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Longread: Der befreite Prometheus von Chile. Akzelerationismus und Cybersyn

Veröffentlicht am 31. März 2022

Michael Meyer

„Unsere Zuschauer müssen nicht nur hören, wie man den gefesselten Prometheus befreit, sondern sich auch in der Lust schulen ihn zu befreien.“

Bertold Brecht (1967: 774)

Stuck in a Hyperloop

Das auf Betreiben von Tesla– und SpaceX-Gründer Elon Musk entwickelte Transportsystem Hyperloop erhebt den Anspruch, vollständig klimaneutral sein zu wollen und „Ultra-Hochgeschwindigkeitsverkehr“ von Stadtzentrum zu Stadtzentrum zu ermöglichen (vgl. TUM Hyperloop o. D.). Die Passagiere sollen dabei in einer von Elektromagneten beschleunigten Kapsel transportiert werden, welche sich in einer Vakuumröhre bewegt, um Luftwiderstand zu vermeiden. Die Zielgeschwindigkeit der Hyperloop-Kapseln soll bei 1.000 Kilometern pro Stunde liegen, in der Realität erreichen unbemannte Kapseln auf den Teststrecken derzeit lediglich Geschwindigkeiten von bis zu 467 km/h, was unwesentlich mehr ist, als ähnlich schnelle Magnetschwebebahntechnologien, welche sich beispielsweise in Japan bereits in der Konstruktion befinden und Geschwindigkeiten von um die 420 km/h erreichen sollen. Im Gegensatz zu diesen bieten Hyperloop-Kapseln aber nur Raum für eine vergleichsweise kleine Anzahl von 28 Passagieren. Dadurch kommen sie auf eine Kapazität von gerade einmal 336 Passagieren pro Stunde pro Richtung, verglichen mit den 5.400-10.000, die eine reguläre Bahn transportieren kann (vgl. Von Eichhorn 2021). Weder ausgereift, noch unmittelbar besser als andere, bereits existierende Systeme, bleibt von dieser scheinbaren Verkehrsrevolution in erster Linie eins: sehr viel heiße Luft.

Kaum eine Technologie versinnbildlicht, schon dem Namen nach, die Diagnose eines „rasenden Stillstands“ so sehr, wie Hyperloop es tut. „Rasender Stillstand“, so nennt Hartmut Rosa den Befund, „dass nichts bleibt, wie es ist, ohne dass sich etwas Wesentliches verändert.“ (Rosa 2016: 436) Er beschreibt die Gefahr einer asymmetrischen sozialen Beschleunigung, bei der das Lebenstempo der Menschen schneller an Geschwindigkeit zunimmt, als es zugleich durch die Verkürzung von Arbeitsabläufen infolge der Beschleunigung technischer Prozesse entschleunigt wird (vgl. ebd. 463). Diese Form der Beschleunigung wird sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene immer weniger als eine gerichtete Bewegung und stattdessen als eine „richtungslose Dynamisierung“ wahrgenommen, sodass sich trotz immer schneller aufeinanderfolgender Ereignisse zugleich der Eindruck einer Gesellschaft im Stillstand verfestigt. Infolgedessen werde in der Spätmoderne, so Rosa, letztlich die Wahrnehmung einer „Wiederkehr des Immergleichen“ oder gar die Überzeugung, am „Ende der Geschichte“ und damit am Ende einer politisch zu gestaltenden Gesellschaft angelangt zu sein, dominant (vgl. ebd. 436f.).

Vom Ende der Geschichte

Diese Vorstellung ist untrennbar mit Francis Fukuyama verbunden. Als er die Beobachtung machte, dass sich mit der Annäherung an die Jahrtausendwende hin zum 21. Jahrhundert die liberale Demokratie gegenüber der autoritären Rechten und dem Kommunismus durchzusetzen schien (vgl. Fukuyama 1992: 42), handelte es sich noch um eine ernüchternde, aber letztlich optimistische Prognose. Ihr zufolge sollten sich die mit dem Liberalismus verbundenen Freiheiten und die Demokratie in Form einer universellen Geschichte aller menschlichen Gesellschaften nach und nach überall auf der Welt durchsetzen. Die Zeit, in der vernünftige Menschen noch große, strahlende Visionen von einer sozialistischen Zukunft hegten, so Fukuyama, sei lange vorbei (vgl. ebd. 46-48). Eine Generation nach dem Eintritt in dieses Zeitalter der Alternativlosigkeit wird selbst die völlige Abwesenheit politischer Alternativen, wie Mark Fisher schreibt, von den meisten Menschen nicht einmal mehr wahrgenommen. Auf der Ebene des kulturellen Unterbewusstseins habe Fukuyama mit seiner These vom Kapitalismus als Ende der Geschichte letztlich recht behalten: nicht nur werde der Kapitalismus als einzig realistische Wirtschafts- und Gesellschaftsform betrachtet, vielmehr scheint es nicht einmal mehr möglich zu sein, eine Alternative zum Bestehenden auch nur zu denken. Diesen kulturellen Zustand bezeichnet Fisher als „kapitalistischen Realismus“ (vgl. Fisher 2009: 2, 6-9). In diesem kulturellen Erstarrungszustand, in dem zugleich scheinbar „alles immer schneller“ wird, ließen Rufe nach Entschleunigung nicht lange auf sich warten. Wie Rosa vermutet, könnte die damit verbundene Haltung zur dominanten Gegenbewegung unseres Jahrhunderts werden (vgl. Rosa 2016: 464f.). Sollte diese Diagnose aber tatsächlich Anlass dazu sein, die Beschleunigung aufhalten zu wollen?

