Russland marschiert in der Ukraine ein. Die Menschen in der Ukraine kämpfen ums Überleben. Die Westmächte unterstützen loyal, aber zaghaft. Trump wird Präsident und plant Verhandlungen mit Russland – zunächst ohne die Ukraine oder Europa.
An dieser Stelle soll nun zwar nicht der Ukrainekrieg analysiert oder kommentiert werden. Es soll aber der Versuch unternommen werden, durch einen großen Sprung in die Vergangenheit die Unbefangenheit der Reflexion auf solche und ähnliche Situationen und die darin zum Tragen kommenden Kräfteverhältnisse herzustellen. Eine der uralten Geschichten westlich-europäischer Kultur ist die des Peloponnesischen Krieges, beschrieben durch Thukydides. Sie bietet sich in vielerlei Hinsicht für einen zweiten Blick an, um im Vergleich unsere Gegenwartsgeschichte zu verstehen. Was wir durch Thukydides eigentlich schon längst hätten lernen können, soll in Erinnerung gerufen werden. Vordergründiger Gegenstand dieses Textes ist aber nicht die heutige Politik, sondern das klassische Athen, seine imperiale Politik, sein Umgang mit der kleinen Insel Melos und Platons Blick auf seine Vaterstadt. Im Spiegel der fernen Vergangenheit können so womöglich einige Schatten auf unsere eigene Zukunft vorausgeworfen werden.[1]
Das schreckliche Gespräch – der Melierdialog
„Meine Erholung, meine Vorliebe, meine Kur von allem Platonismus war zu jeder Zeit Thukydides.“[2] Wenn ein Autor wie Friedrich Nietzsche eine solche Aussage tätigt, dann können seine Leser davon ausgehen, dass hier noch einiges ungesagt geblieben ist. Woran macht sich der Gegensatz zwischen Platon und Thukydides fest? „Der Mut vor der Realität unterscheidet zuletzt solche Naturen wie Thukydides und Plato: Plato ist ein Feigling vor der Realität – folglich flüchtet er ins Ideal; Thukydides hat sich in der Gewalt – folglich behält er auch die Dinge in der Gewalt […]“ (ebd.). Über das Herzstück des Werkes von Thukydides sagt Nietzsche: „Ursprung der Gerechtigkeit. – Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefähr gleich Mächtigen, wie dies Thukydides (in dem furchtbaren Gespräche der athenischen und melischen Gesandten) richtig begriffen hat“.[3] Das besagte schreckliche Gespräch findet statt zwischen Gesandten aus Athen und den Vertretern der Insel Melos (Ägäis-Insel südlich von Attika, spartanische Kolonie) und zwar im Jahre 416 v. Chr., während des Nikiasfriedens. Der Dialog ist reine Fiktion, inszeniert in seinen Protagonisten jedoch die realen Machanismen der Macht. Auch wenn Thukydides sehr realitätsnah schreibt, nimmt dieser Dialog sich geradezu als eine Tragödie[4] mitten im Geschichtswerk[5] aus. Hier führt uns Thukydides in den innersten Kreis des athenischen Imperialismus[6], und damit hinter den Vorhang der Macht.
Die Starken tun, was sie können, die Schwachen dulden, was sie müssen
Die namenlosen Athener treten mit breiter Brust auf und stellen die weit unterlegenen Melier vor die Wahl: Unterwerft euch, oder werdet ausgelöscht.[7] Die Athener legen dar:
„Nun gut, wir selbst wollen nun nicht mit schön klingenden Worten – wie etwa, zu Recht bestehe unsere Herrschaft nach unserem Sieg über die Perser, oder, wir wollten erlittenes Unrecht jetzt rächen – eine langatmige und deshalb unglaubwürdige Rede vortragen. […] Nein, im Rahmen des von uns als wahr Erkannten sucht das Mögliche zu erreichen, da ihr ebenso gut wie wir wißt, dass Recht im menschlichen Verkehr nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Kraft Stehende durchsetzen und die Schwächeren sich fügen“ (Thuky. 5.89,1f.).
Rationale Gründe sind nur schönklingende Worte und unglaubwürdige Reden. Politik bestehe darin „das Mögliche zu erreichen“ (so auch Otto von Bismarck). Was die Athener als wahr erkannt haben, ist eine kühle Kalkulation der Macht. Recht (νόμος) zwischen Menschen entsteht nur bei gleichen Kräften (Amerika verhandelt ohne die Ukraine mit Russland). Abgesehen von dieser Ausnahme des Kräftegleichgewichts wird sich der Schwächere dem Stärkeren immer zu fügen haben. Dieser Logik nach gilt das berüchtigte Recht des Stärkeren von Natur aus. Recht und Gesetz gelten also bei asymmetrischen Machtverhältnissen nicht. Das kann man für zynisch oder gar böse halten – Thukydides enthält sich solcher Moralisierung[8] – die Logik der Athener ist jedoch nicht leicht von der Hand zu weisen. Wenn eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h (Gesetz) vorliegt, dann ist es schlicht eine physikalische Tatsache (Natur), dass derjenige, der 100 km/h fährt, doppelt so schnell am Ziel ist. Wer sich nicht an Gesetze hält, hat von Natur aus einen Vorteil.
