Generic selectors
Exact matches only
Search in title
Search in content
Post Type Selectors
Filter by Categories
InDebate
InDepth

Schwerpunktbeitrag: Über den wahrheitsliebenden Politiker

Veröffentlicht am 16. März 2015

Conrad Foto

Burkhard Conrad

Für Michael Th. Greven 1947-2012

Politisches Handeln und Wahrheit haben nichts miteinander zu tun. So scheint es in der politischen Wissenschaft heutzutage Konsens zu sein.[1] Im Sinne einer Abrüstung politisch-religiöser Rhetorik und der Vermeidung immer wieder aufkeimenden Allmachtsphantasien sind solche Stimmen mehr als nachzuvollziehen. Politische Theologie im Sinne einer parteiischen Inwertsetzung unverfügbarer Wahrheit zur Unterfütterung wankender Ordnungsvorstellungen ist als Projekt gescheitert.

Das bedeutet aber nicht, dass die praktische Welt der Politik mit der transzendenten Sphäre der Wahrheit unter keinen Umständen in Berührung kommen darf. Ein solches Denk- und Handlungsverbot geht mit der Gefahr einher, dass jegliche Wahrheitsfrage aus dem politischen Raum herausgedrängt bzw. zur „bloß“ pragmatischen Richtigkeitsfrage relegiert wird. Dass die Frage nach der Wahrheit für das politische Handeln als unwichtig, ja, schädlich erachtet wird. Ganz zu schweigen davon, dass diese Forderung an der Wirklichkeit vorbeigeht, hätte sie praktische und theoretische Konsequenzen. Praktische Konsequenzen, da ein wahrheitsliebender Mensch nur noch mit einem um existentielle Teile reduzierten Selbstbild sich in die Politik einmischen dürfte. Theoretische Konsequenzen, da einer Anzahl von intellektuellen Anstrengungen im Grenzgebiet von Theologie, politischer Philosophie und politischer Theorie die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit abgesprochen werden würde.

Im Folgenden interessiert mich vor allem die praktische Seite des Verhältnisses von Wahrheit und politischem Handeln. Diese behandele ich freilich auf theoretische, besser, ideengeschichtliche Weise. Mir ist es ein Anliegen, dass dem anfangs geschilderten Ansinnen entgegen gesteuert wird. Nicht, weil es nicht opportun wäre, über die Trennung von Wahrheitsglauben und konkretem politischen Tun nachzudenken. In ihrer institutionellen Auskleidung – eine mögliche ist jene von Kirche und Staat – ist solch eine Trennung in vielen Staaten Wirklichkeit, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Jenseits der institutionellen Sphäre liegen die Dinge aber gänzlich anders.

Und zwar: Wahrheit und die Beschäftigung mit ihr sind ist aus dem politischen Handeln von Menschen nicht wegzudenken. Wahrheitsliebende Menschen taugen als Politiker, in gleicher Weise wie pragmatische Menschen. Sie sind alles andere als das Einfalltor ungewünschter Fundamentalismen. Sie sind aber auch nicht vordringlich das Gewissen der Nation. Dies hieße Wahrheit mit Moral bzw. Ethik gleichzusetzen. Wahrheitsliebende Politiker wissen vielmehr um das, was jenseits des menschlich Machbaren liegt. Sie ahnen etwas von dem, was unserem Streben nach kollektiver Selbstorganisation – mit allen notwendigen Vorbehalten – in Richtung der Transzendenz übersteigt. Sie halten das politische Spiel der Mächte für ein wichtiges, aber letztlich eben „nur“ vorläufiges Geschehen. Der eigentliche Ort der Macht ist in ihren Augen nicht im Bereich des menschlichen Handelns zu finden. Diese Überzeugung hält der wahrheitsliebende Politiker (den es selbstverständlich auch in weiblicher Form gibt) für so bedeutsam, dass er sie nicht aus seinem politischen Alltag heraushalten möchte.

Wahrheitsfragen und religiöser Glaube überlappen an vielen Stellen miteinander, sind aber nicht identisch. Nicht jede Wahrheitsliebe speist sich aus explizit offengelegten religiösen Quellen. Und der religiöse Glaube garantiert noch lange keinen freien Blick auf die lichten Höhen der reinen Wahrheit, um eine herkömmliche metaphorische Sprache zu benutzen. Um im folgenden dem Vorwurf aus dem Weg zu gehen, mir ginge es nur darum, der organisierten Religion den Weg in das öffentliche Leben und Nachdenken (zurück) zu bahnen, werden meine drei ideengeschichtlichen Stationen nicht aus einem Terrain stammen, dem man traditionelle Religiosität vorwerfen könnte. Anhand dieser Stationen möchte ich nicht einfach meinem Argument auf die Beine helfen. Dazu finden sich bei meinen Quellen zu viele Widerworte. Vielmehr ist es mein Anliegen, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie über Wahrheit und politisches Handeln nachgedacht werden kann. Und wie auf dieser Grundlage eine eigene, durchdachte Stellungnahme aussehen kann.

Max Weber, Simone Weil und Hannah Arendt sind meine Frage betreffend keine unbelasteten Kandidaten. Sie stellen auch keine überraschende Auswahl dar. Sie sind aber alles andere als Apologeten einer unreflektierten Frömmigkeit bzw. einer emphatischen politischen Theologie. Sie werden sämtlich auch in der theologischen Disziplin rezipiert, lassen sich aber nicht theologisch vereinnahmen. Weber, Weil und Arendt gehen ganz unterschiedliche Wege, um politisches Handeln und Wahrheitsliebe miteinander zu verbinden bzw. die Grenzen einer solchen Verbindung aufzuzeigen. Der eine – Weber – begründet eine pragmatische, zurückhaltende Position, wie sie auch heute von pragmatischen, zurückhaltenden Politikern vertreten wird.[2] Die zweite – Weil – treibt eine zugleich areligiöse und mystisch anmutende Wahrheitsliebe voran, die mitunter hart an die Grenze des Zumutbaren geht. Die dritte – Arendt – scheint zwischen den beiden Polen zu vermitteln ohne, dass dies ihr ausdrückliches Anliegen wäre.

