Kriegseinsatzes“ herausgegeben Bandes Das Bild des Krieges im Deutschen Denken, dass es eine Verleumdung sei, dass die Deutschen den Krieg nur um des Krieges willen führen würden. Stattdessen gehe es darum, die bedrohte „Freiheit des Deutschen Denkens mit der Waffe [zu] verteidigen“.[5]

Insgesamt war dem „Kriegseinsatz“ zwar kein großer Erfolg beschieden, die Überlegenheit des deutschen Geistes zu beweisen. So ergingen auch Einladungen an ausländische Wissenschaftler:innen für Fachtagungen in Deutschland: „Mit Ausnahme der Geographen und Philosophen gelang es jedoch infolge der sich verschärfenden Kriegslage keinem Fach, diese Einladungen zu realisieren.“[6] Ferdinand Weinhandl gelingt es im Oktober 1942 in Nürnberg eine internationale Fachtagung – „Europa und die deutsche Philosophie“ – abzuhalten. Im Zuge des Kriegseinsatzes erscheinen neben dem von Faust herausgegebenen Band drei weitere Publikationen – Das Deutsche in der deutschen Philosophie (1941) hrsg. von Theodor Haering, Systematische Philosophie (1942) hrsg. von Nicolai Hartmann und Reich und Recht in der deutschen Philosophie (1943) hrsg. von Karl Larenz – vier weiteren Sektionen gelingt keine Publikation vor 1945.[7]

Philosophen im Krieg – Krieg in der Philosophie

Der erwähnte Weinhandl trat übrigens 1942 die Nachfolge des Frankfurter Philosophie-Professors Hans Lipps an. Dieser hatte sich in ganz unmetaphorischem Sinne am Krieg auf Seiten der Wehrmacht beteiligt. Das kostet ihn das Leben: Er fiel am 10. September 1941 zu Beginn der Blockade von Leningrad. Lipps hatte 1939 seine Antrittsvorlesung in SS-Uniform gehalten.[8] Auch der Heidelberger Dozent Willi Kunz stirbt an der Ostfront. Allerdings erst im Januar 1943 im Kessel von Stalingrad.[9]

Neben Lipps und Kunz wurden die meisten, die Philosophie studierten oder lehrten, zur Wehrmacht eingezogen. Einige der Professoren sind dabei nicht an der Front, sondern im heerespsychologischen Dienst tätig: z.B. Arnold Gehlen, Hans Richard Gerhard Günther oder Julius Ebbinghaus. Die wenigsten werden, wie etwa Josef König, vom Wehrdienst befreit.

Doch auch an anderer Stelle finden sich explizite Kriegsbezüge innerhalb der Philosophie. Bereits in den drei Semestern vor Kriegsbeginn 1939 hält Walter Schering in Bonn jeweils eine „Wehrphilosophische Übung“ ab. Ab da übernimmt Erich Emil Feldmann mit Veranstaltungen wie „Wehrphilosophie“ (1939/40) oder „Probleme des Krieges in der Philosophie“ (1940). Ein Jahr später wird er auf die neu geschaffene „Professur für Wehrpädagogik“ berufen.[10] Auch der Bonner Professor Erich Rothacker referiert noch 1944 in der Vortragsreihe „Wissenschaft im Kampf für Deutschland“ unter dem Titel „Die Kriegswichtigkeit der Philosophie“.[11] Faust gibt sein letztes Seminar in Breslau im Rahmen der „Philosophischen AG für Kriegsteilnehmer“.

Allein vor dieser kleinen Auswahl muss man zugeben, dass die Universitätsphilosophie – und ihre Fachvertreter – sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne sich selbst zur Kriegspartei machte. Als solche hat die „deutsche Philosophie“ den Krieg verloren.

Aufbruch oder Rückschritt?

Anders stellen sich die Philosophen in Deutschland selbstverständlich nach dem Krieg dar: Im ersten Heft der neugegründeten Zeitschrift für philosophische Forschung heißt es 1946 in einem Aufruf des Herausgebers Georgi Schischkoff:

„Die Ereignisse des letzten Jahrzehnts in Deutschland brachten bekanntlich dem deutschen philosophischen Leben eine vollständige Isolierung von den geistigen Geschehnissen der übrigen Welt, und während der letzten Kriegsjahre war es nicht einmal möglich, über die Ereignisse des philosophischen Lebens innerhalb Deutschlands auf dem laufenden [sic] zu bleiben.“

Georgi Schischkoff in Zeitschrift für philosophische Forschung 1 (1), 1946, S. 141.

Hier ist keine Rede mehr davon, dass diese Isolierung gewollt und bejaht wurde. Das „sich wieder erhebende[] philosophische[] Leben[] in Deutschland“ von dem an gleicher Stelle die Rede ist, wird ebenso selbstverständlich von den gleichen Professoren getragen, die bis 1945 an deutschen Universitäten tätig waren. Doch Schischkoff ist nicht alleine, wenn er sich in den ersten Jahren nach Kriegsende einen Aufbruch wünscht. Auch zum Beispiel Prof. Julius Ebbinghaus, Prof. Hans Leisegang oder Georg Siegmund sprechen davon, dass die Philosophie hemmende NS-Weltanschauung weggefallen sei – insofern ließe sich das Kriegsende als Befreiung deuten. Von denjenigen, die sich zuvor im „Kriegseinsatz“ beteiligt hatten, sind entsprechende Äußerungen spärlich.