Die gefährliche Hoffnung auf das Unsichtbare
Die Athener ermahnen die Melier, sich den realen und menschlichen Machtverhältnissen zu fügen:
„Trachtet doch, dass es euch nicht so ergeht, da ihr schwach seid und für euren Untergang ein einziger Ausschlag des Waagenbalkens genügt, und handelt nicht wie die vielen, die zwar (zuerst) die Möglichkeit hatten, sich noch mit Menschenkraft zu retten, aber dann, wenn in Not und Bedrängnis alle sichtbare Hoffnung geschwunden ist, auf die unsichtbare vertrauen: Weissagung, Göttersprüche, und dergleichen, was im Gefolge der Hoffnung ins Verderben führt“ (Thuky. 5.103,2).
Diese Aussage gewinnt ihre Bedrohlichkeit vor dem Hintergrund der dramatischen Szene des Gespräches. Im Hafen vor Melos können die Melier die Überlegenheit der athenischen Flotte sehen. Die Bedrohung ist mit Händen zu greifen. Kühl sprechen die Athener mit ihrer Flotte im Rücken, verweisen auf die sichtbaren Verhältnisse und wischen die unsichtbaren Hoffnungen beiseite. Das ist vergleichbar damit, in ein Gespräch zu gehen und als erstes eine geladene Waffe auf den Tisch zu legen, um dann freundlich mit den Worten zu beginnen: „Jetzt können wir reden.“ Die Melier erwidern:
„Dennoch vertrauen wir, dass wir vom Schicksal um der Gottheit willen nicht verlassen werden, weil wir gottesfürchtig ungerechten Angreifern entgegentreten und unserem Mangel an Macht das Bündnis mit den Lakedaimoniern abhelfen wird.“ (Thuky. 5.104,1).
Die zynische Gottheit der Athener
Die Melier lassen sich nicht einschüchtern. Eine solche Ungerechtigkeit können die Götter nicht zulassen. Im Vertrauen auf den himmlischen Beistand und das Bündnis mit den Spartanern wollen sie sich wehren. Die Athener kommen zum Höhepunkt (Tiefpunkt) ihrer Selbsterklärung:
„Denn nichts von dem, was wir fordern oder tun, widerspricht der Vorstellung der Menschen von der Gottheit und ihrem Betragen untereinander. Wir glauben nämlich, dass der Gott wahrscheinlich, der Mensch ganz sicher allezeit nach dem Zwang der Natur überall dort, wo er die Macht hat, herrscht. Wir haben dieses Gesetz weder aufgestellt noch als Bestehendes zuerst befolgt, als gegeben haben wir es übernommenen [sic!] und werden es als ewig Gültiges hinterlassen“ (Thuky. 5.105,1-2).
Haben die Melier darauf verwiesen, dass die himmlischen Mächte ihren Mangel an diesseitiger Macht ausgleichen werden, so drehen die Athener diesen Gedanken direkt um. Ihre Machtpolitik sei ganz und gar nicht im Gegensatz zu den Göttern. In Anspielung auf die Epistemologie des Protagoras (Fr. 4 D) legen sie ihre Theologie in den Grenzen der bloßen Vernunft vor. Die Götter sind nicht mehr nur mächtig: Die Gottheit ist die Macht selbst. Das mag irritieren – wenn jedoch bedacht wird, dass die Olympier gegen Titanen und Giganten Kriege führten und auch der trojanische Krieg nichts anderes als ein irdischer Stellvertreterkrieg der göttlichen Konflikte darstellte, dann wird klar: Bei den Griechen herrscht im Himmel unaufhörlicher Krieg. Heraklit wusste deshalb zu sagen: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ (DK 22 B 53).
Das Ende der Melier
Die Melier wiederum bleiben standhaft und vertrauen ihrem Gottesbild folgend auf die klassischen und moralischen Tugenden wie Gerechtigkeit, Treue und Hoffnung. Die Athener brechen den Dialog ab:
„Ihr seid also wirklich die Einzigen, so scheint uns nach diesen Entschlüssen, die in der Zukunft mehr Sicherheit erkennen als in dem, was vor Augen liegt, und die das Verhüllte, allein weil sie es wünschen, als wirklich betrachten; und da ihr in blindem Vertrauen auf Lakedaimonier, Schicksal und Hoffnung alles auf eine Karte gesetzt habt, werdet ihr auch alles verlieren“ (Thuky. 5.113,1).
Wie geht die Angelegenheit für die Melier aus? Nach tapferen Abwehrkämpfen werden die Melier nach langer Belagerung (der sog. „melische Hunger“) überwunden. Die Männer werden getötet und die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft. Es handelt sich um nicht weniger als einen Genozid von Griechen an Griechen, einen eklatanten Zivilisationsbruch, der auch den Zeitgenossen nicht entgangen ist. So brachte Euripides ein Jahr später (415 v. Chr.) eine seiner berührendsten Tragödien auf die Bühne: Die Troerinnen. Die Idee ist: Wie die Troerinnen damals, so die Melierinnen heute, so die Athenerinnen morgen.[9] Euripides hält den Athenern den Spiegel vor. Genauer: Er schleudert ihnen ihre eigene Grausamkeit ins Gesicht.