Der wahrheitsliebende Politiker, wie er von Max Weber, Simone Weil und Hannah Arendt in unterschiedlichen Schattierungen beschrieben wird, ist ein Idealtypus. Dieser Idealtypus inspiriert viele Menschen in der Politik. Dabei handelt es sich um Menschen, die sich neben den Sachfragen und den pragmatischen Richtigkeitsfragen auch Fragen nach der bleibenden Gültigkeit und Glaubwürdigkeit ihrer Entscheidungen stellen. Diese Menschen sind sich darüber bewusst, dass ihr öffentliches Handeln mit einer erweiterten Verantwortung einhergeht und sie schuldig machen kann: vor den konkreten Menschen, aber auch vor der Grundverfassung unserer Wirklichkeit, die, folgt man der scholastischen Schuldefinition[3], mit der Wahrheit korrespondiert. Für den wahrheitsliebenden Politiker ist diese Wahrheit – und damit komme ich einer „Definition“ von Wahrheit so nahe, wie es mir eben möglich ist – eine objektive Sinnwirklichkeit, die transzendent und handlungsanleitend, unanschaulich und wirkmächtig zugleich ist. Dass es eine solche für die alltägliche Politik relevante Grundverfassung bzw. Sinnwirklichkeit gibt, wird von den eingangs erwähnten Stimmen aus der Politikwissenschaft geleugnet. Selbst wenn man diesen Stimmen folgen würde, dann sollte das unbestreitbare Vorhandensein wahrheitsliebender Politiker einen doch wachsam dafür machen, dass politisches Handeln sich auch vor einem außeralltäglichen Horizont abspielt. Und zu diesem Horizont gilt es sich zu verhalten, wissenschaftlich-theoretisch und politisch-praktisch.

Max Webers Sehnsucht nach der Wahrhaftigkeit

Es ist nicht unüblich, Max Webers bekannte Unterscheidung zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik[4] mit dem Hinweis zu zitieren, Weber schlüge sich mit dieser Unterscheidung eindeutig auf die Seite des Verantwortungsethikers und des Pragmatikers, wodurch Webers Position in dieser Angelegenheit ausreichend geklärt sei. Dass Weber eine Vorliebe für Verantwortung und eine Abneigung gegenüber der Gesinnung hat, ist zweifellos richtig. Doch erschöpft sich darin Webers Beitrag zu der Frage nach der Wahrheitsliebe von Politikern?

Auf den ersten Blick lautet die Antwort auf die Frage: Ja, die Dinge liegen so einfach. Dem Gesinnungsethiker wirft Weber in seinem Vortrag „Politik als Beruf“ nämlich vor, ohne Rücksicht auf die Folgen seiner Haltung und Handlung an seinen Prinzipien festzuhalten. „Nach ‚Folgen’ fragt eben die absolute Ethik nicht“, schreibt Weber unmittelbar bevor er seine berühmte Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik einführt. Gesinnungsethiker achten nicht auf die Kontexte ihrer Handlung und auf die sich daraus entwickelnden Verkettungen von weiteren Umständen, Schicksalen und Situationen. Sie sind, um es in der hier gewählten Begrifflichkeit auszudrücken, vollkommen von der Wahrheit eingenommen. Diese Wahrheit legt ihr Handeln fest. Zu Kompromissen sind sie in vielen Fällen gar nicht und in anderen Fällen kaum geneigt. Sie haben die Neigung, alle erdenklichen technischen Detailfragen zu Fragen um das Ganze empor zu stilisieren. In jeder Einzelsache wittern sie einen unwiederbringlichen Dammbruch, nach dem der Unmoral, dem Mord und Totschlag, der Lüge Tür und Tor geöffnet sind. Überall fühlen sie sich der Wahrheit verpflichtet, ohne dass sie den Quellen dieser vermeintlichen Wahrheit nachgehen.[5] Gesinnungsethiker betrachten die Welt durch ein Schema des „Entweder-Oder“, durch das sich das Wahre von der Lüge eindeutig unterscheiden lässt, wie es auch Avishai Margalit mit Blick auf die Kompromissunfähigkeit eines manichäischen Weltbildes beobachtet: „There is no twilight zone, no room for compromise: it is ‚either-or’.“[6] Einem solchen Gesinnungsethiker spricht Weber die Fähigkeit zu einem verantwortungsvollen Handeln für die Menschen ab. Gerade weil er nach der „Ethik des Evangeliums“[7] handelt, ist er für den politischen Alltag und die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens ungeeignet.

Doch das ist nicht alles, was Max Weber über den wahrheitsliebenden Politiker – er nennt ihn natürlich nicht so – zu sagen hat. Wer „Politik als Beruf“ genau liest, der wird bemerken, dass Weber einen blanken innerweltlichen Pragmatismus weit hinter sich lässt. Manche würden sagen: Er kann einen Rest an metaphysischem Überschuss in seinem Denken nicht abschütteln. Denn, so Weber, auch der Verantwortungsethiker sucht durchaus den „Sinn“ in seinen Handlungen. Er schreibt: „Es ist durchaus wahr und eine – jetzt hier nicht näher zu begründende – Grundtatsache aller Geschichte, dass das schließliche Resultat politischen Handelns oft, nein: geradezu regelmäßig, in völlig unadäquatem, oft in geradezu paradoxem Verhältnis zu seinem ursprünglichen Sinn steht. Aber deshalb darf dieser Sinn: der Dienst an einer Sache, doch nicht etwas fehlen, wenn anders das Handeln inneren Halt haben soll.“[8] Also doch ein metaphysischer Einschuss? Es wäre verkehrt, in dieser Referenz an den „Sinn“ einen unweigerlich transzendentalen Bezug in Webers Konzeption des verantwortungsvollen Politikers zu sehen. Dennoch macht Webers Insistieren auf sinnvollem politischem Handeln stutzig. Was hat es mit diesem Sinn auf sich?