Wie auf den Rest der Gesellschaft mag also zutreffen: Manche wurden befreit, aber die Universitätsphilosophie wurde zunächst zusammen mit dem Rest Deutschlands besiegt.

Enttäuschte Rückkehr

Dieser Eindruck wird nochmals durch die Kommentare der Exiliant:innen ernüchtert. Der Emigrant Max Horkheimer war 1933 als Jude, Philosophie-Professor und Direktor des „Instituts für Sozialforschung“ aus Deutschland geflohen. 1948 kehrt er erstmals für kurze Zeit nach Deutschland zurück. Von dort schreibt er an seine Frau: „Über die politische Lage hier, besonders an den Universitäten läßt sich nur sagen, daß sie jeder Beschreibung spottet. Die alten erzreaktionären Professoren beherrschen die Verhältnisse.“ Mehr noch, die Entnazifizierung – dazu gleich noch ein paar Sätze mehr – habe dazu geführt, dass gerade die jungen und „anständigeren“ Hochschullehrer als Nazis aus der Universität gejagt wurden. „Das ist so verrückt, daß man eine ganze Zeit lang braucht, um sich hineinzufinden.“[13] Bei Hannah Arendt finden sich ähnliche enttäuschte und entsetzte Beobachtungen.[14]

Welche Erzählung stimmt? Wurde die Philosophie besiegt, wofür sowohl das breite Engagement der Universitätsphilosophen als auch die Kontinuität durch 1945 und die Entnazifizierung hindurch spricht? Oder wurde sie befreit, wie eben jene Universitätsphilosophen in der unmittelbaren Nachkriegszeit bekunden? Diese Frage hängt nicht zuletzt vom Umfang der personellen Kontinuität und dem ideengeschichtlichen Fortwirken ab. Das führt zum zweiten „Denkschritt“.

Stammt die Philosophie in Deutschland von Täter:innen ab?

Familienbeziehungen

Anders als in der Familie ist in einer wissenschaftlichen Disziplin die „Abstammung“ deutlich schwerer zu beurteilen. Doch schon die Rede von „Doktorvätern“ und „-müttern“ suggeriert ein der Familie ähnliches Verhältnis. Wie in echten Familien kann auch zu den „Doktoreltern“ auf Distanz gegangen, verschwiegen, vererbt oder Probleme für alle Beteiligten unangenehm ausgehalten werden. Das alles kommt vor. Unter „abstammen“ könnten hier also die Ketten von Lehrer:innen und Schüler:innen verstanden werden. Die Philosophie würde von Täter:innen abstammen, wenn nach 1945 Täter:innen philosophisch tätig oder für die Ausbildung einer neuen Generation von Philosoph:innen verantwortlich waren. Wie in einer echten Familie wäre es dafür unerheblich, ob diese ihr Verhalten nach 1945 kritisch reflektierten. Denn auch wenn man die eigenen Taten bereut, hat man sie begangen. In der Philosophie muss diese Kette aber nicht direkt persönlich sein, sondern auch rein ideengeschichtlich. Man müsste dann danach fragen, ob Täter:innen philosophisch unkritisch rezipiert wurden. Können solche Rezeptionen und direkte „Abstammungen“ nachgewiesen werden, lässt sich davon Reden, dass die Philosophie in Deutschland – in Teilen – von Täter:innen abstammt. Es besteht darüber hinaus die Gefahr, das nazistisches Denken auch in der Gegenwart präsent ist.

„Verbrecherische Schurken“

Was ist überhaupt ein „Täter“? Der Begriff wurde und wird in der Geschichtswissenschaft und der Erinnerungspolitik intensiv diskutiert. Eine Schwarz-Weiß-Unterscheidung hat man dabei weitgehend zugunsten einer Vielzahl von Grautönen weitgehend aufgegeben. Nicht ganz so in der Philosophie: Gereon Wolters hat vor gut einem Vierteljahrhundert versucht, in diesen Komplex zumindest eine Bresche zu schlagen, indem er über die Universitätsphilosophen behauptete:

„Vorweg sei gesagt, verbrecherische Schurken finden wir unter ihnen nicht, anders als bei z. B. Juristen und Medizinern. ‚Auschwitz‘ wurde nicht von Philosophen betrieben. Die Praxisferne der Philosophie hat manchmal eben auch Vorteile.“

Wolters: „Der ‚Führer‘ und seine Denker“, S. 223.