Politik mit angezogener Handbremse

Wie Rosa bereits anmerkt, drücken sich in Entschleunigungsforderungen nicht selten antimodernistische Ressentiments aus (vgl. Rosa 2016: 464). Forderungen nach Entschleunigung können deshalb auch als Ausdruck dessen verstanden werden, was Zygmunt Bauman mit dem Begriff der „Retrotopie“ beschreibt: Der Wunsch nach einem Zurück in einen romantisierten, vermeintlich harmonischeren, früheren Zustand – als noch nicht scheinbar alles so schnell, so komplex, so unnahbar war. Solche Retrotopien müssen als Folge des Zeitalters der Alternativlosigkeit verstanden werden: Die Geschichte sei, so Bauman, nicht schlicht an ihrem Ende angekommen, vielmehr habe sie die Richtung gewechselt, der Fortschrittsenthusiasmus wurde abgelöst von einer „Nostalgie-Epidemie“. In einer doppelten Negation sei die Utopie im Mantra der Alternativlosigkeit und des end of history zuerst verschwunden und daraufhin in entstellter Form zurückgekehrt – was zuvor die Vision einer noch nicht existierenden Zukunft war, ist nun die Vision einer nicht mehr existierenden Vergangenheit. Der ‚Sieg‘ von Liberalismus und Demokratie, wie ihn Fukuyama beschreibt, stellte sich für nicht wenige als Pyrrhussieg heraus. Die neugewonnene Freiheit von staatlichen Restriktionen wurde vielfach auf Kosten sozialer Sicherheit erkauft, die der Staat zuvor garantierte. Hoffnungen nach einem besseren Leben seien angesichts der Erosion sozialstaatlicher Institutionen folglich selbst immer mehr zurückgestellt worden, schlussendlich trat eine Individualisierung von Glück und Fortschritt ein, jeder ist nun für sein besseres Leben selbst verantwortlich. Die mit dieser Eigenverantwortlichkeit verbundenen Unsicherheiten und Ängste vor sozialem Abstieg führten Bauman zufolge dann zu einem allgemeinen Pessimismus in Bezug auf die Zukunft. An ihrer Stelle wurde immer mehr die Vergangenheit zur Projektionsfläche für Hoffnungen auf ein unmögliches Zurück zu ‚besseren Zeiten‘ (vgl. Bauman 2017: 10-18, 21f.).

Diese Tendenz wird häufig und durchaus zurecht mit einem Wiederaufflammen reaktionärer Politik und dem Wiedererstarken der radikalen Rechten verbunden. Vergleichbare Entwicklungen lassen sich allerdings auch in einer Gegenreaktion gegen die Beschleunigung, die mit dem neoliberalen Kapitalismus identifiziert wird, im progressiven bis linken Lager beobachten. Nick Srnicek und Alex Williams beschreiben dieses Phänomen mit dem Begriff der folk politics, die sie in politischen Bewegungen der jüngeren Vergangenheit, wie beispielsweise der Occupy-Bewegung, beobachten. Die Paradigmen der folk politics beinhalten ein Denken in kleinen Maßstäben und damit verbunden lokale Lösungen, eine Präferenz für spontane, direkte Aktionen gegenüber institutioneller Politik und eine Bevorzugung dessen, was als ‚authentisch‘ und ‚natürlich‘ gesehen wird; eine Politik, die sofortige Ergebnisse über langfristige Veränderungen stellt, zumeist individuelle Lösungen propagiert und einer besseren Vergangenheit des Keynesianismus nachtrauert. In all dem drückt sich eine grundsätzliche Tendenz gegen Abstraktion aus, hin zu Dingen, die unmittelbar und greifbar sind, die das Gefühl vermitteln, etwas erreicht zu haben. Einerseits handelt es sich bei folk politics um eine Reaktion auf die wahrgenommene Abstraktion und menschliche Kälte des Kapitalismus, um einen Versuch, Politik wieder näher an den Menschen heranzuführen: In der räumlichen Dimension durch ihre Lokalität und in der temporalen Dimension durch sofort sichtbare Ergebnisse. Auf der konzeptuellen Ebene wird der Fokus auf individuelle und horizontale Ansätze anstelle von vertikalen, hierarchischen Formen gelegt. Andererseits kongruieren folk politics selbst oft mit der neoliberalen Logik der individuellen Verantwortlichkeit, insofern es sich bei ihrer Kritik häufig um eine ethische anstelle einer politischen Kritik handelt, wie unter anderem bei der Fokussierung auf ethische Konsumentscheidungen (vgl. Srnicek/Williams 2016: 9-12).

Gotta go fast!

Akzelerationistische Politik hingegen stellt sich in Abgrenzung zu diesen Strömungen klar auf die Seite der Beschleunigung. Weder weitere richtungslose Dynamisierung, noch eine Entschleunigung wäre aus ihrer Sicht die Antwort auf die zuvor umrissene Problemlage. Stattdessen fordert sie eine technosoziale Beschleunigung mit gezielter politischer Ausrichtung, die den systemischen Rahmen, der dieses Dilemma konstituiert, durchbricht. Diese Position wurde in jüngerer Zeit vor allem durch das 2013 veröffentlichte „akzelerationistische Manifest“, #Accelerate: Manifesto for an Accelerationist Politics (2019), von Srnicek und Williams popularisiert. Wie sie dort argumentieren, müssen technischer Fortschritt und die gesamte materielle und technologische Basis der gegenwärtigen Gesellschaft, bei denen es sich schließlich um Produkte des Kapitalismus handelt, gerade nicht als Teil des Problems verstanden werden, sondern als Teil der Lösung. Progressive Politik kann nicht die Forderung nach der Rückkehr in einen vor-neoliberalen, vor-kapitalistischen oder gar vor-modernen Zustand bedeuten, vielmehr bleibt der neoliberale Kapitalismus der Gegenwart zunehmend hinter seinen Erwartungen zurück und entwickelt sich mehr und mehr zur Blockade desjenigen technischen und gesellschaftlichen Fortschritts, den er einst selbst möglich gemacht hat. Die Antwort kann aus einer akzelerationistischen Perspektive nur eine post-kapitalistische sein. Durch eine zielgerichtete Beschleunigung von Prozessen, die der Kapitalismus initiierte, soll dieser nicht nur eingeholt werden, um mit ihm Schritt halten zu können. Vielmehr gilt es, ihn von links zu überholen.