Dem Zitat folgend ist Sinn gleichzusetzen mit dem Dienst an der Sache. Diese Sache besteht nicht nur aus kurzfristigen politischen Zielen, sondern bezieht sich auf den umgreifenden Rahmen, in dem ein Politiker sein Handeln versteht. „Immer muß irgendein Glaube da sein“, schreibt Weber, wobei dieser Glaube nur in bestimmten Fällen religiöser Natur sein wird. Auch Ideen, ethische Leitbilder bzw. gesellschaftliche Ideale konstituieren bei Weber einen Glauben. Ein solcher Glaube muss aber immer mit im Spiel sein, denn „sonst lastet in der Tat – das ist völlig richtig – der Fluch kreatürlicher Nichtigkeit auch auf den äußerlich stärksten politischen Erfolgen.“[9] Politisch verantwortliches Handeln ist somit auf einen sinnstiftenden Rahmen angewiesen, der die Politik vor einer nihilistischen (Selbst-) Vernichtung bewahrt, um es in einer etwas existentialistischen Sprache zu formulieren.

Wie der Wissenschaftler, so muss sich auch der Politiker Rechenschaft geben „über den letzten Sinn seines eigenen Tuns“, wie es Weber in „Wissenschaft als Beruf“ formuliert.[10] Er trägt eine „Verantwortung vor der Zukunft“[11], von der er sich durch keinen partei- oder machtpolitischen Pragmatismus lösen kann. Folglich fühlt er sich eher einer inneren („protestantischen“) Haltung verpflichtet als äußeren Forderungen. Diese innere Haltung könnte man im Unterschied zur transzendenten Wahrheit als innerweltliche Wahrhaftigkeit bezeichnen. Eine solche Wahrhaftigkeit muss der Politiker anstreben, um dem eigenen Leben und Handeln innere Ausgeglichenheit und Zielgerichtetheit zu verleihen. Freilich weiß er, dass er auch diese Wahrhaftigkeit immer wieder auf dem Altar der Real- und Machtpolitik wird opfern müssen. Dies tut er aber nicht bereitwillig und endlos. Vielmehr ist er sich seines Verrates an dem letztgültigen Sinn und an der ihm übertragenen Verantwortung bewusst. Er weiß, dass er schuldig wird und versucht es dementsprechend zu vermeiden. Durch Kompromisse. Durch lautstarken Protest. Und gelegentlich durch innere Immigration.

In diesem Ansatz Webers wird ein unverhohlener Heroismus des Scheiterns offenbar. Denn wer auf solche Art Politik treibt, der muss in Webers Augen ein „Held“ [12] sein. Er ist einer, der sich „mit jener Festigkeit des Herzens, die auch dem Scheitern aller Hoffnungen gewachsen ist“, gewappnet hat.[13] Seine Wahrheitsliebe bzw. Wahrhaftigkeit besteht darin, dass er sich der eigenen Grenzen sehr wohl bewusst ist. Dies hält ihn aber nicht davor zurück, sich in das Mächte- und Ränkespiel des tagespolitischen Alltags zu werfen, um der Verantwortung vor der gesellschaftlichen Zukunft willen.

Weber lehnt einen wahrheitsabsoluten Dogmatismus und Rigorismus in der Politik ab. Seiner Meinung nach schaden sie dem politischen Gemeinwesen mehr, als dass sie nützen. Wohl auch deshalb wird er von Politikern auch heutzutage wohlmeinend zur Kenntnis genommen.[14] Gleichzeitig sieht Weber in einer nur auf das Nächstliegende schielenden Real- und Interessenspolitik ebenfalls große Gefahren. Zwischen diesen beiden extremen Polen sieht er einen gangbaren Weg: In der Wahrhaftigkeit, der Verantwortung vor der Zukunft und dem Eingeständnis der eigenen Begrenztheit liegen für Max Weber die Merkmale des wahrheitsliebenden Politikers.

Simone Weil und die Suche nach einer neuen Wahrheit

Wahrheitsliebe und Politik sind für Simone Weil in einem weit größeren Maß als für Max Weber ein eng miteinander verbundenes Paar. Auch schreibt sie die Wahrheit nicht in Richtung der individuellen Wahrhaftigkeit um, wie es der Soziologe vor ihr tut, sondern besteht auf einem nicht verinnerlichten, sondern vielmehr unmittelbaren transzendenten Überschuss in der Politik. Die Texte, in denen sich Simone Weil diese Position zueigen macht, entstehen in der zweiten Hälfte der 1930er bzw. in der ersten Hälfte der 1940er Jahre. Die aufreibenden zeitgeschichtlichen Umstände werden mit dafür verantwortlich sein, dass Simone Weil ihr Anliegen inhaltlich so ausformuliert, wie sie es tut und hierzu oftmals auch auf einen rhetorisch dichten bis dringlichen Ton zurückgreift.

Um einem Ergebnis der Lektüre von Weils Texten vorweg zu greifen, kann man sagen, dass das Anliegen der Französin sich mit Begriffen wie Gerechtigkeit, Freiheit, Gehorsam, Reinheit, Schönheit und Wahrheit umschreiben lässt. Diese Begriffe bzw. metaphorisch-semantischen Felder greifen bei ihr ineinander, bilden fast schon eine Symbiose. Simone Weil vermisst in der realgeschichtlichen Situation, in der sie sich befindet, alles, was sie mit diesen Begriffen positiv verbindet; bezogen auf die europäischen Diktaturen in der Sowjetunion und dem Deutschen Reich, aber auch bezogen auf das besetzte Frankreich. Einzig Großbritannien stellt für sie eine Ausnahme dar. Über dieses Land schreibt sie mit gewissem Pathos: „England war für Europa etwas unendlich Wertvolles, das einzige Land, in dem die Freiheit wie eine Pflanze wuchs (…). Die bloße Existenz eines solchen Landes hat die Welt wertvoller gemacht.“[15]