„Verbrecherische Schurken“ ist als Begriff noch einmal unklarer als „Täter“. Sieht man davon ab, nur Verurteilte als letztere zu bezeichnen, stellt sich durchaus die Frage, ob die erwähnten Auftritte von Hans Lipps in SS-Uniform und seine Beteiligung an Kriegsverbrechen der Wehrmacht ihn zum „verbrecherischen Schurken“ machen. Nicht verurteilt, aber aus heutiger Sicht sicherlich eindeutig einem weiten „Täter“-Begriff zuzuordnen, ist das Wirken Eduard Mays. Bevor May 1951 Direktor des Philosophischen Seminars der Freien Universität Berlin wird, arbeitete er in den KZs Dachau und Auschwitz an der Entwicklung biologischen Waffen. Als Mitarbeiter der Forschungsabteilung der SS – dem „Ahnenerbe“ – war er an Forschung zur militärischen Nutzung von Krankheitserregern beteiligt, in deren Rahmen auch Menschenversuche durchgeführt wurden. Bei den Nürnberger Prozessen wurde das SS-Ahnenerbe nicht als „verbrecherische Organisation“ geführt und nur ihr Geschäftsführer, Wolfram Sievers, verurteilt und hingerichtet. May sagte hier sogar als Zeuge aus. Nach dem Krieg gründete er die Zeitschrift philosophia naturalis, war prominent auf dem Dritten Philosophen-Kongress 1950 in Bremen vertreten und lehrte bis kurz vor seinem Tod 1956 in Berlin.

Wie viele weitere Fälle wie Lipps oder May mag es noch gegeben haben? Wie viele von ihnen sind nicht Professoren geworden, sondern „nur“ in Philosophie promoviert und habilitiert? Ab wann zählt ein interessierter Laie als „Philosoph“ – und wie viele davon gab es in der SS, wie viele waren an NS-Verbrechen beteiligt? Meines Wissens nach ist das nicht systematisch erforscht. Aufgrund der schieren Zahl muss davon ausgegangen werden, dass unter den Philosoph:innen auch Täter:innen zu finden sind. Nur weil daran bisher nicht erinnert wurde, können wir die Mitglieder der Disziplin nicht pauschal freisprechen.

„Pate bei den Gaskammern“

Fast das gegenteilige Zitat zu Wolters findet sich in einer Rezension philosophischer Bücher im Jahre 1947; auch hier wird eine Familienmetapher herangezogen:

„Unsere Philosophen stehen, ob sie wollen oder nicht, Pate bei den Gaskammern des Dritten Reiches, in denen Millionen Menschen als letzter Ausfluß solchen Denkens auf die kälteste Art getötet wurden. Ein Schelling, ein Hegel, ein Marx, Haeckel und ein Nietzsche sind die Türhüter bei den Verbrechen dieser Zeit geworden […].“

Sigl: „Das Neue Buch“, S. 319.

Pate stehen, pater spiritualis sein, heißt zumindest in Teilen Verantwortung zu haben, in diesem Fall für das schrecklichste „Kind“ des NS. Allerdings sind es nicht die zeitgenössischen Philosophen, die während der Jahre 1933-1945 Lehrstühle innehatten, denen diese Verantwortung im Zitat zugesprochen wird. Der jüngste der genannten – Ernst Haeckel – starb 1919. Ich möchte an dieser Stelle nicht verhandeln, inwiefern die genannten sich tatsächlich diesen Vorwurf gefallen lassen müssen. Für die grundsätzliche Frage ist es auch unerheblich, ob es sich um richtige oder falsche Interpretationen dieser Autoren handelt, wenn Nazis sich auf diese beziehen, um ihre Taten zu beschreiben und zu rechtfertigen.[17] Die These des Zitats ist, dass die Morde der Nazis nicht in einem luftleeren Raum stattfanden. Vielmehr verorteten die Nazis sich selbst in philosophischen Traditionen. Dies unternahmen sowohl Amtsträger als auch universitäre Philosophen.[18] Dort wo letztere sich „arrangierten“, und sei es nur durch den vermeintlichen Rückzug in die „reine Wissenschaftlichkeit“[19], halfen diese die vermeintliche Normalität in Deutschland aufrecht zu erhalten, was für die Durchführung des Krieges, der Verfolgung und massenhafte Ermordung unerlässlich war. Selbst wenn sich unter den Philosophen nur die bereits genannten „Täter“ finden ließen, und selbst wenn man diese nicht als „verbrecherische Schurken“ qualifizieren wollen würde, so wäre die Philosophie dennoch nicht unbelastet.

Verfolgung, Passivität und Zustimmung

Von den habilitierten Hochschullehrern der Philosophie wird rund ein Fünftel aus rassistischen, politischen und antisemitischen Gründen aus dem Amt gedrängt. Die allermeisten Juden.[20] Gegen diese Praxis gibt es vom Rest so gut wie keinen Protest, im Gegenteil: gut zwei Drittel werden im Laufe der Jahre Mitglied der NSDAP, der SA oder der SS. Unter dem „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ finden sich im November 1933 die Unterschriften von fast dreißig Philosophen.[21] Darunter die Namen von Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer, Arnold Gehlen, Hans Freyer und Theodor Litt – um nur die bekanntesten zu nennen. Sie publizierten, lehrten auch nach 1945 und werden bis heute positiv rezipiert. Eine selbstkritische Auseinandersetzung findet man bei ihnen kaum.