Die Pathologie des Krieges
In seiner Erörterung der Wirren von Kerkyra (Korfu) geht Thukydides womöglich am explizitesten auf die Hintergründe der historischen Ereignisse ein. In dem Kapitel, das „Pathologie des Krieges“ genannt wird, gibt Thukydides eine ganze Reihe von Symptomen, die Krieg und Bürgerkrieg mit sich bringen. So etwa dieses:
„Auch änderten sie die gewohnten Bezeichnungen für die Dinge nach ihrem Belieben. Unüberlegte Tollkühnheit galt als aufopfernde Tapferkeit, vorausdenkendes Zaudern als aufgeputzte Feigheit, Besonnenheit als Deckmantel der Ängstlichkeit, alles bedenkende Klugheit als alles lähmende Trägheit; wildes Draufgängertum hielt man für Mannesart, vorsichtig wägendes Weiterberaten wurde als schönklingender Vorwand der Ablehnung gesehen“ (Thuky. 3.82,4).
Die Verflüssigung der Bedeutungsgehalte und Begriffe ist in postmodernen Zeiten nicht weniger vertraut als in antiken. Auch diese Begriffsverschiebung folgt der Logik der Macht und dem Recht des Stärkeren. Hinter dem Versprechen der Sophistik, jede Seite mit gleich starken Gründen vertreten zu können (Protagoras, DK 80 B 6a: „dass es über jede Sache zwei entgegensetzte Aussagen gebe“), steht ein pathologischer[10], ja fast toxischer Sprachgebrauch. Sprache dient hier nicht mehr der ehrlichen Kommunikation, sondern der doppelsinnigen Manipulation. Nicht Überzeugung ist ihr Ziel, wie bei Platon, sondern Überredung (Gorgias St. 453). Dem ist eine Herabsetzung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit sowie eine Privilegierung der eigenen Macht und Willensdurchsetzung eingeschrieben.
Der Relativismus der Sophistik
Bevor aber hier die Sophistik in ihrer Wirkung auf Thukydides[11] dem moralischen Urteil verfällt, muss darauf hingewiesen werden, dass die Sophisten ihre Denkweise mit guten Gründen vertraten. War der Nomos – als verbindliche Wert- und Gesetzesgrundlage – in den griechischen Poleis unhinterfragt gültig und von homerischem Pathos getragen gewesen, so ändert sich dies mit den Perserkriegen.[12] Athen wird zur See- und Handelsmacht. Ein interkultureller Austausch findet statt. Und man bemerkt: Nicht alle Kulturen (Nomoi) sind gleich. Die Griechen verbrennen ihre Toten, die Inder essen sie, wie bei Herodot (I,216)[13] zu lesen ist, dessen Erzählung auch in die sophistische Quelle der Dissoi Logoi aufgenommen wurde.[14] Daraus folgt die Reflexion auf den Relativismus[15] kultureller Werte. Dieser formbare Kulturbegriff wird zur Voraussetzung der sophistischen Aufklärung und ihres Bildungsprogramms, auf das Platon reagiert[16]; so wie die Gesetzmäßigkeit der Natur zum Ausgangspunkt der physischen bzw. ionischen Philosophie wird.
Zurück zur Pathologie: Der Wille entscheidet – etwa für die Sizilienexpedition. Die Aufgabe der Rhetorik ist es nun, den Volkswillen dafür gefügig zu machen: Eine Kunst, die der charismatische Athener Alkibiades wie kein zweiter beherrscht haben muss. Zwar kann sich bei einem so ambitionierten Vorhaben wie dem Überfall auf Sizilien mitunter die Gegenfrage einschleichen: Handelt es sich hier wirklich um tapferen Wagemut, oder nicht doch um gefährliche Tollkühnheit? Werden nun aber die Begriffe in der bezeichneten Weise umgedeutet, so erscheint jeder, der das Vorhaben kritisch bedenkt, als ein Feigling, als ein Verräter: Kritik wird geradezu staatsgefährdend.
Eines der besten Beispiele für solch eine subtile, aber geradezu zynische Begriffsverschiebung findet sich im Melierdialog selbst, wenn die Athener davon sprechen, dass die Melier die „Rettung“ ihrer Stadt in der Hand hätten. Zunächst einmal haben die Athener längst entschieden, was geschehen soll. Zum anderen bedeutet in diesem Kontext von Rettung zu sprechen so viel, wie zu behaupten, man hätte jemandem das Leben gerettet, weil man entschieden hat, ihn nicht umzubringen. Die Athener wälzen so ihre Verantwortung voll und ganz auf ihre Opfer ab.