Welchen Anmarschweg geht Simone Weil, um zu ihrem „starken“ bzw. emphatischen Wahrheitsgedanken zu gelangen? Ganz offensichtlich ist, dass sie von der Wirkkraft der kollektiven politischen Ideologien – von links oder von rechts kommend – und deren realpolitischen Ausgestaltung ernüchtert ist. Schon früh, 1934, schreibt sie: „Der Mensch ist weder dazu geschaffen, das Spielzeug einer blinden Natur zu sein, noch dazu, das Spielzeug blinder Kollektive, die er mit Seinesgleichen bildet.“[16] Dabei schließt Weil nicht aus, dass Menschen sich gemeinschaftlich bzw. genossenschaftlich zusammenschließen, um eine bestimmte gemeinsame Ordnung herzustellen. Jedoch darf es nicht so weit gehen, dass der kollektive Zusammenschluss eine Eigendynamik gewinnt, die letztlich der Natur des Menschen – von deren positiver Existenz Simone Weil überzeugt ist – zu widersprechen droht. „Es geht folglich darum, innerhalb der bestehenden Zivilisation zwischen dem zu unterscheiden, was rechtens dem Menschen als Individuum gehört, und dem, was die Kollektivität gegen ihn zu stärken imstande ist. Jene Elemente müssen auf Kosten der letzteren entwickelt werden.“[17]

Als Ideal schwebt Simone Weil ein in freier Freundschaft verbundenes politisches Gemeinwesen vor. Darin werden keine kollektiven Interessen vertreten, sondern höchstens persönliche oder familiäre Anliegen. Sie schreibt von ihrer Idealvorstellung im Konjunktiv: „Tatsächlich befänden die Menschen sich in kollektiven Bindungen, aber ausschließlich in ihrer Eigenschaft als Menschen, nie würden die einen die anderen als Dinge behandeln.“[18] Dem ideologischen Massenwahn ihrer Zeit begegnet sie mit einer um jede kollektiven Interessen beraubten Politikkonzeption. Darin erkennt sie die letzte Chance, im Angesicht der desaströsen zeitgenössischen Politik und deren ideologischen Überbaus ein Mindestmaß an gesellschaftlichem Zusammenleben und Tugend zu retten.

Dieses Denken führt Simone Weil letztlich aber zu einem ganz und gar unpolitischen Begriff des Politischen. Denn Weil verachtet alle Tendenzen, die aus der Politik einen kollektiven Interessenswettbewerb machen. Ihre Verachtung macht sie unter anderem an den in den Weltkrieg führenden „Antagonismen der Nationen“ und deren „nationale Interessen“ fest, wie sie 1937 schreibt.[19] Die Fiktion kollektiver Interessen – sie schreibt, dass es gemeinsame Interessen gar nicht gäbe[20] – macht für sie den Wahn aus, welcher das Individuum tyrannisiert und das Kollektiv zu einer Unterdrückungsmaschine werden lässt.

Das ist letztlich der Gehalt ihres kurzen Pamphletes „Anmerkungen zur generellen Abschaffung der politischen Parteien“ aus dem Jahre 1943.[21] In der Schrift schreibt Weil gegen die „kollektiven Leidenschaften“ an, die sich in den totalitären Einheitsparteien der Nationalsozialisten bzw. Kommunisten (in der Sowjetunion) zusammenrotteten.[22] In ihren Augen sind diese Einheitsparteien nicht nur das Resultat eines schon bestehenden verbrecherischen Regimes. Sie verweist auch auf die Möglichkeit des umgekehrten Falles: „Somit ist der Totalitarismus die Erbsünde der Parteien auf dem europäischen Kontinent.“[23] Ihr Urteil ist vernichtend und aus der damaligen Situation heraus mehr als nachzuvollziehen: Parteien sind „im Keim und Streben totalitär“; sie betreiben „Götzendienst“; sie streben nach „totaler Macht“ und dienen damit der „Lüge“, die mit dem Totalitarismus ein Bündnis eingegangen ist.[24] Und bezogen auf den Begriff der Wahrheit kommt Weil zu dem Schluss: „Die Parteien sind Organismen, die öffentlich, offiziell so konstituiert sind, dass sie in den Seelen den Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit abtöten.“[25] Wahrheit und die real existierende (Partei-)Politik stehen sich also diametral gegenüber, ein Urteil, das aus der historischen Situation heraus gedeutet nicht in Zweifel gezogen werden kann.

Doch mit welcher Wahrheitsvorstellung vollführt Weil ihren kritischen Handstreich gegen das politische Handeln zu ihrer Zeit? Wahrheit und Gerechtigkeit – bei Weil oft in einem Atemzug genannt – sind „Kriterium des Guten“.[26] Das Gute ist wahr und gerecht bzw. Wahrheit und Gerechtigkeit sind gut, noch vor dem Gemeinwohl. Emphatisch ergänzt sie: „Es gibt nur eine Wahrheit. Es gibt nur eine Gerechtigkeit.“[27] Im Weiteren schreckt Simone Weil nicht davor zurück, Sätze zu formulieren, die selbst wieder unter Ideologieverdacht gestellt werden müssen, sollten sie, wie es Weils Intention ist, ohne Wenn und Aber auf die Ebene des politische Handelns angewandt werden: „Erkennt man an, dass es eine Wahrheit gibt, darf man nur denken, was wahr ist.“[28] Solche markanten Sätze erwecken den Eindruck, als ob die Weilsche Wahrheit vor totalitären Zügen nicht gefeit ist. Wenn Weil eine „ausschließliche Treue zum inneren Licht“ einfordert, dann sucht man als ihr Leser nach einem Kriterium, das vermeintliche vom authentischen Licht, den immanenten Wahrheitsanspruch von der transzendenten Wahrheitswirklichkeit zu unterscheiden. Weils Wahrheitsbegriff ist unbestimmt. Sie schreibt: „Doch wie der Wahrheit begehren, ohne etwas von ihr zu wissen? Darin liegt das Mysterium der Mysterien.“[29]

Die Metaphorik vom Mysterium bzw. vom Geheimnis leiht sie sich von der christlichen Glaubenslehre, in der an zentralen Stellen vom „mysterium fidei“, vom Geheimnis des Glaubens die Rede ist. Auch sonst tauchen die christlich-theologischen Begrifflichkeiten in Weils Schriften an verschiedenen Stellen auf, vor allem dort, wo sie von ihrem politischen Ideal der Schwäche – als Gegenbild zur zeitgenössischen Vergötzung der Macht – schreibt.[30] Dieses Ideal sieht sie in der Person Jesu Christi verwirklicht. Christus ist für sie die Vollkommenheit, Reinheit, Schönheit in Person[31], wobei Weil sich mit diesem Gedanken weniger als Beinahe-Christin entpuppt, als vielmehr als Verehrerin antiker Ideale, die selektiv weitere ideengeschichtlichen Splitter aufsammelt und in ihre Politikvorstellung einfügt.

