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InDebate: „Sehnsuchtsort Europa“ – am Ende der Großen Erzählungen? Laudatio auf Albrecht Koschorke

Veröffentlicht am 13. September 2016

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Birgit Recki

Sehnsuchtsort Europa. Wenn ich nach einem gelungenen Beispiel für eine der schönen Tugenden aus dem vielstimmigen und dabei doch überwiegend einvernehmlichen europäischen Tugend-Kanon suche: für unprätentiöses Auftreten, für die Maxime Mehr sein als scheinen, für Understatement, oder altmodisch gesagt: für Bescheidenheit — dann kann ich seit kurzem auf das Buch unseres diesjährigen Buchpreisträgers Albrecht Koschorke verweisen. Dem Titel (Hegel und wir. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2013, Berlin 2015) ist beim besten Willen nicht zu entnehmen, welche großen (und nicht nur für die Frage nach dem Sehnsuchtsort Europa einschlägigen) Fragen darin ausgetragen werden. Es geht tatsächlich um Europa als ein von Sinn getragenes Ganzes, es geht um den prekären Status eines europäischen Selbstverständnisses, und dabei vor allem um das Potential von Theorien, durch grundlegende konzeptuelle Entwürfe ein solches Selbstverständnis, das gemeinsame Verständnis einer europäischen Identität, zu vermitteln. Albrecht Koschorke geht von der Einsicht aus, dass ein Bewusstsein von politischer und kultureller Identität nicht schon aus der direkten gesellschaftlichen Praxis, ja noch nicht einmal aus den programmatischen und ideologischen Erklärungen der tagespolitischen Auseinandersetzung entspringt, sondern auf große historische, gesellschaftstheoretische, philosophische Systementwürfe angewiesen ist, die mit der begrifflichen Welterklärung immer zugleich Sinn stiften, Sinn als das Element der Reflexion auf das Ganze, als dessen Teil sich der Erkennende begreifen können muss, um sich in der Welt orientieren und in konstruktiver Bereitschaft zur Partizipation seinen Platz in ihr ausfüllen zu können.

Als exemplarischen Fall für diese Leistung der Theorie präsentiert Koschorke die Geschichtsphilosophie, in deren wiederholten Anläufen Georg Wilhelm Friedrich Hegel den Gang des Weltgeistes durch die Zeiten und Räume bis zu seiner glücklichen Ankunft im Sehnsuchtsort Preußen konstruiert und in dieser Konstruktion die Situation Preußens im Europa nach den Napoleonischen Kriegen durch einen großen gleichermaßen spekulativen wie normativen Systementwurf aufwertet. Auf diese Leistung, dem sinnbedürftigen Zeitgenossen in einer Krisensituation den Gang des Fortschritts und sein Ziel, die integrale Einheit des Ganzen (mit praktischem Effekt für die Akzeptanz der fälligen Staats- und Verwaltungsreform) als notwendig und zugleich als so erstrebenswert vorzuführen, dass dieser sich damit identifizieren konnte, ihn so — in Koschorkes Formulierung — mit einem Inklusionsangebot und einer Exklusionsdrohung auf die damit in Kauf zu nehmenden Veränderungen einzuschwören, bezieht der Autor die Situation des heutigen Europas: Woran liegt es, so lautet die Frage, dass wir, die wir ihn in den Verwerfungen der europäischen Union doch so dringend nötig hätten, auf einen ähnlich hilfreichen großen Systementwurf der auch über die militärische Befriedung und die wirtschaftliche Kooperation hinausgehenden europäischen Einheit bisher vergebens warten?

Albrecht Koschorke spricht dabei ganz selbstverständlich vom Europa-Narrativ und von den Großen Erzählungen — Ausdrücke, die sich seit Ende der 70er Jahre in intellektuellen Subkulturen zunehmender Geläufigkeit erfreut — und die dabei doch einer historisch-kritischen Vergewisserung bedürfen. Sie gehen zurück auf Jean­-François Lyotard, der in seinem Essay über Das postmoderne Wissen (La condition postmoderne) 1979 das Scheitern großer (meta-)theoretischer Rahmenentwürfe, der grands récits, als die Signatur des Zeitalters behauptet. Der despektierlich-ironische Terminus (immerhin ist es keine Selbstverständlichkeit, eine Theorie umstandslos als Form von erzählender Literatur zu behandeln) stellt die systematischen und spekulativen Beiträge zur Welterklärung unter den ideologiekritischen Verdacht, bloße Mythologie zu sein und hat in der gewissen Unschärfe, die mit seiner Erfolgsgeschichte verstärkt wurde, mittlerweile mehreren Generationen kritischer Köpfe den Vorwand dafür geliefert, sich mit solchen Konstruktionen nicht mehr im Einzelnen argumentativ auseinanderzusetzen. Die These: die Große Erzählung wäre postmodern nicht mehr möglich, scheint ebenso für den systematisch aufs Ganze gehenden Theorieentwurf zu gelten, wie er für den großen archaischen Ursprungs-Mythos gilt.