Sprenger der Ketten

Der Mythos des Feuerbringers Prometheus erzählt eine Geschichte über die zwiespältige Rolle von Wissenschaft und Technologie zwischen Tyrannei und Subversion. Der Sage nach stahl der Titan Prometheus Fähigkeiten von den Göttern des Olymp, um sie anschließend den Menschen zu geben: Die Fähigkeit des Hephaistos, Waffen und Werkzeuge zu schmieden, die Fähigkeit der Athene, den eigenen Verstand zu gebrauchen und zuletzt Zeus’ Sinn für Recht und Ordnung. Daraufhin strafte Zeus zunächst die Menschheit mit dem Alter und verbarg die vormals frei zugänglichen Früchte der Erde tief unter ihrer Oberfläche, sodass die Menschen von nun an arbeiten mussten. Als Prometheus sich schließlich erneut gegen die Götter stellte und den Menschen das himmlische Feuer brachte, ließ Zeus ihn von Hephaistos und seinen Knechten in Ketten legen und ewige Qualen erleiden. Doch Prometheus weigerte sich letztendlich allen Qualen zum Trotz, sich wieder in Zeus’ Dienst zu stellen, als dieser sein Wissen schließlich benötigte, um sich vor dem Verlust seiner Macht zu schützen (vgl. Tetzner/Wittmeyer 2015: 57-59). Wenn in einem politischen Kontext von Prometheus gesprochen wird, repräsentiert der Titan ein rebellisches Element gegen die tyrannische Herrschaft, vertreten durch den Göttervater Zeus. Wenig verwunderlich, gilt es lange schon als emanzipatorisches Projekt, Prometheus aus seinen Ketten zu befreien; soll heißen, das emanzipatorische Potenzial von Technologie und Wissenschaft freizusetzen. Nick Srnicek und Alex Williams sprechen im akzelerationistischen Manifest von der Notwendigkeit einer „prometheischen Politik“. Sie meinen damit eine Politik, die in Anbetracht der zunehmend globalen Krisen, denen sich die Menschheit im 21. Jahrhundert ausgesetzt sieht – nicht zuletzt sei hier an die drohende Klimakatastrophe gedacht – in der Lage ist, die Gesellschaft und ihre Umwelt bestmöglich zu beherrschen (vgl. Srnicek/Williams 2019: 360f.).

Unter den Talaren…

Doch zunächst einen Schritt zurück: Der Ursprung des Akzelerationismus lässt sich in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts verorten. Die ihm vorausgegangene Periode politischer Umbrüche der 68er-Bewegungen hinterließ viele Spuren nicht zuletzt auch in der politischen Theorieentwicklung. Oftmals wird hier der Shift von der alten zur neuen Linken, und damit die Bewegung hin zu dem, was gemeinhin als „Postmoderne“ bekannt ist, verortet: Das Ende der „großen Metanarrative“ und besonders der Beginn einer Suche nach neuen Arten politischer Subjektivität. Hier beobachtet Benjamin Noys in The Persistence of the Negative – einem Werk, das häufig als der Ursprung des hier verwendeten Begriffs von „Akzelerationismus“ genannt wird (vgl. Williams 2013: 1; Gardiner 2017: 29) – eine Spaltung, die für die Entwicklung akzelerationistischer Positionen von fundamentaler Bedeutung ist: Ein großer Teil insbesondere der angloamerikanischen politischen Theorie wendet sich zunehmend Gruppen und Bewegungen zu, die sie als besonders marginalisiert betrachten. In denen, die ‚außerhalb‘ des kapitalistischen Systems stehen und dieses von dort angreifen, glauben sie, die neuen Subjekte revolutionären Handelns zu erkennen. Dies bezweifelt eine Strömung in der französischen Theorie dieser Zeit.[1] Für sie liegt der Ausgangspunkt radikalen Wandels in aller Deutlichkeit innerhalb des Systems, das durch ihn überwunden werden soll (vgl. Noys 2010: 4-6).

…Muff von tausend Jahren?

In Gilles Deleuze’ und Félix Guattaris Anti-Ödipus findet sich eine Passage, die in diesem Kontext besonders heraussticht und immer wieder mit der Entstehung der akzelerationistischen Position in Verbindung gebracht wird:

„Nun denn, welche Lösung, welcher revolutionäre Weg? […] Sich […] vom Weltmarkt zurückziehen, in einer eigentümlichen Wiederaufnahme der faschistischen ‚ökonomischen Lösung‘? Oder den umgekehrten Weg einschlagen? […] Nicht vom Prozeß sich abwenden, sondern unaufhaltsam weitergehen, ‚den Prozeß beschleunigen‘ […].“

Deleuze/Guattari 2019: 308

Hierin findet sich der Kern akzelerationistischen Denkens, wie ihn auch Armen Avanessian und Robin Mackay identifizieren: Die Annahme, dass den Widersprüchen, Verbrechen und Absurditäten des Kapitalismus nur begegnet werden könne, indem diejenigen dem Kapitalismus innewohnenden Kräfte und Prozesse „beschleunigt“ werden, denen es gelungen sei, bereits die Ketten des Feudalismus zu brechen und die sich letztlich auch gegen den Kapitalismus richteten (vgl. Mackay/Avanessian 2019: 4). Karl Marx’ These, dass die eigentliche Schranke kapitalistischer Produktion der Kapitalismus selbst sei, wird hier, wie Noys es ausdrückt, damit beantwortet, dass eben diese Schranke durchbrochen werden müsse, indem der Kapitalismus gegen sich selbst ausgespielt wird (vgl. Noys 2010: 5).