Die Anfänge und Folgen des athenischen Imperiums
Wir haben anfangs eine Frage offengelassen, zu der es jetzt zurückzukehren gilt: Was war die Ursache für den apokalyptischen Krieg? „Den letzten und wahren Grund, von dem man freilich am wenigsten sprach, sehe ich im Machtzuwachs der Athener, der den Lakedaimoniern Furcht einflößte und sie zum Krieg zwang“ (Thuky. 1.23,6), so Thukydides. Die zweimalige Invasion der Perser hat eine intensive militärische Reaktion seitens der Griechen ausgelöst – insbesondere den Flottenausbau unter Themistokles. Die Siege in diesen Kriegen bringen die Athener in die Rolle, das persische Machtvakuum zu füllen. Zunächst als Defensivbündnis gegründet, wandelt sich der delische Seebund in ein athenisches Imperium. Dieser Machtzuwachs erzeugt in den Spartanern Furcht. Thukydides beschreibt einen gewissen Dominoeffekt (Thuky. 1.28), die Dynamik, dass niemand neutral bleiben kann zwischen den Machtblöcken (Thuky. 1.32), die Gewaltspirale (Thuky. 1.42) und das Embargo gegen Megara (433 v. Chr.) (Thuky. 1.67).
Athenische Gesandte erklären in Sparta, wie sie gewissermaßen aus Versehen zur Herrschaft gelangt sind:
„Verdienen wir es da, Lakedaimonier, um unserer damaligen Entschlossenheit und richtigen Einsicht willen, wegen unserer Herrschaft bei den Hellenen so über die Maßen verhasst zu sein? Wir haben sie doch nicht gewaltsam an uns gerissen, nein –, sondern (sie fiel uns zu) weil ihr nicht ausharren wolltet gegen die Reste der Barbaren, die Verbündeten sich aber an uns wandten und selbst darum baten, wir mögen die Führung übernehmen. Gerade deshalb sahen wir uns gezwungen, unsere Herrschaft auf ihren jetzigen Stand zu bringen, vor allem aus Furcht.“ (Thuky. 1.75,1-3)
Ein entscheidender Punkt ist, dass die Athener für ihre Übermacht gehasst werden. Sie warnen auch die Spartaner davor, dass diese, jetzt zwar beliebt, im Falle der Hegemonie aber ebenfalls gehasst würden (Thuky. 1.77).
Hier setzt ein gefährliches Umdenken ein: Hatte Perikles[17] (früh im Krieg 429 v. Chr. an der Pest gestorben) noch nach vernünftiger Abfolge von Ursache und Wirkung darüber gesprochen, dass die Herrschenden sich mit dem Hass der Untertanen, als unabsichtlichem Nebenprodukt, abfinden müssen (Thuky. 2.64,5), so wollen die Athener den Hass als Abschreckung und äußeres Zeichen ihrer Macht absichtlich provozieren; so auch in Melos. In Verkehrung von Ursache und Wirkung ist nun Hass ein Zeichen der Macht und Freundschaft ein Zeichen der Schwäche.
Die Pleonexia – das „Immer-mehr-haben-wollen“
Thukydides gibt als Ursache die πλεονεξια (Pleonexia) an, das „Immer-mehr-haben-wollen“[18]. Nestle übersetzt mit Verweis auf Nietzsche den Begriff mit „Wille zur Macht“[19]. Es handelt sich um eine fast dämonische Entität – das eigentliche Urproblem, einen „Fehler menschlicher Natur“[20]. Der Mensch will immer mehr haben. Macht strebt nach immer mehr Macht, bis sie sich übernehmen muss. Es ist in geradezu griechischer Tragik so, als ob gar nicht die Menschen mächtig wären, sondern die Macht die Menschen beherrscht. Alles, was Macht über die Menschen hat, ist ihr Gott.[21]
Die Falle des Thukydides
Immer, wenn Athen einen Machtzuwachs verbucht, gibt es einen – noch – neutralen Stadtstaat, der fortan die Nähe und Hilfe der Spartaner sucht – und suchen muss, um sich dem strangulierenden Zugriff der Athener zu entziehen. Umgekehrt kann Athen nicht zulassen, dass ein kleiner Staat sich widersetzt, denn sonst würden alle anderen kleinen Staaten dies auch versuchen und Athen von allen Seiten zerrissen werden. Es entsteht eine Dynamik, die die Neutralen, wie Melos, ins Visier geraten lässt und eine ganz bestimmte machtpolitische Entwicklung zur Konsequenz hat.
In den Polen der Macht, Sparta und Athen, kulminieren die Bündnisse. Irgendwann kommt es dabei aber zu einer Überschneidung von Machtinteressen (etwa in Megara), wobei der „Zankapfel“ zum Kristallisationspunkt des Konfliktes wird: Megara ist nur Auslöser und nicht Ursache des Konfliktes. Diese unvermeidliche Konvergenz der Machtpole ist die „Falle des Thukydides“[22] genannt worden. Typischerweise entsteht diese Konstellation zwischen einer Seemacht und einer Landmacht und führt fast immer zum Krieg: Athen und Sparta, Karthago und Rom, Großbritannien und Deutschland (im 1. und 2. Weltkrieg[23]), Amerika und Russland können als bekannteste Beispiele dieser Dynamik gelesen werden (Amerika und China?[24]).[25] Doch woher rührt diese Dynamik?
