„Wissenschaft im Corona-Jahr: Zwischen Vertrauen und Skepsis“[1], „Corona steigert Glaubwürdigkeit der Forschung“[2] oder „Warum Menschen der Wissenschaft nicht mehr vertrauen“[3] – all diesen Überschriften aus Artikeln von Zeitungen und Online-Magazinen der letzten eineinhalb Jahre ist eines gemein: Sie machen ein Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit deutlich, in dem die Glaubwürdigkeit der Wissenschaften einerseits und das Vertrauen der Bevölkerung andererseits als zwei Seiten derselben Medaille Ambivalenzen unterliegen.
Diese Widersprüchlichkeiten wurden vom deutschen Soziologen Peter Weingart thematisiert. Er demonstrierte in seinem Text Wissenschaft und Politik (paradoxe) Entwicklungen einer immer enger werdenden Kopplung oder eine „Verwischung der Grenzen“[4] in der wissenschaftlichen Politikberatung bzw. science for policy. Ich möchte an die Darstellung dieser paradoxen Entwicklungen anknüpfen und näher betrachten, wie diese deutlichen Uneinigkeiten über die zentralen Begriffe des Vertrauens und der Glaubwürdigkeit, während der Covid-19-Pandemie zu erklären sind.
Mit dem plötzlichen Ausbruch des SARS-CoV-2 Virus Anfang Februar 2020, das nach wenigen Monaten im Rahmen einer globalen Pandemie mit der COVID-19-Erkrankung einher ging, war das Bedürfnis nach Erklärung und Sicherheit seitens der Weltbevölkerung größer denn je. Sowohl die Bevölkerung als auch die Politik bauten auf die Wissenschaften als einzige Vermittler von handfestem Fakten-Wissen. Unter diesem Druck oblag den Wissenschaften plötzlich die Aufgabe, die Entstehung des Virus zu erklären, den Krankheitsverlauf zu schildern, wirksame Gegenmaßnahmen zu empfehlen und zuletzt ein Gegenmittel zu entwickeln, um der Unsicherheit der Bevölkerung entgegenzuwirken. Zentrale Begriffe sind in diesem Zusammenhang die Glaubwürdigkeit der Wissenschaften in ihrer neuen Rolle und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaften.
Was ist Glaubwürdigkeit? – Immer dann, wenn die Öffentlichkeit auf externe Informationen angewiesen ist, um einen Sachverhalt oder ein Problem zu verstehen, wird die Frage nach der Glaubwürdigkeit dieses Informationsträgers (hier: der Wissenschaften) aufgeworfen. Die Wissenschaften sind in den Augen der Öffentlichkeit dann glaubwürdig, wenn diese an die Wahrhaftigkeit der Aussagen oder die Entscheidungs- bzw. Handlungsvorschläge der Wissenschaft glaubt.[5] Dieser Glaube impliziert, dass die Öffentlichkeit keine absolute Gewissheit hat und sich zu einem gewissen Grad auf die Glaub-würdigkeit der Wissenschaften verlässt. In drei Paradoxien veranschaulicht Weingart, wie diese Glaubwürdigkeit der Wissenschaften zunehmend durch die Kopplung mit der Politik eingefordert wird.
Die erste Paradoxie[6] – Die erste Paradoxie besteht darin, dass politische Akteure in ihrem Streben nach unumstößlichen und zweifelsfreien Legitimationen ihrer eigenen Entscheidungs- oder Handlungsvorschläge kontinuierlich auf immer neue Forschungsresultate zurückgreifen. Unter den politischen Akteuren gilt nämlich: Wer die aktuellsten Informationen hat, hat recht. Dies führt zu einem Rückgriff auf Forschung, die noch am Anfang steht, dementsprechend unsicher ist und nicht als bestätigtes Wissen gilt. Die Paradoxie, die sich daraus ergibt, sind die politischen Akteure, die sich mit dem Rückgriff auf die Wissenschaft gesichertes Wissen erhoffen, aber stattdessen unsicheres Wissen erhalten. Dies führt zur zweiten Paradoxie.