Während beispielsweise Mark Fisher konstatiert, dass Akzelerationismus als politische Strategie immer Teil marxistischer Politik sein müsse (vgl. Fisher 2019: 345), wurde Akzelerationismus jedoch auch oft als eine „Häresie“ des Marxismus bezeichnet (vgl. z. B. Noys 2010: 7; Mackay/Avanessian 2019: 4). Gründe für diese argwöhnische Bewertung liegen auf der Hand: In der öffentlichen Wahrnehmung tauchte der Begriff des „Akzelerationismus“ in jüngerer Zeit besonders in Verbindung mit dem rechtsterroristischen Anschlag auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch 2019 auf. In der Medienberichterstattung ist der Attentäter vielfach als „Akzelerationist“ bezeichnet worden, in einem Vox-Artikel mit dem offensiven Titel „Accelerationism: the obscure idea inspiring white supremacist killers around the world“ wird sogar eine explizite Verbindung zu akzelerationistischer Theorie und seiner Genealogie hergestellt (vgl. Beauchamp 2019).

Handelt es sich hier nun um ein genuines Problem akzelerationistischer politischer Theorie oder schlicht um einen singulären Fall der Aneignung und Pervertierung ihrer Idee durch einen Terroristen? Bereits Benjamin Noys bezeichnete den Grundgedanken akzelerationistischer Politik als eine politique du pire, eine Politik der Verelendung (vgl. Noys 2010: 5). Auch innerhalb der akzelerationistischen Theorieströmung ist man sich dieser Rezeption bewusst, wie sich bei Armen Avanessian und Robin Mackay nachvollziehen lässt. Sie beschreiben einerseits das Risiko einer verkürzten Auffassung von Akzelerationismus, wie dieser nicht zuletzt auch aufgrund des Christchurch-Anschlags in den Massenmedien häufig verstanden wird, nämlich als die Forderung nach einer aktiven Verschlimmerung der Umstände, um einen Zusammenbruch des Systems herbeizuführen. Andererseits benennen sie die Gefahr, dass sich eine solche Position, welche in Tendenzen und Entwicklungen des Kapitalismus eine progressive Kraft erkennen will, letztlich zu einer schlichten Befürwortung dieses Systems entwickelt – versteckt hinter einer scheinbar marxistischen Pseudokritik. Zugleich widersprechen Avanessian und Mackay jedoch Noys’ Auslegung akzelerationistischer Theorie als politique du pire und lehnen diese beiden Interpretationen – oder „Karikaturen“ des Akzelerationismus, wie sie sie nennen – entschieden ab (vgl. Mackay/Avanessian 2019: 4f.).

Welcher Akzelerationismus?

Doch diese Vorwürfe gegen akzelerationistische Tendenzen sind nicht vollständig von der Hand zu weisen. Wie Alex Williams feststellt, hat in der Tat zumindest Nick Land die Forderung nach einer solchen Politik der Verelendung in seinem Werk zu einem beispielhaften Extrem geführt (vgl. Williams 2013: 1f.). Dennoch handelt es sich hier nur um eine Subströmung, die aus der Prämisse des Akzelerationismus eine Konsequenz zieht, die häufig als „rechter Akzelerationismus“ bezeichnet wird und vom „linken Akzelerationismus“ eines Mark Fisher, Alex Williams und Nick Srnicek abzugrenzen ist (vgl. Mackay/Avanessian 2019). Der im vorigen Abschnitt und auch im Folgenden verwendete Begriff von „Akzelerationismus“ bezieht sich auf diese linke Subströmung.

Für die Vertreter dieses linken Akzelerationismus spielt technische Entwicklung eine zentrale Rolle, insbesondere das sozialtransformative Potenzial, das sie mit sich bringt. So führen Srnicek und Williams aus, dass sie im Kontrast zu einer Politik, die versucht, Räume zu schaffen, die sich dem Kapitalismus entziehen, eine akzelerationistische Politik anstreben, die die Errungenschaften des Kapitalismus erhält, aber über sein Wertesystem und seine Herrschaftsstrukturen hinausgeht. Die durch den Neoliberalismus geschaffene materielle Basis und kapitalistische Infrastruktur sollen genutzt werden, um einen Weg in Richtung Postkapitalismus zu ebnen. Das heißt, alle technischen und wissenschaftlichen Fortschritte auszuschöpfen, die die kapitalistische Gesellschaft hervorgebracht hat. Zugleich stellen sie fest, dass diese technische Entwicklung immer mehr dadurch behindert werde, dass sie kapitalistischen Zielen, wie dem Ausschalten von Konkurrenz auf dem Markt unterworfen werde und sich zunehmend auf leicht verbesserte Versionen der immer gleichen technischen Gadgets beschränke. Ohne die Restriktionen dieses Wirtschaftssystems bestünde hingegen enormes Potenzial für technischen und gesellschaftlichen Fortschritt, der von einer radikalen Verkürzung der Arbeitszeit bis hin zur Wiederbelebung von großen technologischen und gesellschaftlichen Zukunftsvisionen reicht, die mit dem Aufkommen des Neoliberalismus zunehmend verschwunden seien (vgl. Srnicek/Williams 2019: 354-356, 361f.).

