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Pro und Contra: Kann die Moralphilosophie auf die Kategorie des Bösen verzichten?

Veröffentlicht am 14. Oktober 2013

Pro: Volker Gerhardt

Wer vom „Guten“ spricht, kann vom „Bösen“ nicht schweigen. Doch das Böse ist nicht die einzige Negation des Guten, selbst dann nicht, wenn wir das Gute ausdrücklich ethisch oder moralisch verstehen. Man kann auch von „üblen“ Vorsätzen, „schlechten“ Taten, „verkehrten“ Zielen oder von einem „verfehlten“ Leben sprechen. So zu reden, hält die Basis der Bewertung bewusst und lässt den relativen Sinn der Negation nicht vergessen. Die Rede vom Bösen hingegen steht in der Gefahr, als absolut verstanden zu werden. Ihr sollte man unter den durchweg relativen Bedingungen des menschlichen Daseins aus dem Wege gehen.

Das Bedenken ließe sich freilich schon gegen den Begriff des „Guten“ erheben. Wenn er im theologischen Kontext auf Gott bezogen oder im metaphysischen Sinn auf das Eine angewendet wird, geht er über alle anderen Konditionen hinaus. Dann ist seine „Unbedingtheit“ Ausdruck eines Denkens, das auf das Ganze zielt und eben darin die Bedingtheit der einzelnen Vorkommnisse überschreiten will. Selbst dort, wo das „Gute“ einem sich von allen Relationen lösenden autonomen Willen entspricht, kann man es in seiner exterritorialen Position belassen. Es hat die Stellung eines Werts, der über alle anderen erhaben ist. Er mag unerreichbar sein und bleibt dennoch für jeden jederzeit verbindlich.

Dieses Zugeständnis kann man dem „Bösen“ nicht machen. Wird es in seiner Stellung als absolutes Gegenüber eines absoluten Guten belassen, müsste vom „Teufel“ die Rede sein. Doch selbst wenn man das Böse theologisch bagatellisiert und in die wandelbare Vielfalt der menschlichen Lebenswelt überträgt, kann es seiner teuflischen Herkunft schlecht entraten: Denn es behält den Charakter des Unbelehrbaren und Unverbesserlichen; es streift die Schlangenhaut des absolut Bösen nicht wirklich ab und wird zum „radikal Bösen“, das unter allen Bedingungen bleibt, was es ist.

Man sollte daher vom Bösen in der Beschreibung menschlichen Verhaltens nur sprechen, wenn man etwas kennzeichnen will, das die Grenzen des Vorstellbaren sprengt. Das gilt etwa für die massenhaften Verbrechen gegen die Menschlichkeit im 20. Jahrhundert oder für den religiös verblendeten Terror, der bislang das 21. Jahrhundert bestimmt. Doch schon der Versuch, einzelne Institutionen oder Personen als „böse“ zu bezeichnen, führt in Schwierigkeiten; Hannah Arendts Beschreibung Adolf Eichmanns oder die politische Rede vom „Reich des Bösen“ haben das offenkundig gemacht.

Deshalb empfiehlt es sich, in der ethischen Klassifikation menschlichen Verhaltens auf die radikale Abwertung durch den Begriff des Bösen zu verzichten. Nietzsche hat ganz richtig gesehen, dass der Schritt vom „Schlechten“ zum „Bösen“ durch das Ressentiment zustande kommt: „Böse“ nennen die „Schlechten“ die „Guten“, wenn sie von ihrem eigenen Versagen ablenken wollen. Dem Verdacht einer solchen Umwertung der Werte kann sich entziehen, wer das Schwache, Verschlagene, Unaufrichtige, Widersprüchliche, Unverantwortliche oder auch einfach Unvernünftige beim Namen nennt und es in Verbindung mit dem Versagen beschreibt, das er an sich selbst oder an seinesgleichen beklagt. Dabei muss die an die Stelle von „gut“ und „böse“ rückende Opposition zwischen „gut“ und „schlecht“ keineswegs an begrifflicher Schärfe verlieren. Nur denkt sie die mögliche Korrektur eines sich zum Besseren wendenden Verhaltens mit; sie spricht niemandem die Chance zur Besserung ab.