Die zweite Paradoxie[7] – Der zunehmende Rückgriff unterschiedlicher Akteure auf das unsichere Wissen der Wissenschaften zieht Kontroversen und widersprüchliche Aussagen nach sich. Da sich diese Akteure von verschiedenen Wissenschaftler*innen über Forschungsergebnisse mit mangelnder Wissensfundierung beraten lassen, fallen deren Empfehlungen auch unterschiedlich aus. Wird diese Uneinigkeit oder die Debatte um die ‚richtigen‘ bzw. ‚wahren‘ Ergebnisse in die Öffentlichkeit getragen, wird vor aller Augen eine Debatte ausgefochten, die das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaften einfordert. Das zwanghafte Streben der politischen Akteure, zu Anfang eigene Entscheidungs- oder Handlungsvorschläge durch die Wissenschaften zu legitimieren, führt durch die öffentlichen Debatten der daraus resultierenden Kontroversen zur Delegitimierung. Umso spannender ist es, dass die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim auf ihrem YouTube-Kanal mailab folgende Erkenntnis äußert: „Solange in der Wissenschaftskommunikation nicht dieselben Standards an Sachlichkeit und Verlässlichkeit gelten wie in den Wissenschaften selbst, bringen mehr Wissenschaftler in den Medien nicht mehr Aufklärung, sondern mehr Verwirrung. Das ist mir erst jedenfalls durch Corona so richtig klar geworden.“[8] Dies führt zur dritten und letzten Paradoxie.
Die dritte Paradoxie[9] – Der Autoritätsverlust der Wissenschaftler*innen und die anhaltenden Kontroversen bewirken nicht – wie erwartet – dass sich Wissenschaft und Politik voneinander distanzieren oder ihre Zusammenarbeit überdenken. Stattdessen wird das Verhältnis unverändert beibehalten. Diese Paradoxie möchte ich abschließend reflektieren.
Das Problem des Vertrauens – Grundsätzlich ist der Begriff des Vertrauens nicht losgelöst vom Begriff der Glaubwürdigkeit zu betrachten. Vertraut die Öffentlichkeit den entscheidungs- und handlungsrelevanten Vorschlägen der Wissenschaften bedingungslos, ist dies direkt an die Glaubwürdigkeit der Wissenschaften gekoppelt.[10] Schenkt die Öffentlichkeit den Wissenschaften Vertrauen, dann überlässt sie ihnen mangels eigenen Wissens den Handlungsspielraum, in der Erwartung, dass die Wissenschaften immer zugunsten der Öffentlichkeit handeln. Aber„[d]ort, wo Vertrauen geschenkt wird, ist auch immer zerstörtes Vertrauen oder gar Misstrauen denkbar“[11], und dies ist insbesondere da zu beobachten, wo die vermeintlich objektiven Entscheidungs- und Handlungsvorschläge der Wissenschaften durch öffentliche Debatten plötzlich kontrovers erscheinen. Das heißt, der Verlust der Glaubwürdigkeit der Wissenschaften in der Öffentlichkeit führt auch zum Verlust des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Wissenschaften.