Zurück in die 70er, zurück in die Zukunft

Technologischer Fortschritt wird, wie auch das eingangs genutzte Beispiel des Hyperloop zeigt, zunehmend mit dem Neoliberalismus identifiziert. Doch das war nicht immer so. Gabriel Boric, der im November 2021 neugewählte linke Präsident Chiles, erklärte bei seinem Wahlsieg: „If Chile was the cradle of Neoliberalism, it will also be its grave.“ (Boric, zitiert in Cambero 2021) Vielleicht lässt sich durch einen Blick nach Chile tatsächlich eine neue Antwort auf die Paradigmen des Neoliberalismus finden. In einer vor-neoliberalen Vergangenheit hatten Visionen der politischen Vorstellungskraft gerade hier bereits erste Schritte in Richtung ihrer eigenen Realisierung getan.

Die Wiege des Neoliberalismus

Chile steht wie kaum ein anderes Land symbolisch für den Siegeszug des Neoliberalismus. Am 11. September 1973 putschte eine Junta um Augusto Pinochet den amtierenden, demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende aus dem Amt und begründete damit eine fast zwanzig Jahre andauernde Militärdiktatur, die ihre Legitimation in erster Linie aus einem äußerst aggressiven Antikommunismus bezog. Anklang fand dies nicht nur bei der Wirtschaftselite des Landes, sondern auch das US-Außenministerium und die CIA unterstützten seinerzeit den Putsch. Die daraus entstandene Konstellation erwies sich als idealer Nährboden für die ersten Feldversuche der noch in den Kinderschuhen steckenden akademischen Strömung des Neoliberalismus durch die sogenannten Chicago Boys, eine Gruppe von Ökonomen aus dem Umfeld von Milton Friedman an der University of Chicago (vgl. Harvey 2007: 7f.). Verstanden werden kann unter dem Begriff des Neoliberalismus in erster Linie eine Wirtschaftstheorie, der die Überzeugung zugrunde liegt, dass der Austausch von Waren und Dienstleistung durch rationale, individuelle Akteure auf Märkten der beste und effizienteste Weg sei, ihre Produktion und Verteilung zu organisieren. Sie setzt einen institutionellen Rahmen voraus, der starke Privateigentumsrechte, möglichst freie Märkte und freien Handel garantiert (vgl. Srnicek/Williams 2016: 51; Harvey 2007: 2). Von Chile aus breitete sich die Hegemonie des Neoliberalismus Ende der 70er-Jahre in der Welt aus, über die USA mit Ronald Reagan und das Vereinigte Königreich unter Margaret Thatcher bis in die Kommunistische Partei Chinas (vgl. Harvey 2007: 1f., 9).

Durch die zunehmend hegemoniale Stellung der neoliberalen Ideologie stellte sich mehr und mehr auch die Vorstellung ein, dass die liberale Demokratie alternativlos, der Kapitalismus das „Ende der Geschichte“ sei, wie Francis Fukuyamas mittlerweile berüchtigter Ausspruch lautete. Mit dem Pinochet-Putsch ist der Zukunft gar in ganz besonders konkreter Weise ein Ende gesetzt worden, wenn man sich vor Augen hält, welches politische Projekt er gewaltsam beendete: Project Cybersyn, das von der Regierung des sozialistischen Präsidenten Chiles, Salvador Allende, initiierte Programm zur Konstruktion eines kybernetischen Kommunikationssystems zur Unterstützung der Wirtschaftsplanung, wird bereits im akzelerationistischen Manifest als Beispiel für die Verschränkung politischer und technologischer Entwicklung herangezogen (vgl. Srnicek/Williams 2019: 357).

Kybernetischer Sozialismus

Salvador Allende Gossens wurde 1970 mit einer knappen Mehrheit zum Präsidenten Chiles gewählt, nachdem die vorausgegangene christdemokratische Regierung mit ihren moderateren Wirtschaftsreformen in den 1960er-Jahren erfolglos blieb. Allendes Ziel bestand darin, Chile auf den Weg in eine sozialistische Wirtschaftsform zu bringen, wobei jedoch die Abgrenzung zur Sowjetunion und anderen zeitgenössischen autoritären Staaten, die von einer nominell kommunistischen Partei regiert wurden, eine zentrale Rolle spielte. Dies war dem Umstand geschuldet, dass Allendes Regierung tiefgreifende Veränderungen auf betont friedliche Weise und unter Beibehaltung der existierenden demokratischen Institutionen des Landes umzusetzen ersuchte. Eine der wichtigsten Unternehmungen der neuen Regierung war es, die Schlüsselindustrien zu verstaatlichen. Die Geschwindigkeit, mit der dieser Prozess vonstattenging, führte sie jedoch schnell an die Grenzen ihrer Planungs- und Umsetzungskapazitäten. Auch an entsprechend ausgebildeten Fachkräften zur Führung der neuverstaatlichten Unternehmen mangelte es zunehmend (vgl. Medina 2014: 3-5).