Keine Entnazifizierung der Philosophie

Eine Entnazifizierung der Philosophie hat nach dem Krieg beinahe nicht stattgefunden. Zwar wurden Alfred Baeumler und Ernst Krieck, die gemeinhin als die prominentesten Vertreter der NSDAP innerhalb der philosophischen Community gelten, dauerhaft aus der Universität entfernt.[22] Krieck starb noch 1947 in einem US-amerikanischen Internierungslager. Der nur fünf Jahre jüngere Baeumler lebt noch bis 1968. Doch fast alle anderen formal oder substantiell belasteten Philosophen kehren entweder an die Universität zurück oder werden in Ehren emeritiert, spätestens 1951. Wer zurückkehrt, wie zum Beispiel der „Rassetheoretiker“[23] Oskar Becker oder der schone erwähnte Erich Rothacker, lehrt und bildet aus. Bei den genannten handelt es sich um die Doktorväter von Jürgen Habermas.[24] Auf dem Gründungskongress der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie 1950 in Bremen sind über die Hälfte der anwesenden Philosophie-Professoren ehemalige NSDAP-Mitglieder.[25] Von den Exilierten kehren hingegen nur die wenigsten zurück. Auch die politisch Verfolgten haben es schwerer wieder Fuß zu fassen, als Nazis und „Arrangierte“. In diesem Sinne erhält die Beobachtung Horkheimers ihre Berechtigung.

Das Scheitern der Entnazifizierung der Philosophie ist auf die gleichen Faktoren zurückzuführen, die auch in anderen Fällen dazu führten, dass viele überzeugte Nazis unbehelligt blieben. Auch hier wurden zuerst minderbelastete verfolgt und schwerbelastete später ganz Laufen gelassen.[26] Das wechselseitige Bürgen findet sich auch unter Akademiker:innen. Der Andrang an den Universitäten macht es nötig, schnell viele Fachleute an der Hand zu haben. Insofern lässt sich durchaus behaupten, dass die Philosophie nicht weniger von Tätern „abstammt“, als der Rest der Republik. Warum sollte auch das Engagement der Intellektuellen für den zweiten Weltkrieg und den nationalsozialistischen Staat geringer ausgefallen sein, als für den ersten Weltkrieg und das Kaiserreich?[27]

Was tun?

Die beiden „Denkschritte“ zu beherzigen heißt, wie Anne Specht schreibt, Auschwitz zu erinnern, den Ermordeten zu gedenken, die Täter zu benennen, wo es möglich ist; in manchen Fällen auch die strafrechtliche Verfolgung. Für die je individuelle Auseinandersetzung heißt das auch, die eigene Familienbiographie zu recherchieren, oft erzählte Geschichten zu prüfen und gegebenenfalls als Schutzbehauptungen zu erkennen. Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme bietet bei diesen Recherchen Hilfeleistungen.[28] Doch was tun, wenn „Opa war kein Nazi“ sich wirklich als Lüge entpuppt? Wie geht man damit um, dass man einen Mörder, oder Täter anderer Verbrechen, lieb gewonnen hat? Hier könnte nicht zuletzt die Philosophie Antworten geben – aber das hat sie nicht getan.

Erinnern heißt Geschichte zu kennen

Wenn man nun die „Denkschritte“ für die Philosophie selber wiederholt, heißt es auch hier: Geschichten prüfen, wie das hier bereits angedeutet wurde. Es gibt inzwischen viel mehr historische Darstellungen auch philosophischer Seminare an den Universitäten – aber nur wenige Synthese und noch weniger Rezeption dieser Texte von Seiten der Philosophie. Das betrifft Opfer wie Täter. Kaum ein philosophisches Seminar oder Institut kennt die Namen der Professoren, Doktor:innen, Studierenden, die vertrieben, verfolgt, ermordet wurden. Aber es gab und gibt sie.

Eine Studie an der Universität Köln, zu aberkannten Doktorgraden zählt mehrere Philosoph:innen. Exemplarisch wird darin Paul Ludwig Landsberg, dessen wohl einflussreichster Aufsatz Die Erfahrung des Todes inzwischen neu herausgegeben wurde.[29] Landsberg, geboren am 3. Dezember 1901 in Bonn, wurde 1922 mit einer Arbeit über die Platonische Akademie in Köln promoviert. 1928 wurde er in Bonn habilitiert. Noch bevor die Nazis ihm die Lehrerlaubnis entziehen, flieht Landsberg über die Schweiz nach Spanien und Frankreich und ist dort weiter philosophisch tätig. Im Mai 1939 raubt ihm die Universität Köln seinen Doktorgrad. Unter Pseudonym wird Landsberg 1942 von der Gestapo als Mitglied der Résistance verhaftet – unerkannt stirbt er am 2. April 1944 im KZ Oranienburg. Er ist damit nur einer der Exilierten und Ermordeten unter den Philosoph:innen, denen ungeheures Unrecht widerfuhr und die heute zu wenig erinnert werden. In Jena wird eine Datenbank zu Exilierten aufgebaut.[30] Das sind wichtige Projekte. Jedes philosophische Seminar müsste seine eigene Geschichte systematisch aufarbeiten und nach der Kontinuität fragen. Wer ging, wer blieb, wer leistete Widerstand, wer kam zurück, wer nicht?