Es bleibt unklar, welche Wahrheit es denn ist, die der Politiker nach Weil anstreben soll. Mit großen Begriffen wie Schönheit, Gerechtigkeit, Reinheit und Freiheit lässt sich kaum konkret politisch umgehen bzw. ein gesellschaftlicher Konsens zu einem konkreten Problem gefunden bzw. ein Entscheidungsprozeß in Gang gesetzt werden. So ist Weils Ideal auch nicht der handelnde Politiker, sondern schon viel eher der kompromisslose Mystiker bzw. Heilige. Denn „in ihnen ist die Wahrheit zum Leben geworden“[32] Weil kennt nur die eine Wahrheit, das eine Gute, das eine Gerechte. Den Gedanken einer „Hierarchie der Wahrheiten“, der einem nahelegt, dass Wahrheit in verschiedenen Stufen zu erringen und zu verwirklichen ist, sucht man bei ihr vergebens. Dieser Gedanke öffnet zwar den Weg zu einem positiv-konstruktiven Umgang mit der Frage der Wahrheit im konkreten politischen Handeln. Gleichzeitig impliziert er eben aber auch, dass Wahrheitsfragen nicht immer in der Konstellation Entweder-Oder daher kommen, sondern auch in der Konstellation Sowohl-als-auch.

Hannah Arendt und die Wahrheit der „vita activa“

Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Simone Weil in den 1930er und 1940er Jahren und schließlich Hannah Arendt in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren thematisieren auf je ihre Weise die Frage der Wahrhaftigkeit bzw. Wahrheit im politischen Handeln bzw. des politischen Handelns. Es wurde schon betont: Der Autor und die zwei Autorinnen können nur vor dem Hintergrund der Umstände verstanden werden, die real- und ideengeschichtlich ihrem Werk zugrunde liegen. Die ideologische Ernüchterung, die Simone Weil zu ihrem etwas fragwürdigen politisch-theologischen Mystizismus verleitete, führte bei der etwas später in den USA auftretenden Hannah Arendt zu einer ausgesprochen pluralismusfreundlichen politischen Philosophie. Auf die Frage „Was ist Politik?“ gibt Arendt in dem gleichnamigen Manuskript die Antwort: „Politik beruht auf der Tatsache der Pluralität der Menschen.“[33] Eine Aussage, die vor dem Zweiten Weltkrieg noch für große Zweifel in den ideologisch verhärteten Lagern gesorgt hätte, wird nach 1945 von vielen (aber längst nicht von allen) im Westen geteilt. Die Anerkennung des gesellschaftlichen Pluralismus und damit auch die Zustimmung zu demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren der Entscheidungsfindung setzen sich mehr und mehr durch, freilich ohne jemals von allen politischen Gruppierungen und gesellschaftlichen Milieus gleichermaßen anerkannt zu werden.

Auffallend ist an Arendt, dass die innere Verbundenheit zu Pluralismus und Demokratie nicht das Ende einer ausdrücklichen Wahrheitsliebe bedeuten muss. Dieser Vorwurf wird immer dann laut, wenn den demokratischen Verfahren der Mitbestimmung per se unterstellt wird, in ihnen käme ein ethisches, religiöses, moralisches oder auch philosophisches Gewissen nicht zum Zuge. Ganz im Gegenteil: In der Liebe zur Demokratie äußert sich auch die Liebe zur Wahrheit, insofern nämlich, dass Demokratie, also Mitbestimmung, zutiefst dem Wesen und der Wahrheit des Menschen entspricht.

Auf die Fährte dieses weitreichenden Gedankens setzt einen die Lektüre der Texte von Hannah Arendt. Arendt nimmt die eben formulierte skeptische Anfrage auf, wenn Sie schreibt: „Ist politisches Handeln wenigstens in unserer Zeit nicht gerade typisch für das Fehlen aller Prinzipien, so daß es, statt aus einem der vielen möglichen Ursprünge menschlichen Zusammenseins zu stammen und aus seiner Tiefe sich zu nähren, vielmehr opportunistisch an der Oberfläche von täglichem Geschehen haftet (…)?“[34] Also auch Arendt ist der Zwiespalt zwischen den (gelegentlich nur vorgeschobenen) Zwängen des politischen Alltags und den politischen Idealen, der Wahrheit, bewusst. Dennoch gibt sie den Gedanken der Wahrheit im politischen Handeln nicht auf. Sie findet fast schon pathetische Worte, wenn sie von der Aufgabe der Politik im Allgemeinen spricht, interessanterweise im Konjunktiv: „Es könnte sein, daß es die Aufgabe der Politik ist, eine Welt herzustellen, die für die Wahrheit so transparent ist wie die Schöpfung Gottes.“[35] Wenige Zeilen später schreibt sie über diesen Gedanken: „Dies ist wahrscheinlich Unsinn. Aber es wäre die einzig mögliche Demonstration und Rechtfertigung des Naturgesetz-Denkens.“[36]