Aus dieser Notlage heraus wandte sich Fernando Flores, ein junger chilenischer Ingenieur und technischer Leiter der staatlichen Entwicklungsgesellschaft CORFO, im Juli 1971 an den britischen Operationsforscher und Kybernetiker Stafford Beer. Flores hatte Beers Arbeit seit längerer Zeit mit großem Interesse verfolgt und aus dem Angebot, einige seiner Erkenntnisse über die Kybernetik in Chile in die Realität umzusetzen, entwickelte sich schließlich Project Cybersyn (vgl. ebd. 15, 31). Die Allende-Regierung erhoffte sich, durch die Anwendung moderner Computer- und Kommunikationstechnologien die Probleme in der Umsetzung ihrer wirtschaftspolitischen Maßnahmen in den Griff zu bekommen. So ließ sie zwischen 1971 und 1973 ein System zur Modellierung, Vernetzung und Echtzeitkontrolle der chilenischen Wirtschaft entwerfen und bauen, das trotz der limitierten technologischen Ressourcen des Landes beachtliche Fortschritte in der Anwendung der Kybernetik verzeichnen konnte. Das System wurde aufgrund des Pinochet-Putsches nie vollendet, doch der Plan sah Kommunikationskanäle vor, die die aktuellen Produktionsdaten von den staatseigenen Unternehmen an die Regierung weiterleiten sollten, wo sie mithilfe von Statistikprogrammen ausgewertet werden, um Prognosen über die zukünftige Produktionsleistung der einzelnen Fabriken aufzustellen und so Probleme und Krisen rechtzeitig antizipieren zu können (vgl. ebd. 5f.).

Rückblickend wurde dieses für die damalige Zeit bahnbrechende Kommunikationssystem häufig mit dem Internet verglichen. Wie beispielsweise Katharina Loeber argumentiert, kann Cybersyn gar bereits als eine frühe Anwendung von Internet-Kommunikation verstanden werden und als eine frühe Form dessen, was heute als „Cloud Computing“ bezeichnet wird (vgl. Loeber 2018). Welchen Weg die weitere Entwicklung des Projekts ohne ihr vorzeitiges Ende eingeschlagen hätte und welche Chancen und Probleme sich in einem möglichen sozialistischen Gegenentwurf zum Internet verborgen hätten, kann heute jedoch nur vermutet werden.

Schwerter zu Pflugscharen

Technologien sind, wie Eden Medina in ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichte von Project Cybersyn deutlich macht, niemals nur das Produkt rein technischer Entwicklungen, sondern immer auch das von gesellschaftlichen Umständen und politischen Verhandlungen. Bestimmte politische und ökonomische Kontexte, so Medina, befördern die Entwicklung bestimmter Technologien (vgl. Medina 2014: 6). Darin liegt eine grundsätzliche Parallele zur Analyse der Akzelerationisten: Nick Srnicek widmete seine Dissertation Representing Complexity: The Material Construction of World Politics unter anderem auch der Frage, inwieweit Technologien und dadurch letztlich materielle Umstände den gesellschaftlichen Handlungsspielraum und ihren konzeptuellen Rahmen vorgeben. Seine dort vertretene Position geht davon aus, dass die vorhandenen technologischen Ressourcen Gesellschaften in entscheidender Weise prägen, allerdings nicht auf eine strikt deterministische Weise. Bestimmte technische Entwicklungen münden also nicht eindeutig in eine entsprechende Gesellschaftsform, sondern generieren eine Vielzahl von Möglichkeiten – eine „Landschaft“, wie er sie nennt, von Handlungsoptionen und damit verbundenen Zukunftsvorstellungen. In diesem Sinne dient technische Entwicklung nach Srnicek als Plattform für neue Möglichkeiten gesellschaftlicher Entwicklung und auch für neue konzeptuelle Möglichkeiten des Denkens (vgl. Srnicek 2013: 64-68).

Daraus folgt dann auch Srniceks und Williams’ zuvor bereits dargelegte Position: Eine Blockade tatsächlichen technischen Fortschritts – und damit also der Grund für das Entstehen bestimmter Technologien und nicht anderer – ist konkret auf die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen des Neoliberalismus zurückzuführen. Genauso kann dementsprechend auch das Entstehen wichtiger technischer Errungenschaften auf frühere Phasen des Kapitalismus zurückgeführt werden, dessen technosoziale Plattform nun wiederum Möglichkeiten für politische und ökonomische Weiterentwicklung eröffnet. Medinas These, „political innovation can spur technological innovation“ (Medina 2014: 12) kann aus akzelerationistischer Perspektive an dieser Stelle also um die Erkenntnis ergänzt werden, dass politische Stagnation ebenso technologische Innovation behindert.

Für Srnicek und Williams ist Cybersyn ein konkretes Beispiel für genau die Art des Experimentierens, das immer Voraussetzung für gesellschaftliche Wandel sei. Dabei seien demokratische Elemente direkt in die Infrastruktur fortschrittlicher Technologien der Kybernetik integriert und mit ökonomischer Modellierung verbunden worden (vgl. Srnicek/Williams 2019: 357). Es handelt sich also bei der Entwicklung dieses Kommunikationssystems nicht bloß um technologischen Fortschritt, sondern um technologischen Fortschritt, der fest verschränkt ist mit einem dezidiert politischen Projekt und als solcher eine Plattform für gesellschaftlichen Wandel darstellte. Diese Betrachtungsweise lässt sich in der Anwendungsgeschichte der Kybernetik von ihren Ursprüngen hin zu Project Cybersyn nachzeichnen.