Der militärisch-industrielle Komplex
Gemeinhin wird der Ohnmächtige für unfrei gehalten, da er fremdbestimmt wird, und demgegenüber der Mächtige für frei. Fraglos ist der Ohnmächtige unfrei. Thukydides hat jedoch nachdrücklich gezeigt, dass auch der Mächtige nicht Herr seiner Entscheidungen ist: „Gerade deshalb sahen wir uns gezwungen, unsere Herrschaft auf ihren jetzigen Stand zu bringen, vor allem aus Furcht, dann auch wegen der Ehre und endlich wegen des Nutzens“ (Thuky. 1.75,3). Die Athener sehen sich gezwungen! Dieser Zwang (der Pleonexia) entfaltet eine starke Antriebskraft. So erklärt Alkibiades – der stets für eine sehr aggressive und kriegstreiberische Politik votierte (so sind Melos und Sizilien [6.16,1f.] seine Ideen gewesen) – die Gründe für die Expansionspolitik:
„Wir können es uns nicht einteilen, wie weit wir herrschen wollen, sondern sind gezwungen, da wir nun einmal auf diesem Stand angelangt sind, gegen die einen Anschläge zu sinnen, die anderen nicht hochkommen zu lassen, da uns droht, von anderen beherrscht zu werden, wenn wir nicht selbst über andere herrschen“ (Thuky. 6.18,3).
Wenn die Vormachtstellung erreicht wurde, dann darf der Hegemon keine Schwäche mehr zeigen – sonst versuchen die Verbündeten, sich zu entziehen, und die Machtbasis des delischen Seebundes zerfällt. Athen muss also den Seebund in ein Imperium verwandeln und sicherstellen, dass alle seine Mitglieder „in Reih und Glied“ bleiben. Perikles warnt zu Beginn des Krieges: „Von ihr [Herrschaft] zurückzutreten steht euch nicht mehr frei […]. Denn eine Art Tyrannis ist ja bereits die Herrschaft, die ihr ausübt; sie zu ergreifen mag ungerecht scheinen, sie loszulassen (ist) aber lebensgefährlich“ (Thuky. 2.63,2). Erreicht wurde diese Stellung durch die Siege in den Perserkriegen. Athen und die anderen Griechen schufen eine Schiffsbau-Industrie und bauten ihre Seemachtstellung aus. Folglich sind es gerade die Inseln, die für Athen nicht verloren gehen dürfen. Die Flotte in Betrieb zu halten, bedeutet aber, sie zu benutzen, um die Kosten zu decken – also führt der Besitz dieses Kriegsgerätes ganz von alleine zu seiner Benutzung. Auch wenn die Gründe dafür nachvollziehbar sind, einen „militärisch-industriellen Komplex“ (Eisenhower & Von der Leyen) zu schaffen, so gilt es doch, die Sache vom Ende her zu bedenken – einem Ende, welches dem Alkibiades bereits klar geworden war: Solche Einrichtungen, einmal geschaffen, machen ihre Schöpfer nicht frei, sondern stellen sie unter den Zwang der Selbsterhaltung.
Ein Prävölkerrecht in Melos?
Eine Möglichkeit, die beschriebenen Exzesse menschlichen Machtstrebens zu zähmen, wäre eine Protoform des Völkerrechts.[26] Auf dieses berufen sich auch die Melier.[27] Dieser Nomos der Menschen wurde von Stockhammer als ein „prävölkerrechtliche[r]“[28] Konsens bezeichnet, worunter ein zivilisatorisches Minimum verstanden werden kann, welches die Hellenen zumindest untereinander einzuhalten pflegten.[29] Dann bleibt aber die offene Frage, wer ein überstaatliches Gesetz garantieren kann, wenn Staaten die Gültigkeit der Gesetze verletzen. Der peloponnesische Krieg von Thukydides kann als ein Werk gelesen werden, welches den Verfall dieser nicht kodifizierten Wertebasis dokumentiert.
Wie kann die Falle des Thukydides verhindert werden?
Thukydides beklagt, dass die Spartaner (die heute für ihren Kriegermut berühmt sind), sich viel zu zaghaft verhalten haben. Da es nur ein paar tausend Spartiaten gab, waren die Spartaner sehr zurückhaltend – fast zaudernd –, wenn es um eine militärische Intervention ging, weil man die demographischen Verluste nicht verkraften konnte. So kam es auch zum Nikiasfrieden, da die Spartaner ihre Soldaten, die sich auf Sphakteria (425 v. Chr.) ergeben hatten, unbedingt zurückerhalten wollten. Über die dortige spartanische Kapitulation sagt Thukydides: „Völlig unerwartet, eigentlich am meisten von allen Kriegsereignissen, kam für die Hellenen dieses Ergebnis zustande. Denn von den Lakedaimoniern hatte man immer erwartet, dass sie weder aus Hunger noch in einer sonstigen Notlage die Waffen strecken, sondern lieber mit der Waffe in der Hand im Kampf sterben“ (Thuky. 4.40,1). Wenn ein Aufrüsten unvermeidbar ist und zu zögerliche Handlung ebenfalls getadelt wird, wie würde also Thukydides seine eigene Falle lösen und den Krieg verhindern?