Auseinandersetzung statt Giftschrank

Dies zu verdrängen oder aktiv zu leugnen ist ein nicht abbrechender, sondern im Gegenteil, stärker werdender Trend in der deutschen Gesellschaft, wie schon Anne Specht in ihrem Beitrag anmahnte. Auch in der Philosophie findet zwar einerseits eine Auseinandersetzung mit Philosophie und NS statt. Gleichzeitig wird aber die Beteiligung auf wenige schwarze Schafe reduziert – und teilweise eine „Nazifizierung“ ganz geleugnet.[31]

Auf der inhaltlichen Seite kann es nicht darum gehen, einen Giftschrank aufzustellen. Vielmehr müssten mehr Philosoph:innen sich mit den Erzeugnissen des philosophischen Betriebs der 20er- bis 50er-Jahre auseinandersetzen. Zu oft hören die Darstellungen 1933 auf und fangen 1945 an. Über diese beiden Zäsuren hinweg muss genau hingesehen werden. Genauer als es bisher getan wurde. Der heutigen Generation fehlt es dabei an „Primärerfahrung“[32]. Sie hat die Zeit des NS weder aktiv, als Kind oder aus der Ferne miterlebt. Die Doktorväter und -mütter der meisten Professor:innen werden auch erst nach dem Krieg studiert haben. Den NS kennen sie aus dem Schulunterricht, Büchern, Museen, Filmen – kurz: als fernes Unheil. Sie kennen ihn nicht aus der Lektüre nationalsozialistischer Texte, zumal philosophischer. Sie kennen auch nicht die spezifische Geschichte der philosophischen Seminare, Institute, Verbände, Verlage und Zeitschriften. Diese Kenntnisse müssen sich angeeignet werden. Am besten geschähe dies im Philosophie-Studium.

Stattdessen hat sich in der Philosophie – ob „Primärerfahrungen“ vorhanden sind oder nicht – ein viel zu einfaches Schwarz-Weiß-Schema etabliert: Wer Nazi war, hat nicht philosophiert; wer philosophiert, war kein Nazi. Jede Möglichkeit eines differenzierten Urteils ist darin verloren. Es handelt sich um Zerrbilder des Nationalsozialismus und der Philosophie.

Kann es eine antifaschistische Philosophie geben?

Warum ist es wichtig neben den Opfern an derartige unangenehme Wahrheiten zu erinnern? Ausgerechnet Immanuel Kant gibt darauf eine prägnante Antwort: „Also ist die Falschheit in der Beurteilung unser Selbst das radicale Böse.“[33] In der Selbsttäuschung über die eigene Vergangenheit lebt das Übel fort und es ist selber noch ein ganz eigenes Übel, eine „zweite Schuld“, wie Ralph Giordano es nannte.[34] Gegen dieses Übel hilft nur Erinnern. Dabei geht es aber nicht einfach nur um das Bewahren.

Es reicht nicht, sich auf der Behauptung auszuruhen, kein Nazi zu sein. Vor allem dann, wenn man sich die Kriterien dafür, was es heißt in der Nazi oder „Täter:in“ zu sein, selbst ausgedacht hat. Man müsste die Frage, ob es eigentlich eine NS-Philosophie gab, umdrehen: Kann es eine antifaschistische Philosophie geben? Und wie hätte diese auszusehen? Klar ist, sie muss erinnern und sich über sich selbst aufklären. Sie muss fragen, warum das „Verhalten der Vertreter der deutschen Philosophie so wenig beispielhaft war?“[35] Und sie wird die Antworten in deren Philosophie zu suchen haben. Sie muss auch die philosophische Frage stellen, wie man mit etwas umgehen kann, das nicht hätte passieren dürfen. Sie muss auch fragen, wie sich ein neues „Auschwitz“ verhindern lässt und was der Beitrag der Philosophie dazu sein kann.