In der unaufgeregten Richtigstellung der Relationen, in der durchgeführten Erinnerung daran, dass die Rede vom Narrativ wirklich etwas mit den technischen Mitteln des Erzählens zu tun haben sollte, liegt das erste und große Verdienst des Buches Hegel und wir. Der Literaturwissenschaftler Koschorke nimmt die Termini Narrativ und Erzählung beim Wort und ernst. Wenn er Hegels Geschichtsphilosophie als Große Erzählung untersucht, ist das nicht metaphorisch gesprochen, sondern wörtlich gemeint: Der Philosoph gerät als Erzähler in den Blick, dessen erzähltechnische Mittel der genaueren Untersuchung wert sind. Das fängt an mit dem Problem des Anfangs und der durch den Anfang zwangsläufigen Abspaltung eines Vorher von allem thematisierten Geschehen, eines Außen von der Innenperspektive der begrifflich artikulierten Weltsicht. Wie ist mit diesem Außen zu verfahren, da es sich bei der Konstruktion doch um das Ganze handeln soll? Wie der Anfang im Gang der Reflexion am Ende eingeholt werden muss, damit die Konstruktion des Ganzen die Chance hat, überzeugend zu sein, das ist ebenso ein Problem der dialektischen Konstruktion des Geschichtsphilosophen wie es das Problem des literarischen Erzählers ist. Und Koschorke kann durch die ebenso präzise wie prägnante Untersuchung der dabei eingesetzten technischen Mittel von der Besetzung der Grenze der Diegese durch rekursive Reflexion über die Übernahme mythischer Elemente und die Selektion des Thematisierten bis in die Wahl von Analogien und Metaphern und in die grammatischen Strukturen geltend machen, dass der Geschichtsphilosoph nicht nur ähnliche Probleme hat wie der Erzähler, sondern dass er als Erzähler agiert. Eine ganz und gar überzeugende neue Sicht auf den Philosophen Hegel, mit welcher der Hegelforschung ein frischer Impuls gegeben ist — und insofern Hegel auch in dieser Dimension als exemplarisch genommen werden darf, ein großer Beitrag zum Verhältnis von Philosophie und Literatur. Das ist Wasser auf die Mühlen derer, zu denen ich mich selber zähle, die Wert darauf legen, dass Philosophie und Literatur an denselben Problemen arbeiten. Um dies zu vertreten, kann man jederzeit auf die Inhalte, die Probleme der großen Menschheitsfragen verweisen, die Philosophie und Literatur gemeinsam sind; man kann sich aber nunmehr auch — mit Koschorke — auf die gemeinsamen sprachlichen und literarischen Techniken ihrer Darstellung stützen.

Was mir derart besondere Würdigung zu verdienen scheint und wobei ich gern noch eine ganze Zeitlang verweilen würde, führt allerdings vom Europa-Thema ab, deshalb kehre ich unter der Staatsraison des Zeit-Diktats schleunigst zur Preisfrage des FIPh Hannover zurück. Die Rede vom Sehnsuchtsort Europa ist (mindestens) ambivalent, wenn nicht schillernd, und sie ist prekär. Die Griechenland-Krise, die uns bis in den Spätsommer 2015 so stark beschäftigt hat, dass absehbar auf uns zukommende viel größere Probleme unseren Politikern auf der operativen Ebene offenbar erst bewusst wurden, als sie buchstäblich bereits mit Händen zu greifen waren; die Migrationswelle, der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, die Vizegrad-Staaten, die stark dazu tendieren, ihren eigenen Laden aufzumachen oder doch zumindest gern damit drohen, dies zu tun; der aktuelle Gipfel der südeuropäischen Staaten; die schier unendliche und inzwischen auch intrigante Flexibilität, mit der unsere Regierung in diplomatischen Balanceakten einem vorderasiatischen Despoten entgegenkommt und dabei europäische Werte zur Disposition stellt, um die Lebensqualität Europas auf Dauer zu sichern — das sind ebensoviele Facetten dieser prekären Situation. In guter Aristotelischer Achtung vor dem empirisch Konkreten muss man also fragen: Inwiefern ist Europa für wen Sehnsuchtsort, und welche Sehnsüchte sind es im Einzelnen, die da zum Tragen kommen?