Schwerter

Die Kybernetik ist ein interdisziplinärer Wissenschaftszweig, der Erkenntnisse aus verschiedensten Feldern, wie Mathematik, Informatik und Neurowissenschaften zusammenbringt, um gemeinsame Charakteristika von Maschinen und Organismen zu beschreiben. Der Begriff wurde maßgeblich durch das von Norbert Wiener 1948 veröffentlichte Buch Cybernetics or control and communication in the animal and the machine popularisiert (vgl. Medina 2014: 20). Dort definiert er Kybernetik schlicht als die gesamte Disziplin der Kontroll- und Kommunikationstheorie – sowohl in Maschinen, als auch in lebenden Tieren. Eine bedeutende Rolle spielen hier insbesondere Feedback- oder Rückkopplungsmechanismen (vgl. Wiener 1961: 11f.).

Der Ursprung der Kybernetik lässt sich Medina zufolge auf militärische Forschung im Auftrag der US-Regierung während des Zweiten Weltkrieges zurückführen, an der auch Wiener selbst beteiligt war. Sie verfolgte das Ziel, einen Servomechanismus für die Flugabwehr zu entwickeln, der genaueres Zielen beim Beschuss feindlicher Kampfflugzeuge erlauben sollte. Die getesteten Geschütze neigten dazu, gelegentlich wild hin und her zu schwingen, was den beteiligten Wissenschaftlern als eine Parallele zur neurologischen Störung des sogenannten Intentionstremors auffiel. Dieser erzeugt durch fehlerhafte Feedbackverarbeitung im Kleinhirn zwischen sensorischer Wahrnehmung und motorischer Kontrolle sehr ähnliche Überkorrekturen (vgl. Medina 2014: 21). Darin zeigt sich, dass der militärische Entstehungskontext der Kybernetik einerseits zur Entdeckung der Parallele zwischen dem Verhalten von Organismen und dem Verhalten von Maschinen beitrug und andererseits sogleich wiederum zu ihrer Umsetzung in die Entwicklung von Militärtechnik führte.

Pflugscharen

Während also das Feld der Kybernetik militärischen Ursprungs genannt werden kann, mag es zunächst verwundern, dass das chilenische Militär nach dem Pinochet-Putsch völliges Desinteresse an der auf kybernetischer Technologie basierenden Infrastruktur von Cybersyn zeigte (vgl. Medina 2014: 211). Der Grund dafür findet sich allerdings genau dort, wo Cybersyn den zuvor beschriebenen Zusammenhang zwischen Technologien und den politischen sowie ökonomischen Kontexten, in denen sie entstehen, besonders deutlich macht.

Die Zusammenarbeit Stafford Beers mit der Allende-Regierung war, wie Medina argumentiert, eine auf der Hand liegende, beinahe natürliche Symbiose von zwei Ansätzen mit ähnlichen Zielsetzungen in den verschiedenen Feldern Wissenschaft und Politik. Beer unterschied sich von seinen Zeitgenossen auf dem Gebiet der Kybernetik bereits durch seine Anwendung ihrer Erkenntnisse auf die Managementwissenschaft und dabei besonders auch die Anwendung auf staatliche Organisationen. Er gilt als Begründer dieses Zweigs der Management-Kybernetik, wurde gar von Norbert Wiener als „father of management cybernetics“ bezeichnet (vgl. ebd. 19f.). Die zwei Grundprobleme, denen sich Beer in seiner Arbeit widmete, waren Medinas Einschätzung zufolge erstens, ein Gleichgewicht zwischen zentraler und dezentraler Kontrolle zu finden und zweitens, eine Form des Managements zu entwickeln, das ein schnelles Reagieren auf eine sich verändernde Umgebung ermöglicht. Das erste zielt darauf, die Kohäsion eines Systems als Ganzes zu garantieren, ohne dabei die Autonomie seiner einzelnen Bestandteile aufzugeben. Letzteres soll die Stabilität der Organisationsstruktur bei gleichzeitigem Ingangsetzen drastischer Veränderungen erreichen. Diese beiden Ziele verfolgte auch die Allende-Regierung: einerseits die Stabilität der bestehenden demokratischen Institutionen bei gleichzeitig gravierenden politischen Veränderungen zu sichern, sowie andererseits die Autonomie der einzelnen neuverstaatlichten Unternehmen unter staatlicher Planung beizubehalten (vgl. ebd. 16f.).

Das daraus entstandene, zu großen Teilen auf dezentraler Kontrolle basierende System schien dem Militär und seiner Vorstellung von hierarchisch organisierter Top-Down-Kontrolle nach dem Putsch nicht von Nutzen zu sein. Nachdem Mitglieder des Teams von Project Cybersyn sowie einige außenstehende Experten über das System befragt worden waren, wurde die Arbeit an ihm gestoppt und große Teile zerstört (vgl. ebd. 211). Was wir hier sehen, ist Folgendes: Technologien sind Produkte ihrer politischen und ökonomischen Umstände, gleichzeitig können sie sich auch über ihren Entstehungskontext hinwegsetzen, von anderen politischen Projekten vereinnahmt und zu neuen Technologien weiterentwickelt werden. Dies zeigt die Entwicklung der ursprünglichen Kybernetik im Kontext der militärischen Anwendung durch einen kapitalistischen Staat hin zu einem auf Management-Kybernetik basierenden Kommunikationssystem einer sozialistischen Regierung. Dadurch erschien diese Technologie für eine Wiederaneignung durch Pinochets (kapitalistische, neoliberale) Militärdiktatur völlig inkompatibel.

Damit schließt sich nun also der Kreis zu Deleuze’ und Guattaris Frage, die den Ausgangspunkt akzelerationistischen Denkens markierte: „Nun denn, welche Lösung, welcher revolutionäre Weg?“ (Deleuze/Guattari 2019: 308) – Was bedeutet nun in Anbetracht all dessen Project Cybersyn, seine Geschichte und die in ihr verloren gegangene Zukunft für die Möglichkeit wirklichen Fortschritts unter den Umständen einer Gesellschaft im rasenden Stillstand?