„Dass die Athener ihre Macht erweitern und nur darauf sinnen, ist ihnen gar nicht zu verdenken, und ich tadle an niemandem den Willen zu herrschen, wohl aber allzu rasche Bereitschaft, sich zu ducken; denn so ist es nun mal die Menschenart: zu herrschen über alles, was nachgibt, aber sich abzusichern gegen alles, was angreift“ (Thuky. 4.61,5).
Man kann daraus ableiten, dass Sparta immer, wenn Athen einen Machtzuwachs gehabt hätte, sofort hätte nachziehen, gleichziehen, aber Athen niemals überbieten dürfen. Eine deeskalierende Aufrüstung, sodass auf keiner Seite ein Übergewicht entsteht, das die Balance kippen lässt.
Wie wird der Pleonexia eine Grenze gesetzt?
Wie reagieren die Athener auf die Katastrophe des Krieges? Zunächst muss in Erinnerung gerufen werden, dass es nicht nur eine militärische und politische Niederlage ist, sondern – wie oben gezeigt – die Zerstörungen sich auch auf die moralischen Werte, Gesetze, Sprache und Begriffe ausdehnen. Es gilt also sowohl eine äußere als auch eine innere Krise zu adressieren. Eine erste Ad-hoc-Lösung stammt von Sokrates: die sittlichen Begriffe zu klären und damit den Schwächeren, den Meliern, zur Seite zu springen. Ein Indiz dafür ist die bemerkenswerte Tatsache, dass Aristophanes Sokrates als einen Melier bezeichnet hat.[30]
Sokrates‘ Absicherung sittlicher Begriff durch Definition
Bei Aristoteles heißt es, dass
„Sokrates [sich] mit den ethischen Gegenständen beschäftigte und gar nicht mit der gesamten Natur, in jenen aber das Allgemeine suchte und sein Nachdenken zuerst auf Definitionen richtete.“ [31]
Hatte der Krieg die Begriffe gebeugt und verflüssigt, so setzt Sokrates dem eine Befestigung und Stabilisierung der Begriffe in einer Definition entgegen. Vor dem Hintergrund von Sokrates‘ Fixierung auf ethische Gegenstände wie Tugenden – dieser Tugendfanatismus findet sich auch bei zynischen Denkern wie Antisthenes – und auch der Tatsache, dass Sokrates, laut Aristoteles, der erste gewesen sein soll, der die Definitionskunst verfolgte, wird deutlich: Die Lösung des Tugendproblems liegt nun offenbar in den Begriffen. Dies führt zu einer der zentralen Fragen für Platon, nämlich der nach der Lehrbarkeit der Tugend durch Begriffe (vgl. Menon St. 70).
Platons Ontologisierung der Begriffe
Platons Lösung[32] baut darauf auf, wie Aristoteles direkt im Anschluss darlegt:
„[Dies] [Sokrates Denken] [b]rachte den Platon, der seine Ansichten aufnahm, zu der Annahme, dass die Definition auf etwas von dem Sinnlichen Verschiedenes gehe; denn unmöglich könne es eine allgemeine Definition von irgendeinem sinnlichen Gegenstand geben, da diese sich in beständiger Veränderung befänden“ (Aristoteles Metaphysik ebd.).
Platon[33] erkannte, dass die Definitionen nur dann nicht wieder im Relativismus versinken, wenn sie im unveränderlichen Wesen der Dinge selbst festgemacht werden. Platon hypostasiert die Begriffe aus keinem anderen Grund, als sicherzustellen, dass in der Volksversammlung alle das gleiche verstehen, wenn etwa über Gerechtigkeit oder Tapferkeit gesprochen wird.[34] Sein Ziel ist die politische Rettung der athenischen Seele – dafür bringt er die Ideenlehre, v.a. die Ideen des Guten und der Gerechtigkeit im Zentrum seiner Politeia,in Stellung.[35] Platon will die homerische Religion in eine philosophische Vernunftreligion umformen und zur Grundlage der Staatsdoktrin machen. Sein politisches Ansinnen besteht darin, der (natürlichen) Pleonexia – die sich selbst grenzenlos und größenwahnsinnig immer mehr entgrenzen und ausdehnen muss – durch den „negativen Gebrauch“ seiner (übernatürlichen) Noumena eine Grenze zu legen. Wenn Athen ein überkochender Topf ist, dann drückt Platon von oben die Ideenlehre als Deckel darauf.[36]
Resümee