© David Palme

Literatur

  • Hannah Arendt: Besuch in Deutschland. Berlin 1993.
  • Rudolf Augstein (Hg.): „Historikerstreit“ Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München/Zürich 1987.
  • Oskar Becker: „Nordische Metaphysik“ in: Rasse, Jg. 5, Leipzig/Berlin 1938, S. 81-92.
  • Max Czollek: Desintegriert euch! München 2020.
  • Hans-Joachim Dahms: „Philosophie“ in: Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933 – 1945 hrsg. von Frank-Rutger Hausmann unter Mitarb. von Elisabeth Müller-Luckner. München 2002, S. 193-228.
  • August Faust (Hg.): Das Bild des Krieges im deutschen Denken. Stuttgart/Berlin 1941.
  • Tilman Fichter: SDS und SPD. Parteilichkeit jenseits der Partei. Opladen 1988.
  • Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intelektuellen und der erste Weltkrieg. Berlin 2000.
  • Hans Friedrich Fulda: „Schwerpunkt: Nationalsozialismus und Philosophie“ (Einleitung) in: Deutsche Zeitschrift für Philosphie. Jg. 47 (1999), H. 2, S. 203–211.
  • Hans-Georg Gadamer: „‚… die wirklichen Nazis hatten doch überhaupt kein Interesse an uns’ Hans-Georg Gadamer im Gespräch mit Dörte von Westernhagen“ in: Das Argument 182. Hamburg 1990, S. 543-551.
  • Gösta Gantner: „Das Ende der ‚Deutschen Philosophie‘. Zäsuren und Spuren eines Neubeginns bei Karl Jaspers, Martin Heidegger und Theodor W. Adorno“ in: Hans Braun, Uta Gerhardt (Hg.): Die lange Stunde Null. Baden-Baden 2007, S. 175-202.
  • Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder von der Last, Deutscher zu sein. Hamburg 1987.
  • Notker Hammerstein: „Zur Geschichte des Philosophischen Seminars der Johann Wolfgang Goethe-Universität während des Dritten Reichs“ in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Jg. 39, 1989, S. 271-310.
  • Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine. 1890 – 1933. Stuttgart 1983.
  • Erich Rothacker: „Die Kriegswichtigkeit der Philosophie“ in: Kriegsvorträge der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hrsg. v. Gaudozentenführer u. dzt. Rektor Prof. Dr. Karl F. Chudoba, H. 37, Bonn 1944.
  • Frank-Rutger Hausmann: Die Geisteswissenschaften im „Dritten Reich“. Frankfurt 2011.
  • Heinz Herz: „‚Freiheit der Wissenschaften‘ unter dem Nazismus“ in: Das Hochschulwesen, Jg. 7, H. 11ff., 1959ff.
  • Johannes Hessen: Universitätsreform. Düsseldorf 1953.
  • Max Horkheimer [HGS]: Gesammelte Schriften hrsg. v. Alfred Schmidt. Frankfurt/M. 1995.
  • Margit Szöllösi-Janze, Dagmar Herrmann (Hg.): Doktorgrad entzogen! Aberkennung akademischer Titel an der Universität Köln 1933 bis 1945. Köln 2005.
  • Immanuel Kant: Reflexion 8096, AA 29: S. 640.
  • Hubert Kiesewetter: Von Hegel zu Hitler. Die politische Verwirklichung einer totalitären Machtstaatstheorie in Deutschland (1815 – 1945), 2., völlig veränderte und erweiterte Auflage, Frankfurt 1995.
  • Werner Konitzer, Johanna Bach, David Palme, Jonas Balzer (Hg.): Vermeintliche Gründe. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus. Frankfurt 2020.
  • Philip Laugstien: Philosophieverhältnisse im deutschen Faschismus. Hamburg 1990.
  • George Leaman: Heidegger im Kontext. Gesamtüberblick zum NS-Engagement der Universitätsphilosophen. Hamburg 1993.
  • James F. Tent: „Denazification of Higher Education in U.S. Occupied Germany, 1945-1949“ in: Manfred Heinemann (Hg.): Hochschuloffiziere und Wiederaufbau des Hochschulwesens. Hildesheim 1990, S. 9-15.
  • Christian Tilitzki: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Berlin 2002.
  • Martin Sabrow: „Die ‚Stunde Null‘ als Zeiterfahrung“, in: Aus Politik und Zeitgeschehen, Jg. 70, H. 4-5, 2020, S. 31-38.
  • Rupert Sigl: „Das Neue Buch: Philosophie“ in: Neues Abendland, Jg. 2, H. 10, 1947, S. 319.
  • Gereon Wolters: „Der ‚Führer‘ und seine Denker. Zur Philosophie des ‚Dritten Reichs‘“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 47 (1999), H. 2, S. 223–251.
  • Gereon Wolters: Vertuschung, Anklage, Rechtfertigung. Impromptus zum Rückblick der deutschen Philosophie auf das „Dritte Reich“. Bonn 2004.