Arendt weist hier auf einen Gedanken hin, der bei Max Weber nicht vorkommt und auch von Simone Weil nicht explizit ausformuliert wird: Wer von Wahrheitsliebe in der Politik spricht, der meint mit der Wahrheit einen Standpunkt oder ein Beziehungsgeflecht, das dem menschlichen Handeln entzogen und damit unverfügbar ist. Bei Weber taucht der Gedanke nicht auf, da für ihn Wahrheitsliebe bzw. Gesinnungsethik einem Akt der Entpolitisierung gleichkommen. Sie weisen inmitten der menschlichen Handlungssphären Bereiche des Unverfügbaren und damit auch Unpolitischen aus. Arendt, um die Erfahrung von Nationalsozialismus und Stalinismus reicher, hat zwar eine hohe Meinung vom menschlichen Handeln, der vita activa, weiß aber auch darum, dass Menschen individuell und kollektiv zur Lüge fähig sind. Wer mit der Lüge rechnet, der hofft letztlich darauf, dass sich Wahrheit durchsetzt. Diese Wahrheit lässt sich religiös-theologisch oder auch naturrechtlich-philosophisch ableiten, wobei Arendt mit der von ihr in Ehren gehaltenen griechischen Antike eher zur zweitgenannten Ableitung neigt.

Das Wissen um die Gefahr der Ideologisierung von Wahrheit ist Arendt aber eingeimpft. In der Schrift „Wahrheit und Politik“ aus dem Jahr 1967 kommt sie zu der Auffassung, dass Wahrheit und Politik schon immer miteinander im Konflikt liegen.[37] Diesen Konflikt erläutert sie anhand von griechischen (Platon) und US-amerikanischen (Madison) Quellen und folgert: „Die eigentlich politische Schärfe des Konflikts liegt in der Entwertung der Meinung, insofern nicht die Wahrheit, wohl aber die Meinung zu den unerläßlichen Voraussetzungen aller politischen Macht gehört.“ Und weiter: „Das aber heißt, dass innerhalb des Bereichs menschlicher Angelegenheiten jeder Anspruch auf absolute Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt, die Axt an die Wurzeln aller Politik und der Legitimität aller Staatsformen legt.“[38] Also auch Arendt ist von der entpolitisierenden Wirkung von absoluten Wahrheitsansprüchen überzeugt.

Die beiden oben angeführten Ableitungsmuster von Wahrheit – religiös-theologisch bzw. naturrechtlich-philosophisch – bezeichnet die Philosophin als Vernunftswahrheiten. Arendt kennt aber noch einen zweiten Wahrheitsbegriff. Dabei handelt es sich um den Begriff der Tatsachenwahrheit. Sie ist der Auffassung, das der Konflikt zwischen Wahrheit und Politik heute (d.h. 1967) nicht mehr von dem Ringen um die Vernunftswahrheiten, sondern von dem Ringen um die Tatsachenwahrheiten bestimmt ist: „Es hat vielleicht (…) kaum je eine Zeit gegeben, die Tatsachenwahrheiten, welche den Vorteilen oder Ambitionen einer der unzähligen Interessensgruppen entgegenstehen, mit solchem Eifer und so großer Wirksamkeit bekämpft werden.“[39] Hinzukommend stellt Arendt fest, dass je mehr man sich in der Vergangenheit gesellschaftlich von der Vorstellung einer Wahrheitsgewissheit verabschiedet hatte, desto stärker betonte man die Wahrhaftigkeit des Individuums[40], ein Urteil, das auf Max Weber und sein Theorem der „Entzauberung der Welt“ unmittelbar zutrifft.

Hannah Arendt scheint sich aber selbst nicht schlüssig darüber zu sein, was sie mit der Wahrheit in der Politik anfangen soll. Zum einen konstatiert sie, dass vom Standpunkt der Politik aus betrachtet die Wahrheit despotisch sei, da sie sich jeder Diskussion und jedem Austausch entziehe, diese aber gerade das Wesen der Politik ausmachten.[41] Liebe zur Wahrheit, so ist Arendt an dieser Stelle zu verstehen, verhindert politisches Denken und Handeln, die gerade dadurch gekennzeichnet seien, dass sie die Positionen und Handlungsoptionen der Anderen in die Ausformulierung der eigenen Positionen und Handlungsoptionen mit einbeziehen. „Wer nichts will als die Wahrheit sagen, steht außerhalb des politischen Kampfes, und er verwirkt diese Position und die eigene Glaubwürdigkeit, sobald er versucht, diesen Standpunkt zu benutzen, um in die Politik selbst einzugreifen.“[42] Den Schluss, den politische Philosophen heutzutage aus solch einem Urteil ziehen würden, ist eindeutig: Da die Frage nach der Wahrheit und der Transzendenz in der Politik nur diskursiven Schaden anrichten kann, ist die Relevanz dieser Frage für das politische Denken und Handeln zu leugnen.

Diesen Schluss zieht Hannah Arendt aber wiederum nicht. Es ist klar, dass sie eine Determinierung der politischen Optionen durch eine transzendente Ordnung bzw. Wahrheit ablehnt. Gleichzeitig hasst sie aber nichts mehr als politische Regime, die auf der Lüge und auf der Verdunklung der Tatsachen basieren. Ihr Gegenbild hierzu ist aber eben nicht die Rückkehr zur „reinen“ Wahrheit, sondern das Streben nach einer freiheitsliebenden Politik. Eine solche Politik, so Arendt, hat das Potential, inmitten des grauen Alltags für Wunder bzw. Offenbarungen eines außeralltäglichen Neuen zu sorgen. „Wenn der Sinn von Politik Freiheit ist, so heißt dies, daß wir in diesem Raum (…) in der Tat das Recht haben, Wunder zu erwarten. Nicht weil wir wundergläubig wären, sondern weil die Menschen, solange sie handeln können, das Unwahrscheinliche und Unerrechenbare zu leisten imstande sind und dauernd leisten, ob sie es wissen oder nicht.“[43] Politisches Handeln – die vita activa – sorgt für Wunder, für nichtvorhersehbare Zustände. Diese Wunder unterbrechen den natürlichen Ablauf und stiften Neues, das es der menschlichen Gemeinschaft ermöglicht, die Ketten der Unterdrückung abzuwerfen und die Freiheit zu erringen.