Das blanke Recht des Stärkeren dient dem, der sich überlegen wähnt, als Freifahrtsschein, dem Schwächeren rücksichtlos seinen Willen aufzunötigen. Aufgabe der Sophistik ist es, die Einsprüche guter Argumente durch die Beugung und Verflüssigung der Begriffsgehalte abzuwehren. Wenn ein Staat aber ungehemmt seiner Pleonexia – seinem schrankenlosen Willen zur Macht – nachgeht, fordert er die umgebenden Staaten heraus und verursacht so die Entstehung eines ausgleichenden Gegenpols der Macht. Die Kontrahenten entwickeln zwangsläufig irgendwann sich überschneidende Machtinteressen und treffen dadurch in der sog. Falle des Thukydides aufeinander. In diese geraten die Athener aber nicht absichtlich, sondern unabsichtlich, und zwar durch den Erfolg in den Perserkriegen und die so erlangte Hegemonierolle. Ist diese Machtposition einmal erlangt und die Flotte einmal gebaut, so ist auch der Mächtige nicht mehr frei, sondern Opfer einer ganz bestimmten Dynamik, die weitere Konflikte unausweichlich werden lässt. Auch die Melier geraten ohne Verschulden ins Visier der Großmächte und bekommen – in Thukydides Darstellung – von den Athenern die machtpolitischen und theologischen Grundlagen ihres Imperialismus nicht nur erklärt, sondern müssen sie auch am eigenen Leib erleben. Wie kann diesem verselbstständigten Eigenleben der Macht eine Grenze gesetzt werden? Indem die verflüssigten Begriffe definiert und ihre Definition in ihrem Wesen festgemacht werden, meinen Sokrates und Platon. Damit wäre dem Imperialismus die Waffe sophistischer Demagogie aus der Hand genommen und Sprache in ein Werkzeug der diskursiven Wahrheit verwandelt worden. Die Schlüsselhaltung der Person Sokrates besteht in einem „speaking truth to power“ und der Kern platonischer Ideenlehre besteht im negativen Gebrauch der Ideen als politischem Grenzbegriff. Daraus ergeben sich für eine post-metaphysische Zeit die Fragen: Braucht es auch heute ein metaphysisches Minimum, durch das Begriffe wie Menschenwürde substantiiert werden können, um dem natürlichen Recht des Stärkeren zu begegnen? Wie soll ein Recht des Schwächeren auf überstaatlicher Ebene gesichert werden? Wie ist eine Verständigung möglich, die sich gegen sophistische Manipulation und die Pleonexia wehren kann? Sind wir heute nicht athenischer, als wir es uns bewusst sind?
© Sebastian Wolter
[1] Erste wichtige Hinweise hat der Autor entnommen: Thomas Johann Bauer, „Ohnmacht des Rechts und Recht des Stärkeren? Von Melos zur Ukraine, von der Antike in die Gegenwart“, in: Theologie aktuell, Der Blog der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Erfurt (07.03.2022) (https://www.uni-erfurt.de/katholisch-theologische-fakultaet/fakultaet/aktuelles/theologie-aktuell/ohnmacht-des-rechts-und-recht-des-staerkeren-von-melos-zur-ukraine-von-der-antike-in-die-gegenwart).
[2] Friedrich, Nietzsche, Götzendämmerung § 2 (KSA 6,155,26-156,32).
[3] Friedrich Nietzsche, Menschliches – Allzumenschliches I,92 (KSA 2,89,14-18).
[4] Max Treu, „Athen und Melos und der Melierdialog des Thukydides“, in: Historia. Zeitschrift für Alte Geschichte, 2/3 (1954), S. 253-273.
[5] Simon, Hornblower, A commentary on Thucydides, Oxford 1991-2008, Bd. 3, S. 225.
[6] Vgl. Scott Matthew Truelove, Plato and Thucydides on Athenian Imperialism, Austin 2012, S. 33f.
[7] Georg Deininger, Der Melier-Dialog (Thuk. V 85-113), Erlangen 1939, S. 74.
[8] Klaus Meister, „Das Recht des Stärkeren bei Thukydides“, in: Ein Besitz für immer? Geschichte, Polis und Völkerrecht bei Thukydides, Ernst Baltrusch, Christian Wendt (Hrsg.), Baden-Baden 2011, S. 229-271, hier: S. 260.
[9] Wolfgang Will, Der Untergang von Melos, Bonn 2006, S. 31ff.
[10] Felix Martin Wassermann, „The Melian Dialogue“, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 78 (1947), S. 18-36.
[11] Wilhelm Nestle, „Thukydides und die Sophistik“, in: Griechische Studien. Untersuchungen zur Religion, Dichtung und Philosophie der Griechen, Stuttgart 1948, S. 321-373, S. 349.
[12] Vgl. Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des Griechischen Menschen, Berlin 1973, S. 498.
[13] Herodot von Halikarnassos, Das Geschichtswerk des Herodot, Theodor Braun (Übers.), Frankfurt a.M. 2001, S. 128-129.
[14] Vgl. Dissoi Logoi 2,14. Vgl. Die Sophisten, Ausgewählte Texte, Thomas Schirren, Thomas Zinsmaier, Stuttgart 2020. Textus sec. Robinson (1984), S. 293f.
[15] Vgl. Helga Scholten, Die Sophistik, Eine Bedrohung für die Religion und der Polis?, Berlin 2003, S. 34.