[2]    Die Rede Richard von Weizsäckers lässt sich hier nachlesen: https://www.tagesschau.de/inland/rede-vonweizsaecker-wortlaut-101.html Nur jeweils zwei Beispiele zur Debatte um den Feiertag: PRO: https://www.mopo.de/hamburg/8-mai-der-tag-der-befreiung-wann-wird-endlich-ein-richtiger-feiertag-daraus/ und CONTRA: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/news-des-tages-christian-lindner-in-china-unerwuenscht-verschiebt-robert-habeck-seine-heizungsplaene-a-a16647d8-4218-45d3-b795-77a630189e7f; Etwas substantieller aus den letzten Jahren: PRO: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/308182/der-8-mai-ein-deutscher-feiertag/ und CONTRA: https://www.deutschlandfunkkultur.de/historiker-norbert-frei-warum-der-8-mai-kein-gesetzlicher-100.html
[3]    Sabrow: „Die ‚Stunde Null‘ als Zeiterfahrung“, S. 34.
[4]    Czollek: Desintegriert euch!, S. 20.
[5]    Faust: Bild des Krieges, VIII.
[6]    Hausmann: Die Geisteswissenschaften, S. 87.
[7]    Bei den nicht publizierten Sektionen handelt es sich neben der von Weinhandl geleiteten „Europa und die deutsche Philosophie“ um „Deutsche Kunstphilosophie“ (Hermann Glockner), „Deutsche Psychologie (Oswald Kroh, Philipp Lersch, Friedrich Sander), „Vom Wesen der deutschen Philosophie“ (Hermann Glockner) und „Berlin als Sitz weltgestaltender Philosophie“ (Eduard Spranger). Vgl. Hausmann, Die Geisteswissenschaften, S. 116.
[8]    Hammerstein: „Zur Geschichte des Philosophischen Seminars der Johann Wolfgang Goethe-Universität“, S. 303-310.
[9]    Von ihm ist der Nachwelt unter anderem ein philosophisches Porträt Ernst Kriecks erhalten geblieben. Das Vorwort dazu verfasste Kunz im Mai 1942 in der Infanterieschule Döberitz.
[10]  Zu einer Auswahl von „politisch-weltanschaulichen Lehrveranstaltungen“ vgl. Tilitzki, Universitätsphilosophie, S. 1173-1272.
[11]  Erich Rothacker: „Die Kriegswichtigkeit der Philosophie“ in: Kriegsvorträge der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hrsg. v. Gaudozentenführer u. dzt. Rektor Prof. Dr. Karl F. Chudoba, H. 37, Bonn 1944.
[13]  Max Horkheimer an seine Frau Marion am 13. Juni 1948. Vgl. HGS 17: 984.
[14]  Arendt: Besuch in Deutschland, S. 40-42.
[17]  Es sei aber auf solche Versuche verwiesen, so zum Beispiel zu Hegel: Hubert Kiesewetter: Von Hegel zu Hitler. Die politische Verwirklichung einer totalitären Machtstaatstheorie in Deutschland (1815 – 1945), 2., völlig veränderte und erweiterte Auflage, Frankfurt 1995. Zu Nietzsche: Allein in den ersten zwei Nachkriegsjahren erscheint mehr als ein Dutzend Monographien und Aufsätze, in denen Nietzsche Schuld für den NS zu- oder abgesprochen wird. Zu Schelling ist mir zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags keine Debatte dieser Art bekannt – Bezüge auf Schelling finden sich auch in NS-Texten. Zu Marx: Es ist relativ gewiss, dass es keinen positiven Bezug von NS-Denkern auf Marx gibt. Im Rahmen der Debatte um den „Totalitarismus“ wurde Marx allerdings eine indirekte Verantwortung zugesprochen. Eine Position, die nur schwer zu halten ist. Hier kann zum Beispiel auf den „Historikerstreit“ verwiesen werden, in dem es u.a. um die Frage geht, ob die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager als bloße Reaktion auf das Lagersystem der Sowjetunion zu betrachten sind, vgl. die Beiträge in: Augstein: „Historikerstreit“.
[18]  Ein Beispiel dafür liefert der bereits erwähnte August Faust in seinem Aufsatz „Das Bild des Krieges im Deutschen Denken“. Vgl. für einen kleinen Überblick dazu: Konitzer et al (Hg.): Vermeintliche Gründe, S. 61-63.
[19]  Alexander Mitscherlich in der Göttinger Universitätszeitung (GUZ), 2. Jahrgang, Nr. 17/18 vom 15.08.1947, zitiert nach: Fichter: SDS und SPD, S. 37.
[20]  Ein Fünftel ist die Zahl von Leaman (vgl. S. 108) Hausmann hingegen beruft sich auf das Handbuch der deutschsprachigen Emigration und spricht von einem Drittel der Hochschullehrer, das bis 1941 entlassen wird. Hausmann, Geisteswissenschaften, S. 101.
[21]  Vgl. Laugstien: Philosophieverhältnisse, S. 202; Leaman: Heidegger im Kontext, S. 100.
[22]  Sie waren dabei über alle Maßen zerstritten – was immerhin beinahe zum Verbot einer Festschrift anlässlich Hitlers Geburtstag geführt hätte. Vgl. Herz: „Freiheit der Wissenschaften“.
[23]  In einem Interview antwortet Hans-Georg Gadamer nach seiner Einschätzung Oskar Beckers gefragt: „Natürlich war Becker ein Rassetheoretiker, aber ein sehr guter, so wie sein Freund Ferdinand Clauß auch. Das Buch ‚Rasse und Seele‘ von Clauß stammt aus dem Jahr 1923, da gab es noch gar keine Nazis.“ Er kommt später noch einmal auf Becker zurück: „Aber sie dürfen Becker wegen seiner Rassentheorie nicht zum Nazi machen.“ (Gadamer: Interview, S. 546) Beckers „Rassentheorie“ erscheint u.a. in Form des Aufsatzes „Nordische Metaphysik“ in der Zeitschrift Rasse, Jg. 5, Leipzig/Berlin 1938, S. 81-92.
[24]  Habermas hat sich zu seinen Doktorvätern nicht öffentlich ausgelassen. Angeblich gibt es aber ein entsprechendes Dokument (Wolters: Vertuschung, S. 10-13).
[25]  Zu diesem Ergebnis kommt man, wenn man die Daten von Laugstien und Leaman mit der Liste der Anwesenden vergleicht. Die Liste der Anwesenden findet sich in: Helmuth Plessner: Symphilosophein. Bericht über den Dritten Deutschen Kongreß für Philosophie Bremen 1950. München 1952.
[26]  James F. Tent: „Denacification“.
[27]  Vgl. dazu zum Beispiel Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der erste Weltkrieg. Berlin 2000, und etwas früher schon verfasst: Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine. 1890 – 1933. Stuttgart 1983. Die Frage ist keine rein rhetorische. Man würde gerne antworten: „Weil man etwas gelernt hat.“ Aber kann man das wirklich behaupten? Und wenn man das nicht behaupten kann, muss man dann nicht ernsthaft fragen, was man nach 1945 gelernt hat?
[28]  https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/bildung/fortbildungen-und-seminare/
[29]  Szöllösi-Janze, Herrmann (Hg.): Doktorgrad entzogen!; Paul Ludwig Landsberg: Die Erfahrung des Todes. Hrsg, mit einer Einleitung und einem Nachwort versehen von Eduard Zwierlein. Berlin 2009. Der Band enthält auch eine biographische Skizze. Inzwischen wurde auch Das moralische Problem der Selbsttötung von Landsberg neu herausgegeben.
[30]  https://www.philosophie.uni-jena.de/datenbank-exilphilosophie
[31]  Gantner: Ende der Deutschen Philosophie, S. 176; Die Benennung schwarzer Schafe betreiben auch Wolters: „Der ‚Führer‘ und seine Denker“ oder Dahms: „Philosophie“.
[32]  Fulda: Nationalsozialismus und Philosophie, S. 207-209.
[33]  Kant: Reflexion 8096, AA 29: S. 640.
[34]  Giordano: Die zweite Schuld.
[35]  Johannes Hessen: Universitätsreform, S. 11.