Um dies zu erläutern, führt Arendt ein Beispiel an: „Daß es in dieser Welt eine durchaus diesseitige Fähigkeit gibt, ‚Wunder’ zu vollbringen, und daß diese wunderwirkende Fähigkeit nicht anderes ist als das Handeln, dies hat Jesus von Nazareth nicht nur gewußt, sondern ausgesprochen (…).“[44] Jesus Christus („Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ Joh 14, 6) als ein Vorbild der vita activa? Arendts Beispiel macht ihre Ambivalenz nur zu deutlich: Wahrheitsliebe hat das Potential politische Kreativität zu unterdrücken. Wahrheitsliebe kann aber auch die Kraft verleihen, einen neuen Anfang zu initiieren, ein Wunder zu vollbringen, eine Schöpfung in Gang zu setzen.

Der wahrheitsliebende Politiker

Die Ausführungen von Max Weber, Simone Weil und Hannah Arendt allein reichen nicht aus, um den wahrheitsliebenden Politiker als eine eigene Spezies vollständig zu umreißen. Zu groß ist die Skepsis bei Weber und Arendt, zu groß die Gefahr der Ideologisierung, wie sie das Denken Weils offenbart. Doch die Schriften der Drei machen deutlich, dass die Frage nach der Wahrheitsliebe nicht achtlos zur Seite geschoben werden kann. Welchen Stellenwert hat die Frage nach der Wahrheit für das konkrete Handeln des politischen Personals? Und wie kann mit der Wahrheitsliebe verantwortungsvoll umgegangen werden – verantwortungsvoll in Bezug auf den politischen Auftrag für das Ganze eines Volkes und verantwortungsvoll in Bezug auf die persönliche Integrität als Politiker und Mensch.

Max Weber legt seinen Schwerpunkt auf den Aspekt der Verantwortung. Ein Politiker steht anders als ein Privatmann, ein Geistlicher oder ein Notar in einer besonderen Verantwortung für das Ganze einer Gesellschaft. Er ist beteiligt an Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen, die in einer pluralen Welt eine große Bandbreite an schlüssig begründeten Meinungen und Interessen hervorbringen. Zwei Extreme muss der Politiker dabei vermeiden: zum einen die Verabsolutierung der eigenen Meinung zu einer keine Kompromisse zulassenden Wahrheit und zum anderen eine unerbittliche Härte in der Durchsetzung der eigenen, kurzfristigen Partikularinteressen. Der Blick auf das weniger monolithisch, als vielmehr pluralistisch ausgestaltete Gemeinwohl – ein Begriff, den Weber selbst nicht benutzt – zwingt den Politiker zu Kompromissen. Die Verantwortung des politisch Handelnden weist über die Interessen eines Einzelnen oder einer bestimmten Gruppe hinaus. Verantwortung in der Politik führt zu einem Wissen oder eine Ahnung um das Mehr, das die Gesellschaft und die Welt als solches zusammenhält

Im Gegensatz zu Max Weber besteht Simone Weil auf einem expliziten transzendenten Überschuss im politischen Handeln. Dieser Überschuss legt einem, so Weils Hoffnung, bestimmte Handlungsoptionen nahe, die der Wahrheit entsprechen, kann bei Missbrauch aber auch zum Gegenteil dessen führen, was mit der Wahrheit intendiert war. Ein zentrales Kriterium für die Liebe zu dieser Wahrheit ist die Gerechtigkeit. Wer die Wahrheit tut, der handelt gerecht. Und wer nicht die Gerechtigkeit fördert, der liebt nicht die Wahrheit. Da Weil keinen spezifischen Wahrheitsbegriff definiert, muss sie letztlich auch offen lassen, was sie unter Gerechtigkeit versteht. Doch zwischen den Zeilen zeichnet sich in ihren Schriften ein Wesen der Gerechtigkeit schemenhaft ab. Gerechtigkeit ist nicht totalitär. Gerechtigkeit respektiert das Individuum und entlockt ihm seine besten Begabungen. Sie erfüllt sein privates und berufliches Leben. Gerechtigkeit macht nicht unbedingt reich, aber sie macht glücklich. Gerechtigkeit formt aus vielen Individuen und Familien eine Gesellschaft, in der jeder seiner eigenen Berufung im Ganzen der Menschengemeinschaft gehorsam sein kann, umso ein Abbild der Wahrheit zu formen.

Hannah Arendt fügt ein weiteres Kriterium für die politische Wahrheitsliebe hinzu: die Freiheit. Unterdrückung und Tyrannei wurzeln in der Lüge, wie sie auch wieder zur Lüge hin führen. Wahrheit hingegen bringt freie Menschen und freie Gesellschaften hervor, was nicht von ungefähr an den Ausspruch Jesu Christi aus dem Neuen Testament erinnert: „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8, 32). Was Arendts Freiheitsbegriff mit dem biblischen Freiheitsbegriff gemein hat, ist ihr Streben nach Weite. Es geht nicht um eine ökonomisch verengte Freiheit in der Auswahl zuvor festgelegter Alternativen – obwohl jede „normale“ politische Wahl nach diesem Modus abläuft. Freiheit ist deshalb auch mehr als die Teilnahme an einer regelmäßig stattfindenden freien Wahl. Arendts Freiheitsbegriff beinhaltet ein kreatives Moment. Freiheit ist dort, wo Neuschöpfungen und Wunder möglich sind, wo Bürgerinnen und Bürger als Gelegenheitspolitiker einen emergenten Sprung vollführen und so – mitunter auch ganz spontan – einen neuen Anfang stiften. Solche kontingente Freiheitsmomente offenbaren blitzlichtartig das Potential einer wahrheitsliebenden Politik, die von mutigen Frauen und Männern vorangetrieben wird.