Als Antwort auf die genannten Paradoxien konkludierte Weingart, dass das zukünftige Ziel darin bestehen sollte, gemeinsam Grenzen zu ziehen, um die Glaubwürdigkeit der Wissenschaften zu bewahren – Glaubwürdigkeit als „ein wertvolles Gut“[12], dessen Erhalt ebenso den Erhalt des Vertrauens umfasst. Damit impliziert Weingarts dritte Paradoxie die Aufforderung, die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik zu überdenken und zu verändern. Dass eine Beobachtung und Umstrukturierung des Austauschs zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik großes Potential birgt, um das ‚wertvolle Gut‘ Glaubwürdigkeit zu wahren, spiegelt sich auch in verschiedenen Aussagen anderer Personen und Institutionen wider: Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim schlägt in einem ihrer Videos vor, ein „Qualitätssicherungsverfahren in der Wissenschaftskommunikation“[13] einzuführen, um eine bewusstere und verantwortungsvollere Kommunikation der Wissenschaftler*innen mit der Öffentlichkeit zu gewährleisten. Auch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung legt in Form von aktuell anlaufenden Förderprogrammen großen Wert auf die nähere Auseinandersetzung mit Wissenschaftskommunikation. Der wechselseitige Dialog mit der Gesellschaft ermöglicht den Wissenschaften zuletzt, die Grenzen ihrer eigenen Kompetenzen aufzuzeigen, das Wissenschaftsverständnis Außenstehender aktiv mitzugestalten und zu vermitteln, dass Forschen und Wissenschaftsarbeit ein lösungsorientierter Prozess ist. Insgesamt stimme ich dem zu: Ein Wandel der Außenbeziehungen des Wissenschaftssystems sollte stattfinden und ist in Teilen bereits zu beobachten. Gleichermaßen stelle ich ebenso wie die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim fest, dass vieles in Bezug auf das Verhältnis zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit erst durch die Corona-Pandemie einen Schwung des Bewusstwerdens und der intensiveren Thematisierung erlebt hat. Mit Blick in die Zukunft sollte dieser Aufschwung der Auseinandersetzung mit Wissenschaftskommunikation für andere gesellschaftsrelevante Themen der Wissenschaften, wie Klimawandel oder Künstliche Intelligenz, genutzt werden.
© Pelin Bayandir
Pelin Bayandir hat ihren Bachelor in Philosophie und Deutsch an der Leibniz Universität Hannover erworben, wo sie zurzeit im Master Wissenschaft und Gesellschaft studiert. Als nächstes strebt Pelin Bayandir einen Auslandsaufenthalt im Fach Politikwissenschaften an der Universitá di Pisa in Italien an. Im Rahmen eines Praktikums arbeitete sie am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover.
[1] https://www.bosch-stiftung.de/de/news/wissenschaft-im-corona-jahr-zwischen-vertrauen-und-skepsis [zuletzt abgerufen am:13.07.21].
[2] https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/corona-steigert-glaubwuerdigkeit-der-forschung-2872/ [zuletzt abgerufen am:13.07.21].
[3] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-pandemie-warum-das-vertrauen-in-die-wissenschaft-sinkt-17187385.html [zuletzt abgerufen am:13.07.21].
[4] Weingart, Peter (2001): Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis von Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist: Velbrück. S. 160.
[5] Dernbach und Meyer (2005): Einleitung: Vertrauen und Glaubwürdigkeit, in: Dernbach u. Meyer (Hrsg.) Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. S. 15.
[6] Vgl. Weingart, Peter (2001): Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis von Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist: Velbrück. S. 160.
[7] Vgl. Weingart, Peter (2001): Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis von Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist: Velbrück. S. 162.
[8] maiLab (2020): Corona hat meine Meinung geändert 15:10, Corona hat meine Meinung geändert [Video]. Youtube. https://www.youtube.com/watch?v=Nn2rJrKwENI [zuletzt abgerufen am:13.07.21].
[9] Vgl. Weingart, Peter (2001): Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis von Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist: Velbrück. S. 163.
[10] Dernbach (2005): Was schwarz auf weiß gedruckt ist… Vertrauen in Journalismus, Medien und Journalisten. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. S.137.
[11] Dernbach (2005): Einleitung: Der Glaube an den Fortschritt. Vom Vertrauen in Wissenshaft, in: Dernbach u. Meyer (Hrsg.) Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. S. 33.
[12] Weingart, Peter (2001): Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis von Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist: Velbrück. S. 169.
[13] maiLab (2020): Corona hat meine Meinung geändert 15:10, Corona hat meine Meinung geändert [Video]. Youtube. https://www.youtube.com/watch?v=Nn2rJrKwENI [letztes Abrufdatum:13.07.21].
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