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1 Kommentar

  1. „Was ist der nächste Schritt?“

    Lieber David,

    Dein Blogeintrag macht mindestens zweierlei mit Nachdruck deutlich,
    1. dass die Philosophie in Deutschland sowohl personell als auch mit inhaltlichem Bestreben in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt war.
    2. dass dieses Verstrickung in den NS keineswegs aufgearbeitet wurde und mitunter nach wie vor verleugnet wird.

    Allein die Quellen, die Du im Rahmen dieses Blogeintrages diskutierst, genügen, um in mir das Gefühl zu wecken, über die Philosophie im NS bei Weitem noch nicht genug zu wissen. Wenn bereits ein Blogeintrag so viel „Neues“ vor Augen führen kann – auch wenn er vielleicht nur zuvor bloß verstreutes zusammenträgt – dann weist das auf ein enormes Diskursdefizit hin. Weder im deutschen Philosophiestudium noch in der breiteren philosophischen Öffentlichkeit werden diese Fragen und Inhalte besprochen. Dabei wäre das, wie Du überzeugend argumentierst, für eine philosophische Selbstverortung eigentlich unabdingbar. Deine Forderung, dass eine Aufarbeitung an den philosophischen Instituten in Deutschland zu erfolgen hätte, kann ich daher nur unterstreichen.

    In Bezug auf die von Dir gemachten Vorschläge stelle ich mir allerdings die Frage, welcher Schritt der nächste ist. Du hast sicher recht, dass es wichtig ist, sich auch mit dem Negativ der nationalsozialistischen Philosophie, der Vertreibung und Verfolgung jüdischer und sozialistischer Philosoph:innen zu beschäftigen. Doch ebenso, wie die Frage nach einer anti-faschistischen Philosophie scheint mir das nicht der dringlichste Schritt zu sein. Denn beide Fragen bieten das Potenzial, der Frage nach der eigenen Verstrickung ein weiteres Mal auszuweichen. Anstatt die personellen und ideellen Kontinuitäten in Deutschland zu beleuchten, bietet die Beschäftigung mit den Verfolgten die fragwürdige Option, sich kurzerhand mit diesen zu identifizieren – mir schwebt ein Bild vor, in dem sich philosophische Institute in Deutschland mit den Listen ihrer verfolgten Schüler:innen und Mitarbeit:innen schmücken. Die Frage nach einer anti-faschistischen Philosophie wiederum, scheint mir ohnehin nur ernsthaft beantwortet werden zu können, nachdem das Wissen um die Verstrickung eine weitere Öffentlichkeit gefunden hat. Erst wenn wir uns über die Zusammenhänge der philosophischen Beteiligung am Nationalsozialismus im Klaren sind, können wir uns die Frage stellen, inwiefern eine Philosophie solcher Beteiligung vorbeugen könnte.
    Der nächste Schritt scheint mir daher zu sein, die verstreut bereits bestehende Forschung zur Verstrickung und die vereinzelt bereits geführten Debatten zur Aufarbeitung zusammenzutragen und einer breiteren philosophischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um so eine fundierte Diskussion der Frage zu ermöglichen, inwiefern die spezifische Thematisierung bzw. Nicht-Thematisierung des Nationalsozialismus die Philosophie im deutschen Post-Nazismus bis heute prägt.

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