Es war mein Bestreben zu zeigen, dass die Frage nach dem wahrheitsliebenden Politiker nicht tot zu kriegen ist. Nicht nur, weil die Wahrheit in Gestalt eines verbogenen Fundamentalismus durch die Tagespolitik geistert. Sondern vor allem – und meine drei ideengeschichtlichen Stationen stehen dafür gerade – weil Wahrheitsliebe die menschliche Sehnsucht nach einem Mehr als Pragmatik wachhält. Diese Sehnsucht nach dem objektiven Sinn kann den Bürgerinnen und Bürgern auch die Kraft und Unterscheidungsgabe verleihen, falschen Wahrheitsvorstellung zu widerstehen und Wahrheiten zu suchen und lieben zu lernen, die von dem innerweltlichen Machtgefüge unabhängig sind. Diesen Punkt greift auch Rowan Williams auf, wenn er schreibt: „To be concerned about truth is at least to recognize that there are things about humanity and the world that cannot be destroyed by oppression and injustice, which no power can dismantle.”[45] Wer politisches Handeln nicht despotisch unterdrücken, technokratisch herabkühlen oder diskursiv verwässern möchte, der kommt um ein gehöriges Quäntchen Wahrheitsliebe unter den Politikern nicht herum.

[1] Beispielsweise Greven, Michael Th. 2000: Kontingenz und Dezision. Beiträge zur Analyse der politischen Gesellschaft, Opladen: Leske & Budrich, S. 61; Rorty, Richard 1999: Religion As Conversation-stopper, in ders.: Philosophy and Social Hope, London: Penguin, S. 168-174; Stein, Tine 2009: Die Bergpredigt als das ganz Andere der – modernen – Politik, in: Zeitschrift für Neues Testament, Jg. 12 Nr. 24, S. 50.
[2] Vgl. Schmidt, Helmut 2011: Religion in der Verantwortung. Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung, Berlin: Propyläen, S. 23ff.
[3] „Es scheint aber, als sei Wahres ganz dasselbe wie Seiendes.“ So bei: Thomas v. Aquin 1986: Von der Wahrheit, Hamburg: Meiner, S. 3.
[4] Vgl. Weber, Max 1992: Politik als Beruf, Stuttgart: Reclam, S. 70.
[5] Ebd.
[6] Margalit, Avishai 2010: On Compromise and Rotten Compromise, Princeton: PUP, S. 154.
[7] Weber, Max 1992: Politik als Beruf, Stuttgart: Reclam, S. 69.
[8] Ebd., S. 64f.
[9] Beide Zitate ebd., S. 65.
[10] Weber, Max 1996: Wissenschaft als Beruf, 2. Auflage, Berlin: Duncker & Humblot, S. 32.
[11] Weber, Max 1992: Politik als Beruf, Stuttgart: Reclam, S. 66.
[12] Ebd., S. 83.
[13] Ebd.
[14] Vgl. FN 2.
[15] Weil, Simone 2011: Krieg und Gewalt. Essays und Aufzeichnungen, Zürich: Diaphanes, S. 81f.
[16] in: Simone Weil 1975/1987: Unterdrückung und Freiheit. Politische Schriften, München: Rogner & Bernhard, S. 212.
[17] Ebd., S. 239.
[18] Ebd., S. 215.
[19] Weil, Simone 2011: Krieg und Gewalt. Essays und Aufzeichnungen, Zürich: Diaphanes, S. 41f.
[20] Ebd., S. 42.
[21] Weil, Simone 2009: Anmerkungen zur generellen Abschaffung der politischen Parteien, Zürich: Diaphanes.
[22] Ebd., S. 12.
[23] Ebd., S. 7.
[24] Ebd., S. 14ff.
[25] Ebd., S. 18.
[26] Ebd., S. 8.
[27] Ebd., S. 9.
[28] Ebd., S. 20.
[29] Ebd. S. 23.
[30] Weil, Simone 2011: Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber, Zürich: Diaphanes, S. 201f.
[31] Ebd. S. 248.
[32] Ebd. S. 230.
[33] Arendt, Hannah 2007: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hrsg. von Ursula Ludz, 3. Auflage, München & Zürich: Piper, S. 9.
[34] Ebd., S. 129.
[35] Ebd. S. 12.
[36] Ebd.
[37] Arendt, Hannah 2006: Wahrheit und Politik, Berlin: Wagenbach, S. 15.
[38] Ebd., S. 16.
[39] Ebd., S. 20.
[40] Arendt, Hannah 2006: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper, 4. Auflage, S. 353.
[41] Vgl. Arendt, Hannah 2006: Wahrheit und Politik, Berlin: Wagenbach, S. 27.
[42] Ebd., S. 55.
[43] Arendt, Hannah 2007: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, hrsg. von Ursula Ludz, 3. Auflage, München & Zürich: Piper, S. 35.
[44] Arendt, Hannah 2006: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper, 4. Auflage, S. 316.
[45] Williams, Rowan 2012: Faith in the Public Square, London: Bloomsbury, S. 292.

(c) Burkhard Conrad

Dr. Burkhard Conrad OPL ist Politikwissenschaftler und arbeitet beim Erzbistum Hamburg. Er schreibt einen ideengeschichtlichen Blog unter www.rotsinn.wordpress.com.

Print Friendly, PDF & Email

0 Kommentare

Beitragsthemen: Politik | Religion

Auch interessant:

„Das Problem der KI ist der Mensch“. Sozialethische Perspektiven auf Künstliche Intelligenz

Die Sorge vor einer übermächtigen künstlichen Intelligenz ist spätestens seit ChatGPT wieder virulent. Über den Dreischritt der...

Demokratisierung der Demokratie. Kein Luxus-, sondern ein Lebensproblem

Angesichts der katastrophalen Entwicklungen des Erdklimas und der Biodiversität und gerade angesichts der Erosion liberaler...

Between Ostentation and Concealment: The Law on the Veil

France passed a law on 15 March 2004 prohibiting students from wearing „conspicuous” religious symbols or clothing („signes...

Matthäuspassion. Über den rätselhaften Versuch Hans Blumenbergs, Gott für die Moderne zu retten.

Verzeihen Sie mir, wenn ich mit einer persönlichen Anekdote beginne. Vor einigen Jahren habe ich zufällig in Bologna ein Buch in...