Volker Gerhardt ist Professor für Praktische Philosophie, Rechts- und Sozialphilosophie an der Humboldt Universität zu Berlin.

Contra: Hans-Jörg Ehni

Die Moralphilosophie kann aus drei Gründen nicht auf die Kategorie des Bösen verzichten. 1. Sie muss die Verwendung des Begriffs in Alltagssprache und -moral klären. 2. Sie braucht einen Begriff, um ein Extrem des Unmoralischen zu beschreiben. 3. Sie muss andere Grundbegriffe im Verhältnis dazu bestimmen.

Man könnte zuerst einwenden, dass der Begriff des Bösen auch im Alltäglichen keine Relevanz mehr habe, um Handlungen oder Personen moralisch zu bewerten. Sucht man in einem Nachrichtenportal im Internet jedoch nach „böse“, wird man schnell durch die große Anzahl und den Inhalt von Fundstellen eines Besseren belehrt. Die Meldungen, die durch den Suchbegriff herausgefiltert werden, beziehen sich auf Terroristen, Verschwörungstheorien, afrikanische Warlords, datenhungrige Internetfirmen, die ihrem Firmenmotto zuwider handeln, auf die Finanzindustrie und den sonntäglichen Tatort. Abgeklärte Ironie über Verbrecherklischees und Monster in Horrorfilmen mischt sich mit Ratlosigkeit angesichts von Brutalität, kalter Gier, gezielter Erniedrigung und des Missbrauchs Anderer. Diese Ratlosigkeit gegenüber extremen Phänomenen des Unmoralischen aufzuklären, ist Aufgabe der Moralphilosophie.

Eine moralphilosophische Kritik der alltäglichen Verwendung des Ausdrucks „moralisch böse“ könnte diesen zwar als unangemessen zurückweisen. Damit würde aber die Moralphilosophie den Standpunkt aufgeben, dass es sich bei den als „böse“ bezeichneten Phänomenen um genuin moralische handelt. Moralisch böse zu handeln würde zu einer gesellschaftlichen oder psychischen Pathologie. Wird man mit einem solchen Verständnis aber den Phänomenen gerecht? Beispiele des moralisch Bösen, die von Immanuel Kant stammen, sind die „ungereizte Grausamkeit“ und die „falsche Freundschaft“. Nicht etwa nur Extreme von Gewalttätigkeit und Aggression dienen ihm zur Veranschaulichung, sondern die kühle Instrumentalisierung von Schmerz und der strategische Missbrauch der Freundschaft, um dem vorgeblichen Freund zu schaden. Dies geschieht gerade im vollen Bewusstsein der moralisch relevanten Qualität des Anderen, also seiner Verletzlichkeit, und dessen, was den besonderen Wert seiner Person ausmachen könnte. Es handelt sich dabei um ein „radikal Böses“ im doppelten Sinn: um ein Extrem unmoralischen Handelns und um ein „eingewurzeltes“ Böses, also um eine grundlegende menschliche Möglichkeit, sich zur Moral zu verhalten.

Wenn der Widerspruch zur Moral als solcher und als Grundverhältnis einer Person zur Moral intendiert werden kann, stellt sich dadurch die Frage nach seiner Rationalität. Das Verständnis des moralisch bösen Handelns gerät in ein Dilemma: Ist es als solches intendiert, dann muss die praktische Vernunft Anteil an ihm haben. Wenn es aber in einem gewissen Sinn „vernünftig“ ist, wieso soll es dann als Extrem der Unmoral nicht zu rechtfertigen sein? Spricht man ihm aber die vernünftige Dimension ab, stellt sich die Frage, inwiefern es dann noch als solches intendiert, also auch zurechenbar sein kann. Diese Fragen zielen darauf ab, wie praktische Vernunft und Freiheit im Hinblick auf die Möglichkeit des moralisch Bösen bestimmt werden. Hier liegt die Herausforderung, die die Kategorie des moralisch Bösen für jede Art von Moralphilosophie darstellt.

Hans-Jörg Ehni ist Stellvertretender Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen.

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Beitragsthemen: Moral

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