[16] Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des Griechischen Menschen, Berlin 1973, S. 502.
[17] Rengakos Antonios, Form und Wandel des Machtdenkens der Athener bei Thukydides, Wiesbaden 1984, S. 90.
[18] Nicolas Stockhammer, Das Prinzip Macht. Die Rationalität politischer Macht bei Thukydides, Machiavelli und Michel Foucault, Baden-Baden 2009, S. 78.
[19] Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 1940, S. 357-359.
[20] Heinz-Otto Weber, Die Bedeutung und Bewertung der Pleonexie von Homer bis Isokrates, Bonn 1967, S. 42-62.
[21] Euripides, Die Bakchen, Oskar Werner (Übers.), Stuttgart 2013, V. 889-900: „Nicht ja soll über Gesetz und Brauch heben je sich Denken und Tun. Wenig kostet´s doch, glaubt man, dass Macht hat, was das auch sein mag – das Göttliche, und dass, was ward in langem Zeitraum Satzung, immer und von Natur bestehn muss. Was ist Weisheit oder was schönere Gabe von Göttern nach Menschensinn, als wenn die Hand übers Haupt der Feinde als stärkre man hält?“
[22] Graham T. Allison, Destined for war. Can America and China escape Thucydides’s trap?, Boston 2017.
[23] Herfried Münkler, „Die Weisheit der Regierenden, Varianten der Kriegsursachenanalyse“, “, in: Gewerkschaftlichen Monatshefte 8 (1987), S. 487-495.
[24] Ulrich Blum, „Chinas und Amerikas geoökonomische Rivalität: Gibt es die Gefahr einer Thukydides-Falle?“, in: Wirtschaftsdienst, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 103/3 (2023), S. 170–173. (https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2023/heft/3/beitrag/chinas-und-amerikas-geooekonomische-rivalitaet-gibt-es-die-gefahr-einer-thukydides-falle.html).
[25] Kritisiert werden Allisons Beispiele vor allem dadurch, dass es oft gar nicht der Konkurrent des Hegemons ist, der aus Furcht gegen den Hegemon losschlägt, sondern dass es der Hegemon ist, der selbst aus Abstiegsangst den fatalen Krieg beginnt. Es sei weniger der expansorische Imperialismus gewesen, dessen Aggression den Krieg herbeiführen musste, sondern die Furcht (Selbstzweifel und Unsicherheit) der Spartaner, militärisch überflügelt zu werden und die Furcht der Athener, als schwach erscheinen zu können („neurotische Abstiegsängste“) – darum haben beide aus den gleichen Gründen den Krieg präventiv führen müssen. Vgl. Herfried Münkler, „Die Weisheit der Regierenden, Varianten der Kriegsursachenanalyse“, in: Gewerkschaftlichen Monatshefte 8 (1987), S. 487-495, hier: S. 487-490.
[26] Dessen gemeinsame Basis – vergleichbar der Pax Americana als Weltordnung – auch heute gerade seit der Vance-Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz in Zweifel steht.
[27] Georg Deininger, Der Melier-Dialog (Thuk. V 85-113), Erlangen 1939, S. 14-15.
[28] Vgl. Nicolas Stockhammer, „Die Dialektik politischer Macht. Der Melierdialog im Lichte aktueller Machttheorie“, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 15/1 (2006), S. 23-44, hier S. 34.
[29] Vgl. Frederick Krüll, Die Völkerrechtsfähigkeit der Palästinensergebiete als Staat in statu nascendi, Freiburg 2009, S. 97. Auch das Völkerrecht heute gilt, ganz nach Thukydides, nur zwischen Gleichstarken, die in der Lage sind, das Gewaltmonopol in ihrem Territorium durchzusetzen.
[30] Aristophanes, Die Wolken, Niklas Holzberg (Übers.), Stuttgart 2014, S. 48, V. 820-839.
[31] Aristoteles, Metaphysik, Hermann Bonitz (Übers.), Hamburg 1995, I,6 987a-b.
[32] Vgl. Max Pohlenz, Aus Platos Werdezeit. Philologische Untersuchungen, Berlin 1913, S. 238f.
[33] Eine direkte Rezeption des Thukydides bei Platon allerdings schwer nachweisbar: Simon Hornblower, Thucydides, Baltimore 1987, S. 110. Dementgegen: Alexander Becker, Platons „Politeia“. Ein systematischer Kommentar, Stuttgart 2017, S. 23, Anm. 6.
[34] Werner Jaeger, „Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato (1924)“, in: Humanistische Reden und Vorträge, Berlin 1960, S. 87-102, hier: S. 99-100.
[35] Vgl. Heinz-Gerd Schmitz, „Physis versus Nomos. Platons politiktheoretische Auseinandersetzung mit Kallikles, Thrasymachos und Protagoras“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 42/4 (Okt.-Dez. 1988), S. 570-596.
[36] Werner Jaeger, „Die platonische Philosophie als Paideia“, in: Humanistische Reden und Vorträge, Berlin 1960, S. 142-157, hier: S. 145-146.
Sebastian Wolter
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