Die Zukunft ist alternativlos.

Viele technische Innovationen setzen in jüngerer Zeit, ganz wie auch Hyperloop, ihren Fokus auf Klimaneutralität. Dieser Fokus verschafft ihnen die nötige Legitimation, um als sinnvolle Verbesserung und tatsächlicher Fortschritt wahrgenommen zu werden. Und obwohl moderne, klimaschonende Technologien – gerade im Bereich der Mobilität – zweifelsohne unerlässlich sind, reiht sich der Hype um Technologien dieser Art nur allzu oft in die Vorstellung ein, es fehle lediglich noch eine weitere technologische Innovation, um eines der größten politischen und gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart zu lösen. Doch derartige post-politische Herangehensweisen an Technologie laufen in die Irre: Technologie und Politik lassen sich zur Bewältigung solcher Probleme nur gemeinsam denken, so die These des Akzelerationismus. Die Geschichte von Project Cybersyn scheint ihm dabei in vielerlei Hinsicht Recht zu geben. Sowohl solutionistische Herangehensweisen an Technologien, wie sie dem Neoliberalismus vielfach eigen sind, als auch folk-politische Retrotopien der Entschleunigung verfehlen es, diesen Zusammenhang anzuerkennen.

Das Ziel, das die Autoren des akzelerationistischen Manifests ihrer Politik setzen, ist nicht weniger als universelle Emanzipation. Nötig dafür ist ihnen zufolge ein anderer Begriff davon, was Freiheit bedeutet; einer, der sie als etwas synthetisches, etwas von Menschen aktiv geschaffenes betrachtet. Solch eine synthetische Freiheit bedeutet, den tatsächlichen Handlungsspielraum der Menschen fortlaufend zu vergrößern: Durch die Erweiterung ihres Wissens, durch die Weiterentwicklung ihrer technischen Möglichkeiten und durch eine Gestaltung, bzw. Umgestaltung der materiellen Welt (vgl. Srnicek/Williams 2016: 78-83). Eine Emanzipation von Herrschaft und Zwang für möglichst viele Menschen erfordert damit letztlich immer auch die Weiterentwicklung von Technologien – mit dieser Schlussfolgerung steht die linke akzelerationistische Theorie keinesfalls alleine dar. So schreibt beispielsweise bereits Hannah Arendt:

„Herrschaft bezog ihre größte Legitimation nicht aus Machtstreben, sondern aus dem menschlichen Wunsch, die Menschheit von den Lebensnotwendigkeiten zu emanzipieren; um das zu erreichen, bedurfte es der Gewalt, der Zwangsmittel, damit viele die Last der wenigen trugen, sodass zumindest einige frei sein konnten. Das – und nicht die Anhäufung von Reichtum – war der Kern der Sklaverei, zumindest in der Antike, und es ist lediglich dem Aufkommen moderner Technik und nicht irgendwelchen modernen politischen Vorstellungen, darunter auch revolutionäre Ideen, geschuldet, dass sich diese Situation der Menschen zumindest in einigen Teilen der Welt geändert hat.“

Arendt 2018: 34f.

Mit Forderungen nach Entschleunigung in eine Ablehnung technischen Fortschritts zu verfallen, bedeutet damit letztlich auch, gesellschaftlichen und politischen Fortschritt auszubremsen, um einem romantisierten Ideal einer vormodernen Harmonie zu folgen. Entgegen der verbreiteten Sehnsucht nach Entschleunigung kann eine wirklich progressive Antwort auf den Stillstand, den die asynchrone, richtungslose Beschleunigung im neoliberalen Kapitalismus hervorbringt, nur in einer nicht nur nachholenden, sondern überholenden Beschleunigung derjenigen technosozialen Entwicklungen liegen, denen durch den politischen Status quo eine Grenze gesetzt wird. Beides lässt sich nur gemeinsam überwinden – oder gar nicht.

Was aber bleibt damit von der Idee des Akzelerationismus? Ist sie am Ende keine Verkörperung des radikal Neuen, sondern selbst eine Form der Wiederkehr des Immergleichen? Oder findet sich in ihr eine neue Ausdrucksform einer ganz grundlegenden Wahrheit, die uns mit dem Eintritt in das Ende der Geschichte verloren gegangen ist? Womöglich sollte sie in erster Linie als eine Intervention in eine Politik im Stillstand verstanden werden, die selbst in ihrer vermeintlich progressiven Ausgestaltung in die Verklärung der Vergangenheit abzugleiten droht. Die Frage jedenfalls, die sie geradezu energisch in den Mittelpunkt rückt, bleibt von höchster Relevanz: Hat die Alternativlosigkeit eine Zukunft? Oder ist die Zukunft alternativlos?

© Michael Meyer

Michael Meyer studierte zunächst Informatik in Hannover und später Politikwissenschaft in Hannover und Nijmegen. Seine Schwerpunkte sind Politische Theorie und Internationale Beziehungen. In seiner Bachelorarbeit beschäftigte er sich mit der Staatstheorie des Akzelerationismus. 

Literaturverzeichnis

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[1] Hier nennt Noys insbesondere drei entscheidende Werke: Jean Baudrillards L’échange symbolique et la mort (Der symbolische Tausch und der Tod), Jean-Francois Lyotards Economie libidinale (Ökonomie des Wunsches), und zuletzt das unter ihnen wohl einflussreichste Werk für die Theorie des Akzelerationismus, Gilles Deleuze’ und Félix Guattaris L’anti-Œdipe (Anti-Ödipus).

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