Mit dem Perspektivismus und der jederzeit drohenden Unvereinbarkeit der Perspektiven setzt sich auch der Autor des Buches Hegel und wir auseinander. So wünschenswert die Dissoziation der europäischen Perspektiven ein integratives Narrativ nach der Art der Hegelschen Geschichtsphilosophie erscheinen lässt, so unwahrscheinlich findet es Albrecht Koschorke, dass wir eine entsprechende Große Erzählung der Europäischen Union wirklich bekommen werden. Bei allen strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen dem Preußen nach den Napoleonischen Feldzügen und dem heutigen Europa nach 1945 sind doch die Unterschiede in den Ausgangsbedingungen auffällig. Abgesehen davon, dass Hegels Geschichtsphilosophie des Fortschritts es mit der Aufgabe einer retrospektiven Deutung zu tun hatte, während die Arbeitsaufgabe für den zeitgenössischen Geschichtsphilosophen sich auf die aktuelle Lage bezöge, setzen sich auch die Komplikationen darin fort, dass Europa sowohl historisch keinen eindeutigen Anfang wie geographisch keine eindeutigen Grenzen hat; und dass durch das mittlerweile erworbene historische Problembewusstsein vom Umgang mit Alterität, von den Fallen des Eurozentrismus, des Rassismus, des christlichen Dominanzanspruchs die narrativen Modelle der Abgrenzung und Selbstauszeichnung diskreditiert sind, macht die Sache nicht einfacher. Vor dem Prospekt dieser und weiterer mit großer Differenziertheit und Umsicht entwickelten Befunde kommt Koschorke zu der Konsequenz, dass ein starkes Europa-Narrativ nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen sei. Möglich und wünschenswert findet er dagegen Formen episodischen Erzählens, „verstanden als Herstellung eines Gewebes von Einzelhandlungen“ (223), eines Gewebes oder rhizomatischen Geflechts, das der Vielfalt der multiple modernities, der mit gleichem Geltungsanspruch auftretenden nationalen und kulturellen Perspektiven Europas entspräche. In den Vorstellungen derer, für die Europa der Sehnsuchtsort ist, dürfte dies eine seiner Stärken sein — und es muss die Stärke Europas werden, dass wir damit leben können.

Um Ihnen, meine Damen und Herren, und vor allem Ihnen, lieber Herr Kollege Koschorke, einen Eindruck davon zu vermitteln, dass das Buch zu denken gibt und einen starken Beitrag zu einer Auseinandersetzung leistet, mit der wir jederzeit beginnen können, erinnere ich zum Schluss meiner Laudatio daran, dass jedes gute Buch auch subversiv gelesen werden kann. Ebenso wie man sich Hegels wiederholte Ansätze zu seiner integralen Geschichtsphilosophie des Fortschritts nicht als die Erledigung einer Auftragsarbeit vorstellen darf, wäre es umgekehrt auch unzulässig, per geschichtsphilosophischer Deduktion auszuschließen, dass jemals wieder ein Theoretiker zu einer Großen Erzählung zu Europa ansetzen könnte. Will man nicht ebenden mimetischen Fehlschluss (als wären Theorien Widerspiegelungen bzw. Abbildungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit) begehen, den Koschorke in seinem Buch zu Recht kritisiert, will man vielmehr den imaginären, den idealen, den normativen Status solcher Theorien in Rechnung stellen, dann muss man aus den eindrucksvollen Befunden des Buches zur Situation Europas zurückhaltende Konsequenzen ziehen. Gerade die Vielfalt der Perspektiven schließt nichts aus. Kontrafaktische Imaginationen und normative Ideen sind nichts, was einem als Pensum abverlangt, aber auch umgekehrt nichts, was einem untersagt werden könnte. Deshalb können wir genau genommen nicht wissen, ob in der politischen Verfassung der multiple modernities, die Koschorke beschreibt, definitiv nur noch stationär bedeutsame „kleine Erzählungen“ aufkommen können. Wer will denn präjudizieren, was einfallsreiche Denker, womöglich inspiriert durch Dichter, Filmemacher, Rapper — womöglich aus den Reihen derer, die gerade jetzt auf dem Weg sind zum Sehnsuchtsort Europa, aus der Faszination von einem Kontinent, auf dem seit 70 Jahren Frieden ist, ebenso wie vom Material der sich jagenden Krisen noch so alles machen werden? Ob nicht doch noch eine Große Erzählung aufkommt, das muss man abwarten, — zumal man im Rückblick auf das vermeintlich abgeschlossene Zeitalter der Großen Erzählungen konzedieren muss, dass es nicht selten die Not war, die erfinderisch machte. Der Schlaf der Vernunft gebiert die Monster, hatte Goya 1799 sein berühmtes Capricho 43 genannt. Wieso sollte nicht eine zu äußerster Wachsamkeit aufgereizte Vernunft auch heute noch den guten Geist der Erzählung gebären? Une littirature mineure oder große Erzählungen — beides ist möglich. Insbesondere darf man wohl nicht ausschließen, dass sich kreative Köpfe dazu anregen lassen, das was in Hegel und wir als Analyse geleistet ist, in eine Poetik auch künftiger Narrative zu transformieren.

Wie man sieht: über die Thesen dieses Buches kommt man unverzüglich ins Gespräch. Das liegt an seinen großen Qualitäten. Ich wünsche dem Buch viele Leser und beglückwünsche den Preisträger des Buchpreises 2016 von Herzen.

(c) Birgit Recki

Prof. Dr. Birgit Recki ist  Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg.

Die Verleihung des Philosophischen Buchpreises 2016 an Prof. Dr. Albrecht Koschorke (Konstanz) fand am 9. September 2016 in der Dombibliothek Hildesheim statt.

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Beitragsthemen: Europa | Geschichte

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